Weihnachten bei Theodor Storm

 

Am späten Nachmittag des 24. Dezember 1852 wanderte Theodor Storm durch die Straßen Berlins; er war von der damals dänischen Nordseeküste in die Metropole Preußens gereist, weil er sich nach dem Scheitern der Schleswig-Holsteinischen Erhebung für eine Anstellung im Justizdienst bewerben wollte. Denn der junge Dichter aus Nordfriesland hatte sich für die Unabhängigkeit der Herzogtümer Schleswig und Holstein von der Dänischen Krone eingesetzt und konnte nun nicht mehr als Advokat in seiner Heimatstadt Husum arbeiten.

Auf seinem Weg zum Hotel, in dem er den Weihnachtsabend fern von der Familie verbringen musste, schlenderte er bei einbrechender Dunkelheit an Häusern vorbei, in denen die Vorbereitungen zum Weihnachtsfest auf vollen Touren liefen; durch die hell erleuchteten Fenster konnte er sehen, wie die Tannenbäume geschmückt wurden.

Johann B. Sonderland: Ein denkwürdiges Weihnachten. In: Die Kinderlaube. Dresden 1868

Dann kam Storm zum Berliner Weihnachtsmarkt, wo ein großes Gedränge herrschte und wo auch Kinder Spielzeug verkauften; Hampelmänner gab es da, Holzschafe und den so genannten Waldteufel, eine Papiertrommel mit Pferdehaaren an einem Stiel, der beim Schwingen einen Brummton erzeugte. Aber der Besucher wurde inmitten des verheißungsvollen Glanzes auch mit den harten sozialen Problemen seiner Zeit konfrontiert.

Nach einem einsam verbrachten Abend, an dem er fern von seiner Familie ganz auf sich und seine Erinnerungen zurückgeworfen war, beschrieb Storm seine Gefühle in einem Gedicht.

 

Weihnachtabend

Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll,

Der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus.

Weihnachten war's; durch alle Gassen scholl

Der Kinderjubel und des Markts Gebraus.

 

Und wie der Menschenstrom mich fortgespült,

Drang mir ein heiser Stimmlein in das Ohr:

„Kauft, lieber Herr!“ Ein magres Händchen hielt

Feilbietend mir ein ärmlich Spielzeug vor.

 

Ich schrak empor, und beim Laternenschein

Sah ich ein bleiches Kinderangesicht;

Wes Alters und Geschlechts es mochte sein,

Erkannt ich im Vorübertreiben nicht.

 

Nur von dem Treppenstein, darauf es saß,

Noch immer hört ich, mühsam, wie es schien:

„Kauft, lieber Herr!“ den Ruf ohn Unterlass;

Doch hat wohl keiner ihm Gehör verliehn.

 

Und ich? - War's Ungeschick, war es die Scham,

Am Weg zu handeln mit dem Bettelkind?

Eh meine Hand zu meiner Börse kam,

Verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind.

 

Doch als ich endlich war mit mir allein,

Erfasste mich die Angst im Herzen so,

Als säß mein eigen Kind auf jenem Stein

Und schrie nach Brot, indessen ich entfloh.

 

Für den Dichter war der unmittelbare Ausdruck eines Gefühls das eigentlich Lyrische an einem Gedicht. Damit konnte er ohne Reflexion dem sensiblen Leser etwas vermitteln, das ihn ein Leben lang bewegt hat und woran er sich bis ins Alter erinnerte. Unter den vielen bedeutsamen Erinnerungen hatte das Weihnachtsfest für Storm eine zentrale Bedeutung.

Weihnachten in Husum, das war in bürgerlichen Kreisen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein großes Familientreffen, bei dem ausgiebig gegessen und getrunken wurde. Dass es sich um ein Hauptfest der Christenheit handelt, bei dem der Menschwerdung Gottes und seines Heilsversprechens gedacht wird, war nach der Zeit der Aufklärung längst in den Hintergrund gedrängt worden. Der Familienverband als zentraler Bezugsrahmen, innerhalb dessen sich das Leben des einzelnen vielfältig entfaltete, benötigte nun einen angemessenen Rahmen. Diesen boten Anlässe wie Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen und eben das Weihnachtsfest, bei dem sich die Großfamilie versammelte: Vater, Mutter, die Großeltern, Tanten und Onkel und natürlich die Kinder. So hat es Theodor Storm als Kind im Kreise seiner Geschwister selbst erlebt, so hat er es als Vater von acht Kindern und später als Großvater vieler Enkel ausgiebig zelebriert.

Theodor Storms Gedicht „Weihnachten“ im Volksbuch für Schleswig, Holstein und Lauenburg für 1846, Altona 1845;

Kalenderspruch zum Monat Dezember.

 

In „Immensee“ hat der Dichter die Erinnerungen an das Weihnachten seiner Kindheit und Jugend beschrieben.

 

Draußen auf der Straße war es tiefe Dämmerung; er fühlte die frische Winterluft an seiner heißen Stirn. Hie und da fiel der helle Schein eines brennenden Tannenbaums aus den Fenstern, dann und wann hörte man von drinnen das Geräusch von kleinen Pfeifen und Blechtrompeten und dazwischen jubelnde Kinderstimmen. Scharen von Bettelkindern gingen von Haus zu Haus oder stiegen auf die Treppengeländer und suchten durch die Fenster einen Blick in die versagte Herrlichkeit zu gewinnen. Mitunter wurde auch eine Tür plötzlich aufgerissen, und scheltende Stimmen trieben einen ganzen Schwarm solcher kleinen Gäste aus dem hellen Hause auf die dunkle Gasse hinaus; anderswo wurde auf dem Hausflur ein altes Weihnachtslied gesungen; es waren klare Mädchenstimmen darunter.

 

An seinen Freund Hartmuth Brinkmann schrieb er am 2. Juni 1882 über seine erste Erfolgsnovelle: „Es ist eine echte Dichtung der Liebe und ganz und durch und durch von dem Dufte und der Atmosphäre der Liebe erfüllt.“ Die Idee der christlichen Nächstenliebe entfaltet sich für Storm in der Liebe zu seiner Frau, zu den Kindern und zu den Eltern; die Familie wird so zur Gemeinschaft, in der die Gesellschaft gründet. So hat es der Dichter empfunden und vielfach in seiner Novellistik gestaltet.

Storm sieht den Sinn des Lebens ganz allein im tätigen Leben selbst. Jeder hat sich zu der guten Tradition zu bekennen, in die er von Geburt gestellt ist. Er ist aber dieser Tradition auch verpflichtet und hat sich zu bewähren. Das Gelingen und das Misslingen solcher Bewährungen schildert der Dichter uns in seinen Novellen am Beispiel der Lebenswege seiner Helden. Und weil man sich an diesem Tag im Kreise der Familie an die Vergangenheit erinnern, aber zugleich mit seinem tätigen Wirken für die Kinder schon auf die Zukunft hin wirken kann, gewinnt der Weihnachtstag inmitten dieses Lebens eine so große symbolische Bedeutung.

Aus dem Fest der christlichen Verheißung der Liebe Gottes und eines zukünftigen Heils ist ein Fest der Familie geworden, die ihren Mitgliedern Kraft geben kann, um im Leben den Gefährdungen durch die Außenwelt zu widerstehen. Theodor Storm versucht im Weihnachtsfest nicht nur den Zauber der Weihnacht seiner Kindheit in einer jährlich wiederkehrenden Erinnerungsfeier zu bewahren; er hat auch von der Gefährdung des bürgerlichen Lebens gewusst, von den Widersprüchen zwischen der inneren Welt der Familie und dem harten Leben draußen.

Der Leser mag nur aufmerksam das Gedicht „Weihnachtsabend“ lesen, dann kann er etwas von den Ängsten nachempfinden, die den Dichter oft beschlichen haben. Auch dieses Gefühl gehört – wie die selige Kindheitserinnerung – zu Storms Weihnachten.

Weihnachtsbaum im Husumer Storm-Museum

zurück zum Titelbild