Auf den Spuren von Theodor Storms Schulzeit

 

„Theodor Storm? Kann man da denn noch Neues finden? Über den ist doch alles gesagt.“ Solche Äußerungen hört man häufig von Besuchern des Storm-Hauses in Husum. Und in der Tat, Leben und Werk des Dichters von „Pole Poppenspäler“ und des „Schimmelreiter“ sind die besterforschten aller Autoren des 19. Jahrhunderts. Aber obwohl wir so viele Details aus dem Leben bedeutender Realisten wie Storm, Fontane und Thomas Mann kennen, bleiben die Hintergründe ihrer ersten Schreibversuche doch seltsam unscharf.

Dies stellt sich beim größten Sohn Husums nun anders dar. Das verdankt die Storm-Forschung dem Archiv in der Wasserreihe, das dem Storm-Museum angeschlossen ist. Dort bemüht sich eine Handvoll Literaturfreunde, die internationale Storm-Forschung zu koordinieren. Von Husum aus gehen Impulse in alle Welt, um Leben und Wirken des Dichters von Marsch und Geest bis in alle Details aufzuhellen. Das Interesse für derartige Informationen ist da. Man muss nur einmal die Buchhandlung Delff in der Krämerstraße besuchen, wo Annegret von Hielmcrone eine Tradition fortsetzt, die bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreicht: Ihre Buchhandlung hat alle, wirklich alle lieferbaren Bücher von und über Theodor Storm vorrätig und darüber hinaus auch vieles, was bereits vergriffen ist. Und die hohen Auflagen der vielen Storm-Ausgaben, die fast alle belletristischen Verlage Deutschlands im Programm haben, beweisen, dass Storm heute mehr gelesen wird als zu Lebzeiten, ja dass er einer der meistgelesenen Autoren des 19. Jahrhunderts ist.

Fragen zum bedeutenden Sohn werden von Touristen überall in der grauen Stadt am Meer gestellt, kommen aber auch von auswärts. Sie alle landen schließlich im Storm-Archiv, von wo aus sie nach bestem Wissen geduldig beantwortet werden. Darunter sind viele Anfragen von Wissenschaftlern, von professionellen Büchermachern, von Verlagen und anderen Kulturinstitutionen, aber auch von interessierten Laien. Erstaunlich, dass es dort überhaupt noch etwas zu erforschen gibt. Gerade da, wo man meint, alles schon gefunden zu haben, ergeben sich die größten Überraschungen. Anfang der neunziger Jahre wurden vier Gedichtveröffentlichungen Storms im „Husumer Wochenblatt“ entdeckt, die der Pennäler während seiner Schulzeit zum Druck gebracht hat. Dies war der Storm-Forschung bisher unbekannt geblieben.

Wenn man da genauer nachschaut, wo es sich scheinbar überhaupt nicht lohnt, kann man Erstaunliches entdecken; so konnte erst im vorigen Jahr ein bisher unbekannten Erzähltext identifiziert werden, eine Jahrmarkt-Schilderung, die der 17jährige Schüler 1835 im „Ditmarser und Eiderstedter Boten“ veröffentlicht hat, einem Wochenblatt, das im nahen Städtchen Friedrichstadt erschien, und in dem zur selben Zeit Friedrich Hebbel seine ersten Gedichte zum Druck brachte.

Aber auch regionale Archive enthalten vielversprechende Hinweise. An der Hermann-Tast-Schule, einem der beiden Gymnasien der Stadt Husum, gibt es noch heute die Bibliothek der alten Gelehrtenschule, die seit 1763 besteht und mehr als 25.000 Bände umfasst. Storm hat sie bereits als Schüler benutzt und entlieh auch später immer wieder Bücher, die er für Recherchen zu seinen Novellen brauchte. Zuletzt noch mehrer Werke bei der Niederschrift des „Schimmelreiter“, der 1888, im Todesjahr des Dichters, herauskam.

Was dort kürzlich zu Tage trat, ist in der Tat erstaunlich. Storm wurde zum Schreiben durch den Unterricht in der Schule angeregt; seine ersten Gedichte und auch seine ersten Prosatexte sind nichts anderes als Fortsetzungen seiner Hausaufgaben. Dies ist umso überraschender, als es eine dogmatische Meinung über Storms Schulzeit gibt, die man in allen Biographien nachlesen kann: Storms Schule sei schlecht gewesen, seine Ausbildung veraltet, die Lehrer verknöchert, die klassische Bildung sei völlig an ihm vorbeigegangen; so hat es Gertrud, die jüngste Tochter des Dichters, schon 1912 in der Biographie ihres Vaters behauptet, so kann man es seit hundert Jahren in allen einschlägigen Darstellungen nachlesen.

Dies erwies sich aber als völlig falsch; Storms literarische Sozialisation hat in der Husumer Gelehrtenschule begonnen und wurde während der eineinhalb Jahre am Lübecker Katharineum nur vollendet, wo der Primaner die zeitgenössische Literatur entdeckte. Das eigentliche Schreiben aber hat der größte Sohn der nordfriesischen Kleinstadt in der Schule seiner Vaterstadt gelernt. Hier hatte er vor allem Sprachunterricht: Die Schüler büffelten in zwei Dritteln ihrer Schulstunden Latein, Griechisch, Französisch, Dänisch und Deutsch. Und der Unterricht war, wie die Schulprogramme und die alten Buchbeständen belegen, recht modern ausgerichtet. Denn Storm und seine Kameraden mussten das tun, was heutige Deutschlehrer als allerletzten Schrei moderner Pädagogik anpreisen, sie mussten „kreativ und produktiv“ schreiben. So verlangten die Lehrer von den Sekundanern und Primanern, dass sie Texte der Klassiker aus dem Griechischen und aus dem Lateinischen nicht nur übersetzten, sondern sie mussten auch eigene Texte schreiben, in denen sie die antiken Vorbilder nachzuahmen hatten. Damit standen die Schüler in der Tradition der imitierenden Poesie des 18. Jahrhunderts und produzierten ähnliche Texte, wie sie in ihrer Schulbibliothek standen, in den Ausgaben von Lessing, Klopstock, Voss, Ramler, Schiller, Goethe, Hölderlin und anderen, die sie neben den Klassikern in ihren Originalsprachen häufig nach Hause entliehen.

Storm und seine Freunde ahmten diese Vorbilder nach; sie schrieben Versepisten in der Sprache Homers, dichteten Elegien mit dem Pathos Hesiods, gaben Äsopische Fabeln nach Phädrus lyrische Gestalt und imitierten die Oden des Horaz; das Ganze im Kontext ausführlicher Textanalysen und intensiver Beschäftigung mit den Prinzipien klassischer Rhetorik, Poetik und Verslehre. Von den rund hundert Gedichten, die Storms als Schüler geschrieben hat – sie werden als Handschriften im Storm-Archiv aufbewahrt –, sind etwa ein Drittel durch den Unterricht angeregt worden. Ein weiteres Drittel steht in der Tradition der damaligen Wochenblätter, die einem verspäteten Rokoko frönte, und der Rest sind Natur- und Liebesgedichte, darunter einige, die von der Lektüre Heinrich Heines „Buch der Lieder“ beeinflusst wurden.

Die Biographie des jungen Storm muss neu geschrieben werden; es war gerade die Schule in Husum, die dem angehenden Poeten wichtige Anregungen vermittelt hat. Neben den Übersetzungen und den Nachdichtungen antiker Formen wurden natürlich auch die Inhalte der griechischen und lateinischen Klassiker erarbeitet und so ein Kanon antiker Tugenden entwickelt, der das Weltbild Storms nachhaltig geprägt hat. Aus dieser Quelle entsprang seine republikanische Kritik an den reaktionären Machtansprüchen von Adel und Kirche, die er später als „Gift in den Adern der deutschen Nation“ charakterisiert hat. Seine solide humanistische Bildung hat bis in die späte Novellistik gesellschaftskritische Spuren hinterlassen.

Auch die skandinavische Literatur spielte für die Entwicklung Storms, der 1817 im Herzogtum Schleswig auf dem Territorium des Königreichs Dänemark zur Welt kam, eine größere Rolle, als es nationalistische Germanisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wahrhaben wollten. Storm hatte wöchentlich mehrere Stunden Dänischunterricht und konnte zeitgenössische Texte in der Originalsprache lesen; das gehörte zur Grundbildung eines Studenten im Dänischen Gesamtstaat.

Nachdem der angehende Dichter sich im Frühjahr 1837 an der Kieler Universität immatrikuliert hatte, um Jura zu studieren, setzte er seine poetischen Versuchte aus der Schulzeit fort. Nun gewann er in engem Kontakt mit seinem Studienfreund Theodor Mommsen Distanz zu seinen ersten poetischen Versuchen und konnte im kritischen Umfeld der Kommilitonen seinen Interessen für volkskundliche Themen frönen. Man sammelte Sagen, Märchen, Lieder und Sprichwörter aus Schleswig-Holstein und Storm nutze jede Gelegenheit, seine Möglichkeiten im Umgang mit der deutschen Sprache weiter zu entwickeln. Er erprobte sich an verschienenen Textsorten und fand in der Lyrik allmählich einen eigenen Ton, indem er Naturerfahrungen und Liebeserlebnisse poetisch verarbeitete. Die sprachliche Grundlage für seine spätere Meisterschaft aber hatte er bereits ein Jahrzehnt früher erworben, als er in Husum an der Gelehrtenschule gar nicht so ungern die Aufgaben löste, die ihm seine Lehrer verordnet hatten.

Dass wir davon überhaupt wissen, verdanken wir einer Besonderheit Husums. Die Bibliothek der Gelehrtenschule und das Schularchiv sind Teil des Gymnasiums, das bis heute in dieser Tradition arbeitet. Erst durch diese lebendige Verbindung von Vergangenheitspflege und pädagogischer Gegenwart ist es möglich, die Dokumente und Bücher zum Sprechen zu bringen. Die Bestände der Bibliothek an der Hermann-Tast-Schule gehen bis ins Jahr 1475 zurück. Die Bibliothek und das Archiv dokumentieren eine Unterrichtstradition von mehreren hundert Jahren. Und viele der Bücher werden bis heute intensiv genutzt. Die Legende von der „schlechten“ Husumer Schule, an deren Entstehung der erfolgreiche Dichter im Alter mitgewirkt hat, muss durch ein aktuelles Bild von Storms Schulzeit und seinen frühen poetischen Versuchen ersetzt werden. Erste Ergebnisse wurden bereits veröffentlicht, ein Buch über Storms Schulzeit wird im nächsten Jahr folgen.

Seit Jahrzehnten modernisiert die Theodor-Storm-Gesellschaft, von der das Storm-Zentrum unterhalten wird, das Bild des Husumer Dichters; nun kann es um einige bedeutsame Facetten bereichert werden. Die betreffen vor allem Storms Entwicklung zum bedeutenden Schriftsteller des poetischen Realismus, die weit früher begonnen hat, als bisher angenommen wurde. Dass er später seine ersten poetischen Versuche als bloßes „Flügelprüfen“ relativiert hat, lässt sich aus dem hohen Anspruch erklären, den der Erfolgsdichter in den Jahren nach der Gründung des Deutschen Reiches an die Poesie und damit auch an seine eigenen Werke stellte. Vor dem strengen Urteil des späten Storm, der von sich selbst behauptete, dass er „zu jenen wenigen Lyrikern gehöre, die die neue deutsche Literatur besitzt: zu unserm alten Asmus Claudius, und Göthe, zu Uhland und Eichendorf, Heinrich Heine und Eduard Mörike“, hatten nur wenige Gedichte seines Jahrhunderts Bestand.

Solche spannende Zusammenhänge konnten nur entdeckt werden, weil die alten Bücher und Dokumente nicht in ein Archiv gebracht und damit „beerdigt“ wurden, sondern weil sie noch heute ihre Rolle für den Unterricht an der Hermann-Tast-Schule spielen. Archiv und Bibliothek sind das Gedächtnis der Schule; aus ihm und aus der aktuellen pädagogischen Arbeit gewinnt das Gymnasium sein Profil, das 2002 sein 475 jähriges Jubiläum feiern konnte. Die Storm betreffenden Forschungsergebnisse sind nicht nur für Fachgelehrte interessant, sie können auch für den heutigen Deutschunterricht fruchtbar gemacht werden. Einiges davon stehen bereits im Internet, gestaltet mit Hilfe von Schülern, die an solchen Themen Interesse zeigen und es erstaunlich finden, Gegenstände der klassischen deutschen Literatur so hautnah mit der eigenen Schultradition verbunden zu sehen.

 

 

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