Der Tine-Brunnen

Ob die Ochsen im Husumer Tine-Brunnen wahre Tantalusqualen leiden müssen, wenn im Sommer die Sonne heiß auf den Marktplatz brennt und sich viele Besucher mit einem kühlen Eis auf die steinerne Einfassung setzen, um von ihren Stadtrundgängen auszuruhen? Der Wasserspiegel im Brunnenbecken liegt einige Dezimeter unterhalb ihrer geöffneten Mäuler, die deshalb auch während der ganzen Saison trocken bleiben, obwohl der Brunnen im Sommerhalbjahr stets wohl gefüllt ist. Das wollte der Bildhauers Adolf Brütt bestimmt nicht, denkt sich der informierte Gast, der gelesen hat, dass der Künstler den Brunnen Anfang des 20. Jahrhunderts mit Hilfe der Asmussen-Woldsen-Stiftung schuf und unter großer Anteilname der Husumer Bürger einweihen durfte. Aber hier irrt der Besucher des Marktplatzes, wie der zuständige Dezernent des städtischen Gebäudemanagements meint. Und das ist seine Version der Geschichte: Die vier Ochsenmäuler haben zu Brütts Zeiten auch einmal Wasser gespieen, wie es die acht Fischköpfe bis heute tun. Als der Brunnen aber 1965 bei einer der Umgestaltungen des Marktplatzes um einige Meter versetzt wurde, hat man nur die eine Wasserführung wieder in Gang gesetzt

Der „Asmussen-Woldsen-Brunnen“ auf der Mitte des Marktplatzes wurde 1902 in Erinnerung an zwei Husumer Persönlichkeiten errichtet, die weitläufig auch mit Theodor Storm verwandt waren: Anna Catharina Asmussen und August Friedrich Woldsen. Sie hatten noch zu ihren Lebzeiten der Stadt ihr Vermögen – meist Ländereien – vermacht, darunter den Roten Haubarg bei Simonsberg. Das war im Jahre 1859 und der Advokat, der diese Schenkung besiegelte, was kein anderer als Casimir Storm, der Vater des mittlerweile im preußischen Heiligenstadt lebenden Dichters.

Die Fisch- und Ochsenköpfe symbolisieren zwei der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren Husums bis ins 19. Jahrhundert, den Fischfang und den Ochsenhandel. Die Südseite zeigt das Wappen der Stadt Husum, die Nordseite das Wappen des Herzogtums Schleswigs. Die Standfigur, ein Fischermädchen, soll die „Seestadt“ Husum und ihre Einwohner verkörpern. Viele glauben, dass die Brunnenfigur Catharina Asmussen (Kosename: Tine für Catharina) darstellt, und nennen den Brunnen deshalb „Tine-Brunnen“. Die Figur ist aus Bronze gegossen, Sockel und Brunnen bestehen aus Stein. Die Wasserführung ist in Metall gearbeitet.

Als Adolf Brütt, der bereits 1898 die Storm-Büste im Husumer Schlosspark geschaffen hatte, um die Jahrhundertwende seine Heimatstadt besuchte, um nach Anregungen für die Motive des Brunnens zu suchen, lernte er ein junges Mädchen kennen, das ihm Modell gestanden hat. Die damals 23 jährige Dora Fuchs antwortete später auf die Frage, warum der Bildhauer ausgerechnet sie ausgewählt habe: „Weet ick ok nie, aber ick har damals je woll en gude Figur“.

Mit ihrer guten Figur steht sie nun seit über hundert Jahren auf Husums Marktplatz und ist zum Wahrzeichen der Hafenstadt geworden. Würde sie nach Osten blicken, könnte sie nach dem Grab von Theodor Storm Ausschau halten, der 1888 auf dem Friedhof von St. Jürgen beigesetzt wurde, ein Ereignis, an dem Dora als Kind bestimmt Anteil genommen hat. Aber der Bildhauer wollte, dass sie nach Westen schaut, also in Richtung Hafen. Mit ihren schweren Holzpantinen, der derben Kleidung und dem Ruder, das sie in der rechten Hand trägt, verweist sie nun auf die Zeit der Blüte der grauen Stadt am Meer, als Handel und Schifffahrt noch vielen Menschen ein erkleckliches Auskommen garantierten. Einige sollen dabei sogar zu Reichtum gekommen sein.

Diese Zeiten sind längst vergangen. Bereits im 18. Jahrhundert ging der Fernhandel zurück, Husum verlor als einzige Hafenstadt des Königreichs Dänemark an der Nordsee immer mehr an Bedeutung; der Viehhandel verschaffte der Stadt zwar zu Storms Zeiten noch einmal einen bescheidenen Wohlstand, aber damit war es im 20. Jahrhundert auch vorbei. Heute fehlen der Stadt und ihrer Region Industrie- und Gewerbebetriebe. Man muss also auf den Tourismus setzen, um in Zukunft noch eine wirtschaftliche Existenz zu haben. Genau deshalb haben die Husumer ihr kleines Städtchen in den letzten Jahrzehnten auch so schmuck herausgeputzt. Und das Denkmal in ihrer Mitte macht ja schließlich auch etwas her.

Heute wird der Marktplatz von sehr unterschiedlichen Menschen frequentiert. Da kreuzen sich die Wege von Gruppen aus ganz Deutschland (und manchmal sogar aus Japan) mit ihren allwissenden Führern, da lümmeln exotisch gekleidete junge Leute auf den Steinen herum und provozieren ehrsame Bürger, da imponieren abends nach Geschäftsschluss junge Burschen mit heulenden Motoren ihren Bräuten. Und jeden Donnerstag drängeln sich die Husumer und viele Besucher auf dem lauten Wochenmarkt, den Tine in unerschütterlicher Ruhe überragt.

Häufig versammeln Lehrer ihre Schüler um den Brunnen, dann kann es schon einmal passieren, dass ein aufgeregtes Mädchen unter der Tine und vor seinen Mitschülern Storms Gedicht „Die Stadt“ aufsagen muss, mit dem der Dichter seiner Heimatstadt ein literarisches Denkmal geschenkt hat:

 

Am grauen Strand, am grauen Meer

Und seitab liegt die Stadt;

Der Nebel drückt die Dächer schwer,

Und durch die Stille braust das Meer

Eintönig um die Stadt.

 

Wenn die Schüler dann auf ihrem Stadtrundgang, der sie Richtung Hafen zum Storm-Haus in der Wasserreihe führen wird, Glück haben, scheint die Sonne und straft Storms Verse der Lüge.

Manche Gäste besuchen Husum im Herbst oder Winter. Dann könne sie den herben Scharm der nordfriesischen Küstenlandschaft genießen, wo gerade in der kalten Jahreszeit der Erholungswert besonders hoch sein soll. Storm muss es gewusst haben und hat die Umgebung seiner Stadt so beschrieben:

 

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai

Kein Vogel ohn’ Unterlass;

Die Wandergans mit hartem Schrei

Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei

Am Strande weht das Gras.

 

Aber ob der Himmel nun grau verhangen ist oder ob die Sonne hoch über Land und Meer steht und hell in alle Gassen und Winkel scheint, immer thront die Tine über dem Marktplatz und zeigt den jungen Leuten etwas von jenem Charme, der die Stadt schon vor einhundertfünfzig Jahren ausgezeichnet haben muss, so dass sie Storms Bekenntnis nachvollziehen können, mit dem er sein Gedicht beschließt:

 

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,

Du graue Stadt am Meer;

Der Jugend Zauber für und für

Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,

Du graue Stadt am Meer.

 

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