Abschied und Neubeginn. Zu Storms Gedicht „Loose“

 

Lose

Der einst er seine junge

Sonnige Liebe gebracht,

Die hat ihn gehen heißen,

Nicht weiter sein gedacht.

 

Drauf hat er heimgeführet

Ein Mädchen still und hold;

Die hat aus allen Menschen

Nur einzig ihn gewollt.

 

Und ob sein Herz in Liebe

Niemals für sie gebebt,

Sie hat um ihn gelitten

Und nur für ihn gelebt.

 

In einen Brief an seine Braut Constanze Esmarch vom 28 Mai 1844 hat Theodor Storm dieses Gedicht ohne Überschrift eingetragen1, außerdem findet es sich handschriftlich in Storms Exemplar des Liederbuchs dreier Freunde nachgetragen (SHLB, Kiel).

Storm schreibt weiter2:

In dem vierten Vers der ersten Strophe hatte ich erst 'Und heimlich ihn verlacht'. Dadurch tritt aber die erste Geliebte gegen die eigentliche Person des Gedichts zu sehr hervor, und es kommt Bitterkeit hinein, die eigentlich in dies Gedicht nicht gehört. Ich meine auch, daß sie jetzt nicht darin ist; schreibe mir, wie Du es beim Lesen empfunden hast. [...] Was in dem obigen erlebt ist, brauche ich Dir nicht zu sagen, Du weißt ja alles, und dann der Eindruck Deiner lieben Seele, der ich die unglücklichen Verhältnisse unterlege.

 

Storm spielt hier auf eine Frühere Liebschaft an, nämlich auf sein Verhältnis zu Bertha von Buchan, von der er sich erst im Jahr vor seiner Verlobung mit Constanze Esmarch gelöst hatte.

Storm lernte Bertha am Weihnachtsfest 1836 bei Verwandten in Altona kennen, sie war damals ein erst knapp zehnjähriges Mädchen, die mit ihrer Pflegemutter Therese Rowohl in Hamburg wohnte und ebenfalls zum Weihnachtsfest eingeladen war.3 Nach seiner Rückkehr nach Lübeck, wo Storm das Gymnasium besuchte, nahm er brieflichen Kontakt mit Bertha auf uns schrieb dem Mädchen mehrere Gedichte. Eine weitere Begegnung hat Anfang Oktober 1839 stattgefunden, und auch im darauffolgenden Jahr verbrachte Storm die Herbstferien in Altona und Hamburg; Bertha war nun fast 15 Jahre alt, Storm hatte gerade seinen 23. Geburtstag gefeiert. Der Student war sich der Zuneigung Berthas nicht sicher und drückte ihr deshalb beim Abschied einen Zettel in die Hand mit der Bitte, ihm ihre Liebe durch das Unterstreichen bestimmter Wörter im nächsten Brief zu signalisieren. Bertha unterstrich in ihrer Antwort vom 31. Dezember die Worte „Deine Bertha“ und bestärkte dadurch in Storm die Hoffnung, dass sich neben der innigen Seelenbeziehung eine erotische Bindung entwickelt habe.

Eines der charakteristischen Wesenszüge Storm ist ein übergroßes Liebesbedürfnis4; seine Briefe an Freunde legen davon bis ins hohe Alter Zeugnis ab, eine Vielzahl seiner Novellen thematisiert Liebesbeziehungen. Die Objekte der männlichen Begierde sind häufig auffällig junge Mädchen, die dazu noch als zart und hinfällig beschrieben werden, ja bei denen der Tod häufig bereits durchscheint. Ein Grund für diese häufige Motivwahl Storms ist sicher sein eigenes Bedürfnis nach Geborgenheit und liebender Zuwendung, das während der Kinderjahre in Husum entstand und das wohl nicht zu Unrecht mit Storms enger Bindung an die früh verstorbene Schwester Lucie (1822-1829) verknüpft wird.

Die leidenschaftliche Liebe zu Bertha lässt sich auch erklären als Gegengewicht gegen die Gewalt der Sinnlichkeit, unter der er litt5; davon zeugt auch die überstürzte Verlobung mit Emma Kühl von Föhr im Oktober 1837, die er aber bereits im Februar 1837 wieder löste.

Storm hat sich in zwei Briefen über diese frühe Zeit ausgesprochen; an seine Braut Constanze schrieb er am 11. Juni 18446:

 

Wie ich je so habe handeln können, das kann ich mir jetzt nur daraus erklären, daß ich gar nicht gewußt, welche Qual verschmähte Liebe sei, denn ich wußte damals noch nichts von Liebe; es war alles damals nur heißes Blut.

 

Und fast dreißig Jahre später bekannte er gegenüber dem österreichischen Literaturwissenschaftler Emil Kuh (Brief vom 21. August 1873:)7

 

Ich bin eine stark sinnliche, leidenschaftliche Natur; die Zurückhaltung in meinen Schriften (in den Gedichten ist sie nicht so vorhanden) beruht wohl zum Teil auf dem mir eigenen Drange nach Verinnerlichung.

 

Zu ihrem 15. Geburtstag am 1. Februar 1841 schrieb Storm einen eindeutigen Liebesbrief, dessen Anliegen von Bertha aber nicht verstanden wurde. Sie zögerte zunächst die Antwort hinaus und schrieb schließlich an den Freund über belanglose Dinge.

Storm wandte sich deshalb im März 1841 an Friederike Scherff, und bat sie, sein Anliegen zu unterstützen. Zugleich schrieb er an Berthas Pflegemutter mit der gleichen Bitte. Therese Rowohl aber erteilte ihm eine doppelte Abfuhr, denn Bertha hatte sich ihr anvertraut, ohne die von Storm ausdrücklich nur für sie bestimmten Zeilen für sich zu behalten; die besorgte Pflegemutter warf Storm einen Vertrauensmissbrauch vor und gab ihm deutlich zu verstehen, dass Bertha ihrer Meinung nach noch ein Kind und damit zu jung für eine echte Liebe war.

Im folgenden Jahr entstanden eine Reihe von Gedichten, die uns das zerrissene Innenleben des jungen Storm offenbaren (z. B. „So muß mich alles, alles mahnen“ und „Das war ein Ton verklungner Freude“), der seine Werbung um Bertha noch nicht aufgab, der sich zugleich aber nicht sicher war, ob das heranwachsende Mädchen seine Neigung erwiderte.

Seinen Heiratsantrag schickte er im Oktober an Bertha und legte ein Bittschreiben an die Pflegemutter bei. Am 20. Oktober 1842 lehnte Bertha den Antrag ab; ihre Begründung deckt sich mit der Argumentation von Therese Rowohl, die in einem Brief an Storm noch einmal betont, daß Bertha in ihren Augen für eine Liebesbeziehung zu jung sei.

Storms tiefe Enttäuschung schlug sich in einigen Gedichten nieder, z. B. „Das süße Lächeln starb dir im Gesicht“ (später „Begegnung“) und „Ich kann dir nichts, dir gar nichts geben“. Damit waren Storm Bemühungen um Bertha endgültig gescheitert; den Kontakt zu ihr brach er aber nicht sofort ab.

Inzwischen war aber ein anderes Mädchen in Storm Gesichtskreis getreten, seine 18jährige Cousine Constanze Esmarch; Constanze verbrachte den Herbst in Husum, und die beiden entdeckten zum Weihnachtsfest 1843 ihre Liebe. Bereits im Januar 1844 verlobten sie sich, und Storm begann mit seiner Braut, die inzwischen nach Segeberg heimgekehrt war, eine intensive Korrespondenz.

Für Storm bot die enge seelische Beziehung zu dem phantasievollen und aufgeweckten Mädchen Gelegenheit, sein noch kaum entwickeltes poetisches Talent auf einen Punkt zu konzentrieren. Ganz offensichtlich ist Bertha für mehr als fünf Jahre die Muse des jungen Dichters gewesen, die ihn zu vielen Gedichten anregte und zu ersten Erzählversuchen anspornte. Storms späteres vernichtende Urteil über seine frühe Lyrik, die er überdeutlich gegenüber seinen von ihm selbst für „unsterblich“ gehaltenen Gedichten8 aus der Zeit der Entstehung der Novelle „Immensee“ abwertete, ist insofern begründet, als der gerade fünfzehnjährige Schüler in Husum mit rein eklektizistischen Versuchen einer verspäteten Anakreontik hervortrat, die in der Tat jeden eigenen Ton vermissen lassen.

Aber nicht erst die Liebe zu seiner Braut Constanze leitet jene Phase der Lyrikproduktion ein, die durch das Erscheinen der Separatausgabe der „Gedichte“ 1852 gekrönt wurde. Storms große lyrische Sprechweise entwickelte sich allmählich, so dass unter den ersten Gedichten, die er für Bertha schrieb, noch manch durchschnittlicher Text zu finden ist, der an die vorausgegangene Epigonendichtung erinnert. Aber der junge Storm gewann durch die Unmittelbarkeit, mit der er das Bertha-Erlebnis in lyrische Sprache verwandelt, zum ersten Mal Distanz zur lyrischen Tradition, an der er sich geschult hatte, und vermochte es, den neuen Erfahrungen und Empfindungen in einigen Gedichten einen ganz selbständigen Ausdruck zu geben. Seiner Liebe zu Bertha fehlte zunächst die sinnliche Komponente; er „liebte“ ein Kind, wie er gegenüber Friederike Scherff gestand (Brief vom März 1841), doch dies gründete zunächst wohl nur auf einer seelischen Gemeinsamkeit, die in den kurzen Phasen des Zusammenseins entstanden war und die Storm durch seine Korrespondenz vertiefen bzw. durch seine Gedichte lyrisch überhöhen wollte. Dazu gestaltete er die im Zusammensein mit Bertha erfahrenen Stimmungen und versuchte in der Tradition romantischer Poetik, Natur und Seele in Übereinstimmung zu bringen. Da ihm durch die räumliche Distanz eine Vertiefung der gemeinsamen Erfahrungen nicht möglich war, stilisierte er das Mädchen Bertha zum „Lockenköpfchen“, das ihm als Phantasiegebilde jederzeit zur Verfügung stand und damit den Prozess der Vertiefung einer Seelengemeinschaft mit dem jungen Dichter begründete. Mit hohem Aufwand an Sentiment und Gefühl schuf Storm einen Bertha-Kult, der ihm trotz räumlicher Trennung und der Unmöglichkeit einer wirklichen Beziehung emotionale Phantasien ermöglichte. Ganz ähnlich ist Storm später in seiner Verlobungszeit mit Constanze Esmarch verfahren und hat seine emotionalen Drang auf ein stilisiertes Bild von der Geliebten projiziert, dann allerdings um vieles sinnlicher und erotisch eindeutiger.

Auffällig ist aber, dass der Student zunächst in einem kleinen, noch vorpubertären Mädchen das Objekt seiner Begierde fand. Die Liebe zu Mädchen hat Storm später häufiger literarisch gestaltet und poetisch überhöht; man hat diesen Zug des Dichters auf ein frühkindliches Erlebnis zurückführen wollen, das mit dem Verlust der geliebten Schwester zu tun hat und eine Art Wiederholungszwang in ihm auslöste, den er literarisch abarbeitete.

Seiner Lyrik jedenfalls kamen diese auf Dauer unbefriedigenden Verhältnisse zugute; um die Jahre 1840/41 entstanden bereits einige Gedichte, die Storm zehn Jahre später noch für wert achtet, in seine „endgültige“ Gedichtsammlung aufgenommen zu werden. Vor allem in dem Zeitraum, als er sich Berthas Zuneigung nicht mehr sicher sein konnte und als sie seinen Heiratsantrag schließlich zurückwies, schrieb er einige Gedichte, die bereits einen recht selbständigen Ton aufweisen und die etwas von Storms späterer Meisterschaft ahnen lassen, z. B. „Lebwohl!“, „Auf Mönkeberg“, „Du bist so jung“, „Gesteh's“ und „Wir saßen vor der Sonne“.

Wie wichtig das Bertha-Erlebnis für sein lyrisches Schaffen geworden ist, zeigt die Statistik: Von den fast 90 Gedichten, die mit diesem Lebensabschnitt verbunden werden können, hat Storm fast die Hälfte (42) zum Druck gebracht und immerhin noch 17 in seine 1852 zum ersten Mal erschienenen „Gedichte“ aufgenommen.

Storm war in der Lage, bereits ein Jahr nach diesem Lösungsprozess darüber offen zu sprechen; an Constanze Esmarch schrieb er im Mai 18449:

 

Ernstlich, meine Constanze, was willst Du in meinem Liederbuche lesen, wie ich früher einmal ein tiefes, nicht angenehm sein, denn Du musst fühlen, wäre dies Gefühl mir erwidert worden, es hätte nie in mir erlöschen können; ohne Gegenseitigkeit konnte es nicht bestehen. Vielleicht wäre ich daran zugrunde gegangen, wenn dies Gefühl nicht zum Objekt geworden, das ich künstlerisch zu gestalten suchte. Doch lies immerhin nur einmal“ diese Lieder im Zusammenhang, Du wirst es fühlen, daß sie Teile meines Lebens fortgeführt haben.

 

In der ersten Strophe seines Gedichts „Loose“ spricht Storm Bertha indirekt an: „Der er einst ...“ und „Die hat ...“; die zweite Strophe ist ganz Constanze gewidmet („Ein Mädchen still und hold“). Er hat sie „heimgeführet“, weil sie nur ihn gewollt hat; also ist die Energie von ihr ausgegangen, während in der ersten Strophe wie in einer Anklage seine nicht erwiderte Liebe hervorgehoben wird. In der dritten Strophe wird deutlich, dass sein Herz „Niemals für sie gebebt hat“, dass also diese Liebe einseitig ist. Hat Storm Constanze nur geheiratet, weil sie sich ihm genähert, vielleicht sogar aufgedrängt hat? Diese Frage mag überspitzt klingen, aber das spätere Verhältnis zu Dorothea Jensen belegt, daß Storms emotionale Bindung an Constanze zu Beginn der Ehe noch nicht gefestigt war. Und der sogenannte „Bekenntnisbrief an seine Freunde Hartmuth und Laura Brinkmann vom 21. April 186610 enthält folgenden aufschlussreichen Satz:

 

Die leidenschaftliche Anbetung des Weibes, die ich zuletzt für sie [Constanze] gehabt, gehört ihrer Entstehung nach einer späteren Zeit an.

 

In seinem oben bereits zitierten Brief an Constanze schreibt Storm:

 

Du bist doch, mein süßes geliebtes Herz, wohl nicht grillenhaft genug, um mein Verhältnis zu Dir in dem Gedicht finden zu wollen; Du müßtest mich ja auch dann für einen wunderlichen Lügner halten. Zugleich aber kannst Du daran ersehen, inwiefern lyrische Gedichte meistens etwas Erlebtes mit sich führen; was in dem obigen erlebt ist, brauche ich Dir nicht zu sagen; und dann der Eindruck Deiner lieben Seele, der ich die unglücklichen Verhältnisse unterlegte.

 

Ob Storm bereits im Mai 1844 ein schlechtes Gewissen gegenüber seiner Braut hatte?

 

 

Constanze Esmarch.

 

 

Anmerkungen

1 Storm hat es 1851 in seinem Buch „Sommergeschichten und Lieder“, S. 37 veröffentlicht; seit 1852 ist es in den „Gedichten“ enthalten. Mit dem Gedicht „Liebesweh (Nr. 81, S. 66) beginnen die auf Bertha bezogenen Einträge in der Sammelhandschrift „Meine Gedichte“ am „Weihnachtsmorgen“ 1836.

2 Theodor Storm – Constanze Esmarsch. Briefwechsel, hg. von Regina Fasold. Bde 1, Berlin 2002.

4 Vergl. Irmgard Röbling: Liebe und Variationen. Zu einer biographischen Konstante in Storms Prosawerk. In: Walter Schönau (Hg.): Literaturpsychologische Studien und Analysen. Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Bd. 17 1983, S. 9-130.

5 Vergl. hierzu Karl Ernst Laage: Theodor Storm. Leben und Werk. Husum 61993, S. 17f.

6 Theodor Storm. Briefe, hg. von Peter Goldammer. Berlin 21984, Bd 1, S. 67f.

7 Theodor Storm. Briefe, Bd. 2, S. 71.

8 Nach dem Zeugnis von Gertrud Storm (Theodor Storm. Ein Bild seines Lebens, Bd. I, S. 191) äußerte sich Storm in diesem Sinne gegen seinen Freund Hartmuth Brinkmann.

9 Theodor Storm. Briefe an seine Braut, S. 16f.

10 Theodor Storm – Hartmuth und Laura Brinkmann. Briefwechsel, hg. von August Stahl. Berlin 1986, S. 146.

 

 

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