Zwei frühe Gedichte

 

 

Sängers Abendlied

 

Meiner Leyer frohe Töne schweigen

Bald von stiller Todesnacht umhüllt;

Dort, wo sich die Zweige trauernd neigen,

Find' ich Ruh'; mein Sehnen ist gestillt.

 

Wenn des Lebens zarte Fäden reißen,

Streut Zypressen auf des Sängers Grab,

Singt noch einmal mir die alten Weisen,

Senkt mir meine Leyer mit hinab.

 

Dort entfliehen eitle Erdensorgen,

Unsre Seele strebt dem Höhern nach. -

Sieh', es dämmert schon der junge Morgen,

Doch mein Morgen ist erst jenseit wach.

 

 

An die entfernte M...

 

Eilende Winde

Wieget Euch linde

Säuselt mein Liedchen der Lieblichen vor;

Vögelein singet,

Vögelein bringet

Töne der Lust an ihr lauschendes Ohr!

 

Öffne dich Rose,

Schwellet ihr Moose,

Reiht Euch ihr Blumen zum duftigen Strauß:

Weilt ihr am Herzen,

Horcht ihren Schmerzen,

Bannet den trübenden Kummer hinaus.

 

Schimmernde Sterne,

Strahlt aus der Ferne

Himmlischer Höhen ihr Freude u Lust,

Freundliche Sterne

Wärt ihr nicht ferne

Leuchtet ihr tröstend d liebender Brust.

 

Wenn die Bürger Husums vor 160 Jahren ihr Wochenblättchen aufschlugen, dann waren die meisten wohl an den öffentlichen Bekanntmachung oder Geschäfts- und Privatanzeigen interessiert, so wie noch heute viele Leser der lokalen Tagespresse in erster Linie regionale Nachrichten und Familienanzeigen lesen. Aber auch das Informations- und Unterhaltungsbedürfnis befriedigte die damalige Presse; auf den ersten Seiten finden wir neben Berichten aus der Region und aus aller Welt Erzählungen und Gedichte, die heute im Feuilleton stehen würden.

In den Jahren 1834 und 1836 konnten die Husumer zwei Gedichte in ihrem Blättchen lesen, die mit „St-“ bzw. „S....“ gezeichnet waren.1 Ob viele der damaligen Leser gewusst haben, dass sich dahinter der sechzehn- bzw. neunzehnjährige Pennäler Theodor Woldsen-Storm verbarg, der im Jahre 1834, als sein erstes Gedicht im Druck erschien, noch die Husumer Gelehrtenschule besuchte und zwei Jahre später, 1836, die Schulbank in Lübeck auf dem berühmten Katharineum drückte?

„Sängers Abendlied“ ist Juli 1843 im Königlich privilegirten Wochenblatt erschienen, „Der Entfernten“ im November 1836.

Dass es sich bei beiden Gedichten wirklich um Texte des Gymnasiasten aus Husum handelt, zeigt ein Blick in ein kleines Heft mit der Überschrift „Meine Gedichte“, das sich im Nachlass Gertrud Storms befindet. In dieses Heft begann Storm im Sommer 1833 Gedichte einzutragen; „Sängers Abendlied“ ist dort als Nr. 28 auf Seite 15 zu finden, „Der Entfernten“ als Nr. 40 auf Seite 28.2

Das erste der beiden Gedichte hat in der Handschrift folgenden, von der gedruckten Fassung leicht abweichenden Wortlaut; die letzte Zeile lautete ursprünglich „Weilet ihr tröstend an liebender Brust“; Storm korrigierte unvollständig, so dass diese Zeile wohl lauten sollte: „Leuchtet ihr tröstend der liebenden Brust“. Beim Erstdruck fällt auf, dass in der zweiten Strophe „Kranz“ nicht auf „hinaus“ reimt; ob es sich dabei um eine bewusste Veränderung Storms handelt oder um eine willkürliche Änderung des Druckers, lässt sich nicht klären; die Fassung im Wochenblatt weicht auch in anderen Details ab, wobei im Gegensatz zur Zerstörung des Reims die letzte Zeile gegenüber der Fassung der Handschrift besser klingt.

Das erste Gedicht ist im Stile der Anakreontik verfasst, einer Lyrikrichtung des Rokoko, etwa um 1740-1770; die Dichter thematisierten um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Macht der Liebe, lobten Wein und Geselligkeit und den heiteren Lebensgenuss im Sinne des Philosophen Epikurs. Der junge Poet hat sich bei seiner epigonenhaften Nachdichtung wohl eher vom rhythmischen Klang faszinieren lassen als vom Inhalt, der nicht unbedingt dem normalen Erfahrungshorizont eines Fünfzehnjährigen entspricht.

Storm muss sein erstes Gedicht unmittelbar nach der Niederschrift an den Buchdrucker Heinrich August Meyler gegeben haben, der in Husum das „Königlich privilegirte Wochenblatt“ redigierte, in dem neben aktuellen Informationen aus aller Welt, historischen Beiträgen und mancherlei Unterhaltendem auch Gedichte und kleinere Erzählungen abgedruckt wurden. Meyler gab das „Husumer Wochenblatt“ seit Januar 1813 heraus und besaß seit 1811 ein Druckerei-Privilegium; die Gedichte des jungen Storm müssen ihm gefallen haben, denn er druckte sie in seinem Anzeigenblatt neben den Texten bereits arrivierter Autoren ab.

Als Meyler das zweite Storm-Gedicht veröffentlichte, weilte der Pennäler bereits in Lübeck, wo er von Herbst 1835 bis Ostern 1837 seine Gymnasialzeit auf dem berühmten Katharineum beendete. Dort schrieb der junge Mann zur selben Zeit die Ballade „Der Bau der Marienkirche zu Lübeck“, die er Anfang 1837 - allerdings ohne Erfolg - Adelbert von Chamisso für dessen „Deutschen Musenalmanach“ anbot; dieser Text zeigt bereits einen eigenen Ton und steht am Beginn derjenigen Lyrik Storms, die wir bis heute als meisterhaft empfinden.3

„Sängers Abendlied“ und das Gedicht, das Storm „Der Entfernten“ widmete, sind Nachahmungen der Poesie vergangener Zeiten; Storm hat allerdings bereits eine formale Sicherheit gewonnen, die seine Versuche aus anderen Pennälergedichten der Zeit heraushebt; mit seinem zweiten gedruckten Gedicht hat er die Form des „Morgenlieds“ von Paul Gerhardt (1607-1676) nachgeahmt, das einen ähnlichen Versaufbau wie „Der Entfernten“ aufweist:

 

Die güldne Sonne

Voll Freud und Wonne

Bringt unsern Grenzen

Mit ihren Glänzen

Ein herzerquickendes liebliches Licht.

Mein Haupt und Glieder,

Die lagen darnieder,

Aber nun steh ich,

Bin munter und fröhlich,

Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.

 

Das 1667 geschriebene Gedicht gehört zu den bekannten Liedern Gerhardts, das Eingang ins protestantische Liederbuch fand und sich bis heute einer großen Beliebtheit erfreut.

Storm transportiert mit der älteren Form des schlichten Erbauungsliedes sein Spiel der Bilder und vereint Natur und Liebe in heiterer Gefälligkeit miteinander. Aber auch der Inhalt dieses zweiten Gedichts lehnt sich an die Tradition des vergangenen Jahrhunderts an und lässt noch keinen eigenen Ton erkennen.

Ein knappes Jahrzehnt später aber machte sich der damals frisch gebackene Jurist und Advokat Storm über derartige Pennälerpoesie lustig; denn er schrieb am 9. Januar 1843 in einem Brief an seinen Studienfreund Theodor Mommsen über die „nordschleswigschen Wochenblattspoesie“, dass zu ihr „auch einige Primaner ihren Mist geben“.4 Diese Einsichten besaß der sechzehn- bzw. achtzehnjährige Storm natürlich noch nicht; die kulturelle Provinzialität der Kleinstadt Husum lieferte ihm keine Maßstäbe, an denen er sein Talent hätte abschätzen können.

Storm ersten veröffentlichten Gedichten kommt aber dennoch biographische Bedeutung zu, denn sie zeigen neben einer handwerklich sorgfältigen Nachahmung der älteren Dichtungstradition, wie selbstbewusst schon der Sechzehnjährige war, wenn es um seine ersten poetischen Produkte ging. Solche Schülergedicht der örtlichen Zeitung anzubieten, dazu gehört schon Mut. Und dass Storm damit Erfolg hatte und seine Gedichte neben den Gedichten damals bereits anerkannter Autoren gedruckt sehen konnte, das weist auf seine spätere erfolgreiche Karriere als Poet voraus.

 

Anmerkungen

1 Der Jahrgang 1843 des „Königlich privilegirten Wochenblatt(s)“ wird in der Bibliothek der Hermann-Tast-Schule, Husum und der Jahrgang 1836 in der Bibliothek des Nissenhauses, Husum aufbewahrt. Vergl. auch Gerd Eversberg: Storms erste Gedichtveröffentlichungen. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 41(1992), S. 45-49.

2 Der Nachlass befindet sich heute im Storm-Archiv als Depositum des Nissenhauses, Husum.

3 Brief Theodor Storms an Adelbert von Chamisso. In: Theodor Storm. Briefe, hg. von Peter Goldammer, Berlin 21984, Bd. 1, S. 15.

4 Theodor Storms Briefwechsel mit Theodor Mommsen, hg. von Hans-Erich Teitge. Weimar 1966, S. 42.

 

Zuerst veröffentlicht in „Schleswig-Holstein“, März 1992.

 

 

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