Ein wiedergefundenes Rätselgedicht

 

 

 

                         C h a r a de.

Bald wir die Ruh' der Ersten Drei entschwinden,

Läßt du die Vierte jemals sie empfinden;

Denn schlägt das Ganze erst die unheilbaren Wunde,

So ist das Leben Pein, Vernichtung jede Stunde.

                               St ˗˗

 

In seiner Tischrede zum siebzigsten Geburtstag beklagte sich Theodor Storm über die geringen literarischen Anregungen, die er als Knabe in seiner Heimatstadt Husum durch Elternhaus und Schule erfahren hatte; den Werken der bedeutenden Lyrikern seines Jahrhunderts (Goethe, Uhland, Eichendorff, Heine und Mörike) begegnete er erst während seines Schulbesuchs auf dem Lübecker Katharineum. In Husum lernte er nur Beispiele der Lyrik des 18. Jahrhunderts kennen, vor allem Gedichte der sog. Anakreontik, der nach griechischen Vorbildern zwischen 1740 und 1770 beliebten Rokokolyrik, in der bevorzugt das Lob der Liebe, des Weins und der Geselligkeit thematisiert wurde.

Im „Husumer Wochenblatt“, das unter dem Titel „Königlich privilegirtes Wochenblatt“ seit 1813 von dem Buchdrucker Heinrich August Meyler herausgegeben wurde, konnte man Beispiele solcher verspäteten, epigonenhaften Dichtung finden. Durch diese Lektüre wurde der junge Storm bereits während seiner Schulzeit auf der Husumer Gelehrtenschule zu eigenen Gedichten angeregt, die zunächst bloße Nachahmungen der Vorbilder waren.

Wohl im Sommer 1833 begann der damals knapp sechzehnjährige Storm Gedichte in eine Sammelhandschrift einzutragen, in der er dann fast alle seiner bis 1839 entstandenen Verse festhielt. Von den mehr als 80 Gedichten in dem kleinen, mit „Meine Gedichte“ bezeichneten Buch hat er nur wenige veröffentlicht; sie sind aufschlussreiche Dokumente aus der Jugendzeit des Dichters, die uns Einblicke in die frühe Phase seiner literarischen Entwicklung ermöglichen.

Das allererste Gedicht, das Storm überhaupt veröffentlicht hat, „Sängers Abendlied“, erschien 1834 im „Husumer Wochenblatt“.1 Schon im nächsten Jahrgang des Blattes (Husumer Königlich privilegiertes Wochenblatt 20. Jg. 1835, Nr. 8, S. 63) findet sich ein von mir wiederentdecktes Rätselgedicht des jungen Storm, und zwar eine Scharade.

Und im Jahrgang 1836, Storm hielt sich bereits in Lübeck auf und besuchte dort das Katharineum, um sich auf sein Studium vorzubereiten, ist das dritte der frühen Gedichte im Druck erschienen, „Die Entfernten“. Storm hat in seiner Tischrede diese Gedichte aus seiner Schulzeit folgendermaßen charakterisierte: „alles war ohne tieferen Inhalt“.

Die gereimten Rätsel sind bisher nicht beachtet worden, weil der Autor sie später nie wieder veröffentlicht hat.2 Als Storm sich seiner lyrischen Ausdrucksmittel bewußt geworden war, beurteilte der alle Gedichte, auch die eigenen, nach sehr strengen Kriterien, denen die frühen Versuche nicht standhalten konnten. Bereits 1843 machte er sich gegenüber seinem Freund Theodor Mommsen über die „nordschleswigsche(n) Wochenblattpoesie“ lustig, „zu der auch einige Primaner ihren Mist geben“.3

Der Zeitungsdruck der Scharade im Jahre 1836 geriet in Vergessenheit, und ist, wie auch eine Reihe weiterer gereimter Rätsel, die bloß in der Sammelhandschrift „Meine Gedichte“ überliefert wurden, nie im Druck erschienen.

Rätsel sind sprachlich-bildhafte Umschreibungen eines nicht genannten Konkretums oder Abstraktums, dessen Eigenschaften in knapper Form mit der Aufforderung an den Leser oder Hörer beschrieben werden, die Beziehung zur Wirklichkeit, die dem Verfasser bekannt ist, zu erraten. In Gedichtform verbreitet sind das Buchstabenrätsel (Logogriph), das Silbenrätsel (Scharade), das Palindrom (Umschreibung der vor- und rückwärtsgelesenen Bedeutung eines Wortes), das Homonym (zwei verschiedene Bedeutungen desselben Wortes) und das Anagramm (Buchstabenversetzung). Daneben gibt es das Zahlenrätsel (Arithmogriph) und das Bilderrätsel (Rebus) sowie das einfache Rätselgedicht ohne Sprachspiel.

Rätsel erfreuen sich in allen Kulturkreisen großer Beliebtheit und sind aus mehreren Jahrtausenden überliefert. Als literarische Kunstform erlebte die Rätseldichtung im 18. Jahrhundert eine Blüte, die bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hineinwirkte, wo sie in Familienblättern weite Verbreitung fand. In den „Husumer Wochenblättern“ war zu dieser Zeit fast in jeder Ausgabe ein solches Rätsel abgedruckt; in den Jahrgängen 1834 bis 1836 sind es jeweils etwa 40.

In der handschriftlichen Fassung liest sich die Scharade zunächst so:

 

Viersilbige Charade

Soll dir der ersten Ruhe nicht entweichen,

So laß die dritte niemals sie erreichen;

Denn schlägt das Ganze erst die unheilbaren Wunde,

So ist das Leben Pein, Vernichtung jede Stunde.

 

Der junge Dichter hat die ersten beiden Zeilen aber wieder verworfen, sie eingeklammert und durch die neuen Verse ersetzt, die dann im Druck erschienen.

Die Auflösung des Rätsels lautet „Gewissensbiß“ und ist in Nr. 9. des „Husumer Wochenblatts“ auf S. 70 abgedruckt.

Die gereimten Rätsel belegen, dass Storm sich an verschiedenen der überlieferten Formen erprobt hat; Logogriph, Homonym, Palindrom und drei- bzw. viersilbige Scharaden erscheinen in seiner Gedichthandschrift neben mehreren Rätseln. Es fällt auf, dass Storm bei diesen Reimversuchen sparsam verfahren ist, denn wir kennen nur zehn solcher Rätselgedichte. Ganz offensichtlich genügten ihm diese wenigen Experimente mit den populären Sprachformen, und obwohl er die Kunst der Kleinen Form sogleich beherrschte, hat er der Versuchung widerstanden, sie massenhaft herzustellen.

Als Storm einige Jahre später als frisch gebackener Advokat in Husum mit erzählenden Texten zu experimentieren begann, verfuhr er ebenso und schrieb oder bearbeitete nur wenige Sagen und Spukgeschichten. Genau wie bei seinen frühen lyrischen Versuchen ahmte er zunächst vorgegebene Muster nach, um dann immer freier zu selbständigen Formen seiner Dichtung zu finden.

 

Anmerkungen

1 Königlich privilegirtes Wochenblatt, Husum vom 22. Februar 1835.

2 Gerd Eversberg: Storms erste Gedichtveröffentlichungen. In: StSG 41(1992), S. 45-49. Vergl. auch Gerd Eversberg: Rätsel und Wortspiele von Theodor Storm. Mit bisher ungedruckten Versen. In: STSG 44(1995), S. NN S. 41-49.

3 Storm an Mommsen vom 9. Januar 1843.

 

Zuerst veröffentlicht in „Schleswig-Holstein“, März 1994.

 

 

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