„Junge Liebe“. Die Entstehung eines Gedichts von Theodor Storm

 

 

Junge Liebe

Aus eigenem Herzen geboren,
Nie besessen, dennoch verloren.

Ihr Aug' ist blau, nachtbraun ihr lockicht Haar,

Ein Schelmenmund, wie jemals einer war,

Ein launisch' Kind; doch all' ihr Widerstreben

Bezwingt ihr Herz, das mir so ganz ergeben.

 

Schon lange sitzt sie vor mir, träumerisch

Mit ihren Beinchen baumelnd, auf dem Tisch;

Nun springt sie auf; an meines Stuhles Lehne

Hängt sie sich schmollend ob der stummen Szene.

 

„Ich liebe dich!“ - „Du bist sehr interessant.“

„Ich liebe dich!“ - „Ach das ist längst bekannt!

Ich lieb' Geschichten, neu und nicht erfunden -

Erzählst du nicht, ich bin im Nu verschwunden.“

 

„So hör'! Jüngst träumte mir - - Das ist nicht wahr! -

„Wahr ist's! Mir träumt', ich sähe auf ein Haar

Dich selbst Straß' auf und ab in Prachtgewändern

An eines Mannes Arm gemächlich schlendern;

 

Und dieser Mann“ - - „der war?“ - „der war nicht ich!

„Du lügst! - Mein Herz, ich sah dich sicherlich -

Ihr senktet Aug' in Auge voll Entzücken,

Ich stand seitab, gleichgültig deinen Blicken.

 

„Der Mutter sag' ich's!“ ruft das tolle Kind

Und springt zur Tür. Da hasch' ich sie geschwind,

Und diese frevelhaften Lippen müssen,

Was sie verbrochen, ohne Gnade büßen.

 

Das Weihnachtsfest 1836 verlebte Storm nicht im Kreis seiner Familie, sondern bei Verwandten in Altona. Im Herbst des Vorjahres hatte er seine Heimatstadt verlassen und war nach Lübeck gegangen, um sich dort durch den Besuch des berühmten Katharineums auf sein Studium vorzubereiten; da war der Weg nach Altona weniger beschwerlich als der nach Husum. In Altona wohnte er bei Jonas Heinrich Scherff, einem Kaufmann, der mit einer Cousine von Storms Mutter1 verheiratet war. Dort begegnete der Primaner einem kleinen Mädchen, der zehnjährigen Bertha von Buchan, die mit ihrer Pflegemutter Therese Rowohl in Hamburg wohnte und ebenfalls zum Weihnachtsfest eingeladen war.2 Diese Begegnung muss auf den damals 19jährigen Storm einen großen Eindruck gemacht haben, denn er begann noch am Weihnachtsmorgen damit, Gedichte in eine damals von ihm verwendete Sammelhandschrift („Meine Gedichte“) einzutragen, die durch seine Begegnung mit Bertha angeregt waren.

Ostern 1837 begann Storm in Kiel mit dem Jura-Studium und blieb das ganze Jahr über mit Bertha in Briefkontakt. Zum Weihnachtsfest 1837 schickte er ihr das Märchen „Hans Bär“, seine erste Prosaarbeit. Aber erst zum Osterfest des folgenden Jahres sahen sich die beiden wieder, als Storm nämlich erneut zu den Scherffs nach Altona fuhr.

Spätere Äußerungen Storms belegen3, dass er sich bereits in dieser Zeit in die zwölfjährige Bertha verliebt hat; einige Liebesgedichte, in er im Jahre 1839 in seine Handschrift4 eintrug („Bei meinen Liedern“, „Wie, noch immer in den braunen“, „Ich weiß eine schöne Blume“ und „Ständchen“), belegen dies ebenfalls.

Storm schrieb Bertha regelmäßig Briefe und legte immer wieder einige seiner Gedichte bei, so zum Brief an Therese Rowohl vom 22. März 1841 „Meine Maid“, das er später unter der Überschrift „Junge Liebe“ in seine Gedichtsammlung aufnahm.

 

 

Bertha von Buchan. Miniaturbild von E. Kister

 

Dieses Gedicht gibt uns Gelegenheit, einmal genau zu verfolgen, wie der Arbeitsprozess des Dichters von den ersten Skizzen bis zur Druckfassung ausgesehen hat.

Zunächst hat Storm die Rückseite des Briefkonzepts beschrieben und darauf drei der später sechs Gedichtstrophen notiert. Dabei strich er bereits vorhandene Zeilen und konzipierte neue. Am Ende stand folgender Text auf seinem Notizzettel5:

 

Meine Maid

Blau ist ihr Aug, nachtbraun ihr lockicht Haar

Ein schelmisch Mündlein, wie nur je eins war

 Ein launisch Köpfchen doch sein Widerstreben

Ein Schelmenmund, wie jemals einer war,

Ein launisch Kind, - doch alles Widerstreben

Besiegt das Herz, das mir so ganz ergeben.

Oft wenn ich müde mich im Lehnstuhl ausgeruht

Sie stumm betrachtend als mein höchstes Gut

dann brach sie losddie weiße Stirne faltende

Du bist sehr interessant

Ich muß gestehn, du bis sehr unterhaltend

 

„Der Mutter sag ichs.“ ruft das tolle Kind

Sie springt davon, doch hasch ich sie geschwind

Mit tausend Küssen zwing sie zu eigen

Daß flehend sie gelobt ein ewig Schweigen.

 

 

Storm hat sich den Entwurf bereits kurze Zeit später wieder vorgenommen, das bezeugt ein zweites Konzept, das er mit dem Datum „19. März 1841“ versah6. Das Ergebnis war das vollständige sechs-strophige Gedicht, wie wir es heute kennen, allerdings mit einigen Abweichungen.

 

Meine Maid

Ein blaues Aug, nachtbraun ihr lockicht Haar;

Ein Schelmenmund, wie jemals einer war

Ein launisch Kind, doch alles Widerstreben

Zerschmelzt ihr Herz, das mir so ganz ergeben.

 

Oft wenn bim Lehnstuhl sinnend ich geruht

Sie stumm betrachtend als mein höchstes Gut;

Dann springt sie auf u<nd> an des Stuhles Lehne

Hängt sie sich schmollend ob der stummen Scene

 

Du bist sehr interessant!“ - „Ich liebe dich.“

„Ach das ist schon was Altes; aber ich,

Ich lieb Geschichten, neu und nicht erfunden,

Erzählst du nicht, ich geh in drei Sekunden.“

 

So hör! Jüngst träumte mir“ - „Das ist nicht wahr!“ -

Wahr ist's! mir träumt', ich sähe auf ein Haar

Dich selbst Straß auf und ab in Prachtgewändern

An eines Mannes Arm gemächlich schlendern.

 

Und dieser Mann - der war nicht ich!“

Du lügst!“ - „Mein Herz, ich sah dich sicherlich!

Versunken war dein Aug in seines mit Entzücken -

Ich stand seitab, gleichgültig deinen Blicken -“-

 

Der Mutter sag ichs!“ ruft das tolle Kind,

Was für ein Traum!“ Da hasch ich sie geschwind,

Und zwing mit tausend Küssen sie zu eigen,

Bis sie aufs neu mir Liebe schwört u<nd> Schweigen

19 März 1841

 

Storm hat das Gedicht zum ersten Mal 1843 veröffentlicht, als er gemeinsam mit den Brüder Theodor und Tycho Mommsen das „Liederbuch dreier Freunde“ herausgab, seine erste Buchveröffentlichung.7 Danach schrieb er das Motto, allerdings war es zunächst für ein anderes Gedicht bestimmt, denn dieses erschien zum ersten Mal 1851 in seiner Sammlung „Sommer-Geschichten und Lieder“ im Druck8, wo Storm es seinem Gedicht „Dämmerstunde“ als Rahmen der dort versammelten Liebesgedichte voranstellte. Damit verweist er auf den biographischen Zusammenhang dieses Gedichtzyklus, in das er „Junge Liebe“ nicht aufnahm, mit seiner enttäuschten Liebe zu Bertha.

Mit dem Motto und der uns bekannten Überschrift nahm Storm das Gedicht schließlich 1852 in die erste Auflage der Separatausgabe seiner Gedichte auf9. Die zum letzten Mal von Storm eigenhändig revidierte Fassung der 4. Auflage seiner Gedichte vom 188510 gilt als „Fassung letzter Hand“ und ist dem Abdruck am Anfang dieses Kapitels zugrunde gelegt.

 

Anmerkungen

1 Friederike Henriette Alsen, Cousine von Storms Mutter, heiratete 1826 den Kaufmann Jonas Heinrich Scherff in Hamburg.

2 Mit dem Gedicht „Liebesweh (Nr. 81, S. 66) beginnen die auf Bertha bezogenen Einträge in der Sammelhandschrift „Meine Gedichte“ am „Weihnachtsmorgen“ 1836.

3 vergl. den Brief Storms an Friederike Scherff vom März 1841.

4 Die Handschrift „Meine Gedichte“, heute im Storm-Archiv, Husum.

5 Erste Handschrift: 1., 2. und 6. Strophe auf der Rückseite eines Briefentwurfs Storms an Therese Rowohl vom 22.3.1841 (StA, Husum).

6 Zweite Handschrift: Konzept alles 6 Strophen auf einem Briefentwurf Storms an Th. Rowohl auf den „19. März 1841“ datiert (StA, Husum).

7 Liederbuch dreier Freunde. Theodor Mommsen. Theodor Storm. Tycho Mommsen. Kiel 1843.

8 Sommer-Geschichten und Lieder von Theodor Storm. Berlin 1851.

9 Gedichte von Theodor Storm. Kiel 1852.

10 4. verm. Aufl., Berlin 1885

 

 

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