Ostern

 

Es war daheim auf unserm Meeresdeich;

Ich ließ den Blick am Horizonte gleiten,

Zu mir herüber scholl verheißungsreich

Mit vollem Klang das Osterglockenläuten.

 

Wie brennend Silber funkelte das Meer,

Die Inseln schwammen auf dem hohen Spiegel,

Die Möwen schossen blendend hin und her,

Eintauchend in die Flut die weißen Flügel.

 

Im tiefen Kooge bis zum Deichesrand

War sammetgrün die Wiese aufgegangen;

Der Frühling zog prophetisch über Land,

Die Lerchen jauchzten und die Knospen sprangen. -

 

Entfesselt ist die Urgewalt'ge Kraft,

Die Erde quillt, die jungen Säfte tropfen,

Und Alles treibt, und Alles webt und schafft,

Des Lebens vollste Pulse hör' ich klopfen.

 

Der Flut entsteigt der frische Meeresduft,

Vom Himmel strömt die goldne Sonnenfülle;

Der Frühlingswind geht klingend durch die Luft

Und sprengt im Flug des Schlummers letzte Hülle.

 

O wehe fort, bis jede Knospe bricht,

Daß endlich uns ein ganzer Sommer werde;

Entfalte dich, du gottgebornes Licht,

Und wanke nicht, du feste Heimaterde! -

 

Hier stand ich oft, wenn in Novembernacht

Aufgor das Meer zu gischtbestäubten Hügeln,

Wenn in den Lüften war der Sturm erwacht,

Die Deiche peitschend mit den Geierflügeln.

 

Und jauchzend ließ ich an der festen Wehr

Den Wellenschlag die grimmen Zähne reiben;

Denn machtlos, zischend schoß zurück das Meer -

Das Land ist unser, unser soll es bleiben!

 

 

Auf den ersten Blick handelt es sich bloß um ein Frühlingsgedicht in der Tradition der Naturlyrik, wie wir sie von Theodor Storm kennen: Das Bild der Frühlings wird aus der Fülle der Empfindungen angesichts der neu erwachten Naturkräfte gewonnen, die der Dichter zu einem Ganzen der Erscheinung zusammenfügt. Das Osterglockenläuten (Symbol der Auferstehung) der ersten Strophe verheißt dem auf dem Deich stehenden Beobachter die neue Jahreszeit, die sich durch das Sammetgrün der Wiesen, das Jauchzen der Lärchen und das Aufspringen der Knospen ankündigt.

Aber der erste Blick kann täuschen; in den weiteren Strophen wird deutlich, daß Storm mehr als nur den erwachenden Frühling beschreiben will. Zwar steigert er in den Strophen 4 und 5 die Naturbeschreibung zu einer alles umfassenden Verherrlichung des Lebens, doch passen die Schlußzeilen der Strophen 6 und 8 nicht zur Bilderflut, mit der er die erwachende Natur empfindungsreich beschreibt: „Und wanke nicht, du feste Heimaterde!“ „Das Land ist unser, unser soll es bleiben!“

Diese beiden Zeilen erinnern an den Refrain des „Schleswig-Holstein-Liedes“, der Hymne der Erhebung gegen die Dänische Vorherrschaft in den beiden Herzogtümern.1 Der zweite Blick zeigt also, daß wir ein politisches Gedicht vor uns haben, in dem der Dichter den Frühling nur als Ausgangspunkt wählt, um mit ihm etwas anderes symbolisch auszudrücken.

Das Gedicht ist nicht in einem Arbeitsprozess entstanden. Am 13. April 1846, es war der zweite Ostertag, schickte Storm die ersten drei Strophen an Constanze Esmarch und erklärte seiner Braut: 2

 

Heute vormittag, wo wirklich eine Juniluft war, bin ich die ganze Zeit genießend und dichtend im Garten umhergegangen; ein politisches Gedicht wollte ich machen, das mit dem Frühling beginnen sollte, aber ich konnte über diesen nicht hinaus. Hier hast Du die Verse; sie sind, glaube ich gelungen, ob aber weiter - das weiß ich nicht.

 

Die fünf weiteren Strophen konnte Storm erst in den nächsten beiden Jahren niederschreiben, denn zu Ostern 1848 schickte er das vollendete Gedicht an seinen Studienfreund Theodor Mommsen, der zu dieser Zeit Redakteur der „Schleswig-Holsteinischen Zeitung“ war, die als Organ der Schleswig-Holsteinischen Erhebung in Rendsburg erschien. Diese Erhebung war Teil der bürgerlichen Revolution der Jahre 1848/49; sie war eine Reaktion deutsch gesinnter Bürger gegen die Ernennung eines eiderdänisch orientierten Ministeriums für die Verwaltung der vom Dänischen Reich regierten Herzogtümer Schleswig und Holstein. Gegen den Versuch, das Herzogtum Schleswig dem Dänischen Gesamtstaat einzuverleiben, rief man am 24. März 1848 in Kiel eine „Provisorische Regierung“ aus. Storm unterstützte die Ziele der Bewegung und unterzeichnete eine Petition, in der gefordert wurde, die Personalunion zwischen Dänemark und den Herzogtümern aufzuheben.

Die Erhebung schien nach der Niederlage der schleswig-holsteinischen Truppen am 9. April 1848 bei Bau nördlich von Flensburg bereits gescheitert, als nach Anerkennung durch den Deutschen Bundestag preußische Truppen eingriffen, die vereint mit den Schleswig-Holsteinern das dänische Militär besiegen konnten. Die Hoffnungen auf ein unabhängiges Schleswig-Holstein als Teil des Deutschen Bundes zerschlugen sich aber bereits nach einem Jahr, da die alten europäischen Mächte nach dem Scheitern der demokratischen und republikanischen Bewegung auf einen Frieden drängten, der Dänemark die Oberhoheit über das Land zusprach.

Theodor Mommsen wollte das Gedicht nicht abdrucken, weil er es in der Form eines Naturgedichts für ungeeignet hielt; es tauge nichts für ein politisches Blatt, schrieb er am 3. Mai an Storm. „Sollen da Verse drin stehen, so müssen es Verse aus der Sache heraus und nicht über die Sache vom Parterre her sein.“

So gab Storm den Text an Karl Leonhard Biernatzki, den Herausgeber des „Volksbuch(s) auf das Jahr 1849“, in dem es umter dem Titel „An der Westküste. 1. Auf dem Deich. Ostern 1848“ erschien.

Storm vereinigt in seinem Gedicht zwei unterschiedliche Aspekte der Lyrik. Mit der Wahl des Frühlingsmotivs stellt er sich in die Tradition der Naturlyrik; zugleich aber überschreitet er die Empfindungen des lyrischen Ichs und vereint sie mit einer Reflexion über die Bedrohung der Bewohner des Landes durch die politischen Ereignisse, die von den zeitgenössischen Lesern hautnah erfahren wurden. In der Gegenüberstellung von heimatlichem Naturerlebnis und Bedrohung der politischen Gemeinschaft von außen verallgemeinert Storm seine persönliche Erkenntnis so, daß sie von seinen Lesern nacherlebt werden konnte.

Storm hat in diesen unruhigen Jahren auch weitere politische Gedichte geschrieben, in denen er seine demokratischen Hoffnungen deutlich zum Ausdruck brachte; als Mitarbeiter der „Schleswig-Holsteinischen Zeitung“ berichtete er über die Ereignisse während der Erhebung in Husum und zeigte, daß er republikanische Ziele vertrat. Nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution verbreitete sich eine tiefe Resignationsstimmung und verdrängte die Hoffnung auf Veränderung und Verbesserung der politischen und gesellschaftlichen Zustände. Auch Storms gab dieser veränderten Stimmung in Prosa und Lyrik Ausdruck und wurde damit in ganz Deutschland bekannt; viele seiner Verehrer haben darüber den politischen, den kämpferischen Demokraten Storm vergessen.

 

Anmerkungen

1 Das Lied „Schleswig Holstein, meerumschlungen" von Matthäus Chemnitz (1815-1870) hieß ursprünglich: „Wanke nicht, mein Vaterland!“

2 Theodor Storm – Constanze Esmarch Briefwechsel (1844-1846). Kritische Ausgabe. 2 Bde. Hg. von Regina Fasold, Band II. Berlin 2002.

3 Über Storms Freundschaft zu Theodor Mommsen und seine Mitarbeit als Husumer Korrespondent für die "Schleswig-Holsteinischen Zeitung" vergl. Theodor Storms Briefwechsel mit Theodor Mommesen, hg. von Hans-Erich Teitge. Weimar 1966.

4 Volksbuch für die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg auf das das Jahr 1849, hg. von Karl Leonhard Biernatzki, Altona 1848, S. 1f.

 

Zuerst veröffentlicht in „Schleswig-Holstein“ April 1992.

 

 

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