Mai

 

1

 

Die Kinder schreien „Vivat hoch!“

In die blaue Luft hinein;

Den Frühling setzen sie auf den Thron,

Der soll ihr König sein.

 

2

 

Die Kinder haben die Veilchen gepflückt,

All, all, die da blühten am Mühlengraben.

Der Lenz ist da; sie wollen ihn fest

In ihren kleinen Fäusten haben.

 

 

Die erste Strophe dieses kleinen Gedichts ist 1860 im thüringischen Heiligenstadt entstanden; von dort schrieb Storm am 29. März 1859 an seine Eltern nach Husum1:

„Es wird Frühling mit Gewalt, eine Flut von Veilchen bricht überall aus dem Grase hervor; alle Kinder laufen mit blauen Sträußen; sie wollen den Frühling recht handgreiflich in ihren kleinen Fäusten haben.“

Storm war damals 42 Jahre alt und hatte seine schönsten Gedichte bereits geschrieben. Mit großer Könnerschaft schuf er stimmungsvolle Bilder der ihm vertrauten Landschaften, die es seinen Lesern ermöglichen, diese Naturerlebnisse nachzuempfinden. In seinen bedeutenden Gedichten gelang es ihm, seine persönlichen Erfahrungsbilder von Natur und Leben so allgemein darzustellen, daß eine Lyrik von überzeitlicher Bedeutung entstand.

Auch dieses weniger bekannte Frühlingsgedicht zeigt Storms künstlerische Meisterschaft. Anders als der Bericht an die Eltern erzählen die vier Zeilen das Erlebte nicht bloß, sie fangen darüber hinaus auch jene erwartungsvolle Stimmung ein, die jeden von uns beim Anblick des ersten Grünens und Blühens im Frühjahr beflügelt.

Gedichte zu Jahreszeiten haben eine lange Tradition; die individuellen Empfindungen und Stimmungen angesichts eines immer wiederkehrenden Naturereignisses wurden von vielen Dichtern mit dem menschlichen Leben verglichen; der Jahresrhythmus der Natur wird Sinnbild für den Lebenslauf der Menschen. Frühling, Sommer, Herbst und Winter stehen für Jugend, Reife, Alter und Tod. Und weil der Frühling die erste und schönste der Jahreszeiten ist, wird in so vielen Frühlingsgedichten die junge Liebe besungen.

Storm wählt in seinem Gedicht aber den Anfang des Lebenslaufs und stellt Kinder in den Mittelpunkt seiner Zeilen. Sie haben die Veilchen gepflückt; mit dem „All', all'„ deutet er die Absicht der Kleinen an, alles für sich zu vereinnahmen. Mit der bescheidenen Szene am Mühlengraben hat Storm etwas ganz Zentrales im Leben des Menschen eingefangen: So wie die Kinder den Lenz (im Wortsinn) „festhalten“ wollen, nimmt der Mensch im Frühling sein Leben wieder fest in seine Hand. Den Willen zum Festhalten verdanken wir unserer zuversichtlichen Stimmung, die uns erneut belebt und wieder zur Tat anspornt.

 

In der 4. Auflage seiner „Gedichte“ (1864) setzte Storm die Verse als 2. Strophe unter ein anderes Frühlingsgedicht und überschrieb beide mit „Mai“.2

Diese Verse sind schon älteren Datums; Storm hatte sie am 17. April 1844 in einem Brief an seine Braut Constanze Esmarch geschrieben. Auch dies ist kein Liebesgedicht; ganz ähnlich den späteren Versen hat Storm es den Kindern gewidmet. Aber wir können doch Unterschiede erkennen. Noch hat der Dichter seine Meisterschaft nicht erreicht; zwar vermitteln uns die Zeilen des damals 26jährigen Storm ein ganz ähnliches Erlebnis wie der spätere Text, im Leser wird eine ähnliche Stimmung erzeugt; aber hier wird die persönliche Empfindung des Beobachters“ nur mitgeteilt und noch nicht so verallgemeinert, wie Storm das in seinem späteren Gedicht gelungen ist. Wo das frühere in der Situation verharrt und sie nur abbildet, ermöglicht das spätere Gedicht dem Leser, die eigene Empfindung, die sich beim Lesen einstellt, in einer sehr allgemeinen Weise und losgelöst von dem einmaligen Erlebnis auf sein Leben und auf das Leben überhaupt zu beziehen. Und darin zeigt sich Storms Meisterschaft.

 

Anmerkungen

1 Theodor Storm: Briefe in die Heimat aus den Jahren 1853-1864, hg. von Gertrud Storm. Berlin 1914, S. 128f.

2 Theodor Storm: Gedichte. 4., vermehrte Auflage, Berlin 1864.

 

Zuerst veröffentlicht in „Schleswig-Holstein“ Mai 1991.

 

 

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