Ein bisher Storm nicht zugeschriebenes Gedicht

 

 

Dieses vierzeilige Gedicht findet sich als Kalenderspruch zum Monat August im „Volksbuch auf das Jahr 1846“, das von dem Friedrichstädter Rektor Karl Leonhard Biernatzki1 herausgegeben wurde. Darüber, wer der Verfasser des Gedichts ist, gibt der Kalender keine Auskunft. Es gibt aber Gründe zu vermuten, daß dieses Gedicht von Theodor Storm geschrieben wurde. Es lautet: Wie munter die Aehren sich regen,/ Wie fröhlich die Winde sie wehn!/Sie hüpfen der Sichel entgegen ˗/ Laßt so ihr entgegen uns gehn.

 

Am 21. Februar 1845 erreichte Storm eine Anfrage des Herausgebers, der ihn zur Mitarbeit im dritten Band seines „Volksbuchs“ aufforderte.2 Storm nahm das Angebot dankend an und schickte über seinen Vetter Friedrich Stuhr verschiedene Materialien an Biernatzki. Dieser leitete die Texte nach Altona weiter zu seinem Bruder Hermann (1818-1898), der dort als Advokat arbeitete und den Bruder bei der redaktionellen Arbeit an den „Volksbüchern“ unterstützte.

Im Herbst 1842 war der frischgebackene Jurist Theodor Woldsen Storm, wie er sich damals nannte, nach Beendigung seines Studiums in seine Vaterstadt Husum zurückgekehrt, um hier zunächst in der Kanzlei seines Vaters zu arbeiten und um schließlich seit Frühjahr 1843 eine eigene Rechtsanwaltspraxis aufzubauen. In dieser Zeit erprobte der junge Dichter sein erzählerisches Talent an allerlei Märchen, Spuk- und Sagentexten, die er in Zusammenarbeit mit den Berliner Freunden Theodor und Tycho Mommsen sammelte. Storm hatte in den Jahren zuvor bereits Gedichte geschrieben, darunter eine Reihe von Liebesgedichten, die während seiner Bekanntschaft mit Bertha von Buchan entstanden, und in denen er sich erstmals von seinen früheren schülerhaften Versuchen lösen konnte, die er im Stile des späten 18. Jahrhunderts verfasst hatte.

Drei Gedichte hatte er als Schüler im „Husumer Wochenblatt“ veröffentlichen können3, es folgten lyrische Texte in den „Neuen Pariser Modeblättern“, im „Album der Boudoirs“ und in der Zeitschrift „Europa“.4 Die erste selbständige Publikation war ein gemeinsam mit den Brüdern Mommsen zusammengestellter Gedichtband, der unter dem Titel „Liederbuch dreier Freunde“ im Herbst 1843 in Kiel gedruckt wurde, und in dem 39 Gedichte des Juristen aus Husum enthalten sind.

Ebenfalls im Herbst 1843 stellte er mit Theodor Mommsen der Öffentlichkeit eine Auswahl aus ihrer gemeinsamen Sammlung Schleswig-Holsteinischen Sagen vor, die im ersten Band des „Volksbuchs für die Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg“ (auf das Jahr 1844)5 erschienen. Diese Publikationsmöglichkeit nutzte der noch wenig bekannte Dichter intensiv und wurde in den nächsten sechs Jahren bedeutendster Mitarbeiter des populären Kalenders.

In den Jahrgängen 1846-1851 wurden mehr als zwanzig Gedichte von Storm zu ersten Mal gedruckt; außerdem schickte er an die Brüder Biernatzki eine Reihe von Anekdoten und Sagen sowie seine ersten längeren Erzählungen „Marthe und ihre Uhr“, „Im Saal“, „Immensee“ und „Stein und Rose“ (später „Hinzelmeier“).

Unter den Texten, die Storm für die verschiedenen Jahrgänge des „Volksbuchs“ geliefert hat, finden wir in einigen Fällen den Namen des Autors, in anderen den Hinweis „Mitgetheilt“, in manchmal auch gar keinen Autorenhinweis. Diese unterschiedlich Verfahrensweise Biernatzkis hat damit zu tun, dass Storm sich bei den Sagen, die er aus gedruckten Quellen herausgeschrieben oder nach Hörensagen festgehalten und in schriftliche Form gebracht hat, auf eine Nennung seines Namens keinen Wert legte, wie wir aus einem Brief Storms an Karl Müllenhoff6 wissen, der die von Storm und Mommsen gesammelten Sagen in die von ihm 1845 herausgegebene Sammlung Schleswig-Holsteinischer Sagen aufnahm.

Schaut man sich allerdings die von Storm beigetragenen Texte im „Volksbuch auf das Jahr 1846“ an, so zeigt sich, dass Biernatzki diese Praxis auch auf Gedichte Storms angewendet hat. Die meisten der im redaktionellen Teil des Kalenders abgedruckten Texte sind mit Namen gezeichnet, lediglich bei den Sagen aus Schleswig-

Holstein verzichtet der Herausgeber auf die Nennung der Autoren.7 Das gilt auch für die in diesem Teil enthaltenen Gedichte Storms8, die alle mit dem Namen des Dichters versehen sind. Die vier Gedichte aber, die bei den Monatsblättern im Kalendarium stehen, sind ohne Namensnennung abgedruckt. Drei davon9 lassen sich deshalb als Storm-Gedichte identifizieren, weil sie in Storms Handschrift überliefert sind bzw. vom Verfasser auch an anderen Orten veröffentlicht wurden. Allein das am Anfang dieses Beitrags gedruckte Gedicht (es ist wie ein weiteres Storm-Gedicht als Kalenderspruch verwendet worden) ist weder in einer der bekannten Handschriften Storms enthalten, noch taucht es in einem anderen Zusammenhang mit gedruckten Gedichten Storms auf.

Auch die erhaltene Korrespondenz zwischen Storm und den Brüdern Biernatzki gibt keinen endgültigen Aufschluss darüber, ob das kleine Naturgedicht aus der Feder Theodor Storms stammt.

Am 28. Juli 1845 teilte Hermann Biernatzki Storm mit, welche Texte er im Volksbuch drucken wollte10:

 

Bis jetzt sind sonst aufgenommen: Een Döntje, Schneewittgen, ein Theil Ihrer Sagen (wozu eins der 6 Kupfern zu Graf Otto's Horn), die Geschichte aus der Tonne (wozu ebenfalls ein Kupfer) u. das zu letzt mir zugesandte Gedicht.

Unter diese alle setzte ich natürlich Ihren Namen. Vielleicht werden noch aufgenommen der Bau der Marienkirche (u zwar sehr wahrscheinlich) und eins oder das andere Ihrer kleinen Gedichte. Soll ich auch unter diese Ihren Namen setzen? Das wohl! Nicht wahr? [...]

 

Möglich, ist, dass es sich auch bei dem fraglichen Text um eines der „kleinen Gedichte“ handelt, von denen Hermann Biernatzki im Brief an Storm schreibt. Dafür spricht zunächst, dass es in Sprache und Form zu der übrigen in dieser Zeit von Storm verfassten Lyrik passt; auch wurden im Kalendarium dieses Jahrgangs ausschließlich Gedichte Storms eingerückt.

Das Naturgedicht, aus dem unser Kalenderspruch besteht, beschreibt zunächst in drei Zeilen ein reifes Ährenfeld, auf dem das Korn vor der Ernte steht, wo es gleichsam (und das wird bildhaft ausgedrückt) auf die Sichel wartet. Durch die Zuordnung zum Monat August ist der Zusammenhang klar: der volle Sommer wird gelobt, der die reife Ernte bringen wird. So hat es auch der Illustrator aufgefasst, der uns puttenhafte Gestalten zeigt, die mit Sensen das reife Korn schneiden und das Getreide zu Garben binden. Aber die vierte Zeile enthält eine Lehre und überträgt das Naturbild auf das menschliche Leben: „Laßt so ihr entgegen uns gehn.“ Die Menschen sollen dem Tod, der in der Tradition als Schnitter mit der Sense dargestellt wird, so entgegen gehen, wie die reifen Ähren der Ernte, also fröhlich und munter. Das kleine Gedicht steht in der Tradition der Naturlyrik, die den Ablauf des Jahres mit dem Lebenslauf des Menschen vergleicht. Die Fülle des Sommers entspricht der reife des menschlichen Lebens; aber hier bereits soll und bewusst werden, dass wir sterblich sind und dass der Lauf des Lebens eines Tages mit dem Tod endet. Der Vergleich mit dem reifen Getreide soll dem Gedanken an den Tod den Schrecken nehmen, in dem er das Leben in den Kreislauf der Natur stellt, in dem
der Tod zwar das Ende darstellt, aber das Ende von einem erfüllten Leben.

Die zugehörige Illustration hat Biernatzki im „Volksbuch auf das Jahr 1949“ noch einmal verwendet und zwar ziert sie dort den Kalenderspruch für den Monat August, bei dem die Initialen „Th. St.“ den Verfasser eindeutig nennen.11 Es lautet: Die Sense rauscht, die Aehre fällt,/ Die Thiere räumen scheu das Feld, -/Der Mensch begehrt die ganze Welt.

 

Die Verwandtschaft mit unserem fraglichen Gedicht ist nicht zu übersehen. Es gibt aus dieser Schaffensperiode Storms eine ganze Reihe ähnlicher kleiner Naturgedichte, die er den Jahreszeiten und Monaten zuordnet. Ob Storm allerdings wirklich Verfasser des kleinen Textes ist, laßt sich mit voller Sicherheit nicht klären.

 

Anmerkungen

1 Karl Leonhard (1815-1899), ev. Theologe, Schriftsteller und Publizist, wurde im Mai 1841 interimistischer Rektor der Schule in Friedrichstadt, Kreis Schleswig, am 12.9.1844 dann Rektor dieser Schule. Als Herausgeber des Volksbuchs für die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg (erschienen 1843-1850 für die Jahre 1844-1851) verfasste Biernatzki geschichtliche und kulturhistorische Beiträge; in der redaktionellen Arbeit unterstützte ihn seinen Bruder Jürgen Hermann Biernatzki (1818-1898), der als Advokat in Altona wirkte. Mit den Volksbüchern schuf Biernatzki ein regionales, auf den deutsch- und friesischsprachigen Kulturraum beschränktes Forum für belletristische und landesgeschichtliche Beiträge mit national-deutscher Ausrichtung.

2 Volksbuch auf das Jahr 1846 mit besonderer Rücksicht auf die Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Hg. von Karl Leonhard Biernatzki. Altona 1845.

3 Vergl. Gerd Eversberg: Storms erste Gedichtveröffentlichungen. In: STSG 41(1992), S. 45-49 sowie ders.: Rätsel und Wortspiele von Theodor Storm. In: STSG 44(1995).

4 Lothar Müller: Neues zu den frühen  Gedichtveröffentlichungen Theodor Storms. In: STSG 41(1992), S. 31-44.

5 Schleswig-Holsteinische Sagen. Von Th. Woldsen-Storm und Jens Th. Mommsen. In: Volksbuch für das Jahr 1844 mit besonderer Rücksicht auf die Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Hg. von Karl Leonhard Biernatzki. Kiel 1843, S. 80-96.

6 Unveröffentlichter Brief, Humboldt-Universität Berlin. Karl Müllenhoff (1818-1884) lehrte als Privatdozent an der Universität Kiel und wurde dort zum Professor für Literatur ernannt, später nahm er einen Ruf an das altphilologische Seminar der Universität Berlin an; vergl. Müllenhoff hat die Sagensammlung, die von Storm und Mommsen begonnen wurde, unters einem Namen herausgegeben: Sagen, Märchen und Lieder der  Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845. Eine erweiterte Auflage besorgte Otto Mensing (Schleswig 1921), von der ein fotomechanischer Nachdruck (Kiel, 4. Aufl. 1985) vorliegt.

7 Gerd Eversberg: Einige Storm bisher nicht zugeschriebene Sagen und Geschichtserzählungen. In: STSG 43(1994), S. 75-95.

8 „Der Bau der Marienkirche zu Lübeck“, S. 138ff; "Im Frühling", S. 156 und "Aus Großkrähwinkel“ (später „Vom Staatskalender“).

9 „Das Kind im Bette“ (später „Des Kindes Gebet“), S. 3; „Kranzwinden“, S. 11 und „Weihnachten“ (später „Weihnachtslied“), S. 25.

10 Unveröffentlichter Brief, SHLB Kiel.

11 Von diesem kleinen Gedicht ohne Überschrift gibt es mehrere handschriftliche Überlieferungen.

 

Zuerst veröffentlicht in Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 44(1995)

 

 

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