Ein Gedicht an die Mutter

Wir kennen eine ganze Reihe von Gelegenheitsgedichten Storms, die er zumeist zu Familienfeierlichkeiten gereimt hat. Nur wenige davon hat er in seine Gedichtsammlung aufgenommen, denn sie waren wegen des privaten Charakters nicht für die literarische Öffentlichkeit bestimmt. Kennzeichnend für diese Art der Gebrauchskunst ist ihre Orientierung an Adressat und Ereignis. Sie dienen der poetischen Würdigung herausgehobener Situationen wie Hochzeiten und Geburtstagen und standen bis ins 18. Jahrhundert in hohem Ansehen. Später sanken sie jedoch zur Bedeutungslosigkeit herab und dienten im 19. Jahrhundert fast nur noch zur Ausschmückung privater Feierlichkeiten. Manche dieser Gedichte sind auch formal nicht bedeutsam, da sie nur für einen einmaligen Anlass „hergestellt“ wurden. Man sieht ihnen die „Mache“ an. Aber es gibt auch Ausnahmen.

 

 

Eine solche Ausnahme ist auch folgendes Gedicht, das Theodor Storm sogar in seine Gedichtsammlung aufgenommen hat. Geschrieben hat er es anlässlich des 81. Geburtstags seiner Mutter am 23. Juli 1878. Eine bisher unbekannte Handschrift ist vor kurzem in Privatbesitz aufgetaucht und lautet:

                                                                

 

                          Du und Dein Sohn, sie sind beide schon alt;

                          Doch blühen noch Rosen,

                          Und das Herz ist nicht kalt.

 

Lucia Storm (1797-1879) stammt aus der Familie Woldsen, die in Husum auf eine lange Tradition als Kaufleute und Honoratioren zurückblicken konnte. Sie heiratete am 29. Mai 1816 den Advokaten Johann Casimir Storm (1790-1874), Sohn von Müllerleuten aus der Nähe von Rendsburg. Casimir Storm studierte nach dem Besuch der Husumer Gelehrtenschule Jura und ließ sich als Advokat in Husum nieder. Von 1831 bis 1848 vertrat er das Amt Husum in der Schleswigschen Ständeversammlung, deren Sekretär er war. Aus der Ehe gingen 6 Kinder hervor, drei Jungen und drei Mädchen. Theodor war der Erstgeborene.

Ein halbes Jahr vor dem 80. Geburtstag seiner Mutter schrieb Storm an Margarethe Mörike, die Witwe Eduard Mörikes, den er Jahrzehnte vorher einmal mit seinen Eltern besucht hatte: „Von meinen beiden Eltern, die Sie damals leider nicht kennen lernten, lebt noch in dem großen elterlichen u. großelterlichen Hause meine fast 80jährige Mutter, von den verschiedensten Enkeln umschwärmt, durch Nervenschwäche an Manchen verhindert, sonst aber geistig und körperlich, wie sie sonst gewesen. Mein Vater starb vor 2 Jahren an meinem Geburtstage im 85 Jahre. Ich vermisse ihn noch oft.“

Storms Verhältnis zum Vater war mehr als unterkühlt; nach seinen Aussagen hat der Vater nichts von den Dichtungen seines Sohnes wissen wollen. In jungen Jahren äußerte er gegenüber seiner Braut Constanze: „Daß ich mich in der Nähe eines solchen Mannes zumal da ich von ihm abhänge und mich ihm daher unterordnen muß, unbehaglich fühlen, ja daß ich nie rein gestimmt sein konnte, ist leicht begreiflich.“ Dies war im Sommer 1845 und Theodor Storm war noch nicht 28 Jahre alt. Als junger Mann, der gerade dabei war, sich auf die Ehe mit Constanze Esmarch einzustimmen, fiel auch das Urteil über seine Mutter nicht besonders schmeichelhaft aus: „Auf der andern Seite ist auch Mutter, bei all ihrem guten thätigen Willen, mir unbequem durch ihren ängstlich behuthsamen Sinn, zumal aber durch ihre zähe langsame Auffassungsgabe. Mein Geist ist zu leicht beweglich, zu feurig, um mit solchen Frauen leben zu können. Dazu kommen noch die ewigen Haushaltungsgespräche, die zur guten Haushaltungsführung ganz überflüssig sind, denn Mutter ist gar nicht einmal sparsam; dann die Verdrießlichkeit, wenn man ’n mal bemerkt, daß die Gurken verdorben sind – daß Vater nicht bei seiner Frau sein mag, ist begreiflich; denn Mutter ist wirklich bis zum Exceß langweilig, vielleicht hat er sie selbst dazu gemacht. – Nein Dange das ist nichts solche Ehe; Gott schütz uns davor!“

Später hat sich sein gespanntes Verhältnis zu den Eltern verbessert und im Alter war der Dichter milder gestimmt. Er empfand das lange Leben seiner Eltern als Geschenk an die Kinder und begriff dies auch als Verpflichtung, seine Eltern zu ehren. Denn trotz einer gewissen Gefühlskälte, über die er mehrfach klagte, hatten sich seine Eltern doch als sehr zuverlässig erwiesen und haben ihrem ältesten Sohn in mehrfacher Hinsicht Hilfe geleistet.

In den 1850er Jahren hat der Vater seinen Sohn mit ansehnlichen Geld- und Sachleistungen unterstützt, als Theodor im Preußischen Exil nicht genug verdiente, um die rasch anwachsende Familie standesgemäß zu versorgen. Das Elternhaus war auch eine Zufluchtstätte für das Sorgenkind Hans, der von seinen Eltern für längere Zeit von Heiligenstadt nach Husum geschickt wurde. So hat Storm nach und nach sein Verhältnis zu den Eltern idealisiert und Freunden gegenüber nur positiv von Vater und Mutter gesprochen.

Storms Vater starb über achtzigjährig 1874; seine Frau überlebte ihn noch fünf Jahre. Am 20. September 1879 berichtete er Gottfried Keller nach Zürich: „Am 28. Juli d. J. starb nach schwerem Todeskampfe meine alte, im Herzen noch so jugendfrische Mutter, 82 Jahre alt, und das vom Urgroßvater erbaute Familienhaus ist zum Kaufe ausgeboten.“ Die Auflösung des elterlichen Haushalts hat Storm, der ja selber zu diesem Zeitpunkt bereits 62 Jahre alt war, sehr belastet. Fotos aus dieser Zeit zeigen uns einen früh gealterten Mann. Ursache wird wohl auch seine latente Krankheit gewesen sein, die sich später als Magenkrebs herausstellen sollte.

In seinem Brief an Paul Heyse vom 27.3.1883 charakterisierte Storm seine Mutter vier Jahre später folgendermaßen: „Es war eine gute Mutter, meine Mutter; aber sie hatte doch gegen die allzu überschwängliche Güte meiner Großmutter (ihrer Mutter) in gewisser Weise Stellung genommen; und daher wurde ich von dieser so augenblicklichen und Alles übersteigenden Erfüllung meiner Wünsche ganz betäubt in meinem Kindskopfe.“

In dem Gedicht hat Storm einen sehr persönlichen Ton gefunden; der Dichter braucht nicht viele Worte, um sein Verhältnis zu seine Mutter auszusprechen. In seiner Kargheit berührt der Text bis heute.

 

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