Waldweg

Fragment

 

Durch einen Nachbarsgarten ging der Weg,

Wo blaue Schleh'n im tiefen Grase standen;

Dann durch die Hecke über schmalen Steg

Auf eine Wiese, die an allen Randen

Ein hoher Zaun vielfarb'gen Laubs umzog;

Buscheichen unter wilden Rosenbüschen,

Um die sich frei die Geißblattranke bog,

Brombeergewirr und Hülsendorn dazwischen;

Vorbei an Farrenkräutern wob der Eppich

Entlang des Walles seinen dunklen Teppich.

Und vorwärts schreitend störte bald mein Tritt

Die Biene auf, die um die Diestel schwärmte,

Bald hörte ich, wie durch die Gräser glitt

Die Schlange, die am Sonnenstrahl sich wärmte.

Sonst war es kirchenstill in alle Weite,

Kein Vogel hörbar; nur an meiner Seite

Sprang schnaufend ab und zu des Oheims Hund;

Denn nicht allein wär' ich um solche Zeit

Gegangen zum entlegnen Waldesgrund;

Mir graute vor der Mittagseinsamkeit. -

Heiß war die Luft, und alle Winde schliefen;

Und vor mir lag ein sonnig offner Raum,

Wo quer hindurch schutzlos die Steige liefen.

Wohl hatt' ich's sauer und ertrug es kaum;

Doch rascher schreitend überwand ich's bald.

Dann war ein Bach, ein Wall zu überspringen,

Dann noch ein Steg, und vor mir lag der Wald,

In dem schon herbstlich rot die Blätter hingen.

Und drüber her, hoch in der blauen Luft,

Stand beutesüchtig ein gewaltger Weih',

Die Flügel schlagend durch den Sonnenduft;

Tief aus der Holzung scholl des Hähers Schrei.

Herbstblätterduft und Tannenharzgeruch

Quoll mir entgegen schon auf meinem Wege,

Und dort im Walle schimmerte ein Bruch,

Durch den ich meinen Pfad nahm in's Gehege.

Schon streckten dort gleich Säulen der Kapelle

An's Laubgewölb' die Tannenbäume sich;

Dann war's erreicht, und wie an Kirchenschwelle

Umschauerte die Schattenkühle mich.

 

 

Im Jahre 1846 schwärmt Storm in einem Brief an seine Braut Constanze Esmarch von einem Frühlingsgedicht, das er in einer Zeitung gefunden hatte1:

 

Im ganzen ist ein inniger, warmer Ton in dem Liede, auch so ein bißchen von Eichendorffs geheimnisvollem, stillem Waldleben [...].

 

Genau diese Stimmung war es, die der junge Dichter in seiner Lyrik zum Ausdruck bringen wollte; das Gedicht „Waldweg“ kann das gut veranschaulichen. Storm schrieb es um 1850 und verarbeitete darin Erlebnisse seiner Jugendzeit, als er sich in der Umgebung von Westermühlen bei Rendsburg aufhielt, von wo sein Vater stammt und wo der Großvater eine Mühle besaß. Wir wissen das aus einem Brief, den Storm im November 1854 an den ebenfalls verehrten Eduard Mörike schrieb, und in dem er den Erinnerungswert dieser Verse beschreibt2: „ich habe versucht, in ihnen ein Stück meines wärmsten Jugendsonnenscheines einzufangen.“

Storm hat sich bei seinen literarischen Versuchen zunächst an berühmten Vorbildern wie Eichendorff und Mörike orientiert; später dann, als er eine eigene Sprache gefunden hatte, war er selbstbewußt genug, um sich als Lyriker in eine Reihe mit diesen Dichtern zu stellen. In der Tischrede zu seinem 70. Geburtstag sagte der greise Dichter 1887 von sich selbst3:

 

[...] obgleich die Welt es noch jetzt kaum weiß: daß ich zu jenen wenigen Lyrikern gehöre, die die neue deutsche Literatur besitzt: zu unserm alten Asmus Claudius, und Göthe, zu Uhland und Eichendorff, Heinrich Heine und Eduard Mörike.

 

Das ist ein sehr hoher Anspruch, dem viele zeitgenössischen Literaturkritiker widersprochen hätten; kein Geringerer aber als Theodor Fontane hat ihm darin zugestimmt. In seiner Autobiographie „Von Zwanzig bis Dreißig“ schreibt er in dem Storm gewidmeten Kapitel4: „Als Lyriker ist er, das Mindeste zu sagen, unter den drei, vier Besten, die nach Goethe kommen.“

Die Gefühle und Stimmungen, die sich beim Lesen poetischer Gedichte bei Storm einstellen, haben für ihn die selbe Qualität wie jene Empfindungen, die ihn zu eigenen Dichtungen anregen. Der junge Storm orientiert sich an solchen Gedichten, bei deren Lektüre er sich in eine für ihn bedeutsame Stimmung versetzt fühlen kann; dafür findet er im Werk von Eichendorff eine Fülle von Beispielen. Und da er nicht nur in seiner Lyrik von gefühlsbetonten Situationen ausgeht, sondern da auch seine Novellistik, die nach einem Selbstzeugnis aus seiner Lyrik erwachsen ist, mit der Darstellung von stimmungsgeladenen Szenen beginnt, bleiben ihm die Werke des schlesischen Poeten lebenslanges Vorbild. Dass er später seinen eigenen Stil findet und die realistische Erzähltechnik zur Meisterschaft entwickelt, hindert ihn nicht daran, seinem Vorbild bis ins hohe Alter Dankbarkeit zu erweisen.

1841 erwarb Storm die erste Gesamtausgabe der Werke Eichendorffs5; diese Bände haben ihn endgültig mit der Fülle der Lyrik und Erzählkunst des Romantikers vertraut werden lassen.

Storm beobachtet sehr genau, wenn er schreibt6:

 

In Eichendorff's improvisierten Liedern ist überdies die in dieser ganzen lieblichen Poesie der Verschollenheit herschende Grundstimmung zu mächtig, um ein bestimmtes einzelnens Gefühl zur Geltung kommen zu lassen.

 

Damit kennzeichnet er treffend die Vielschichtigkeit der lyrischen Bilder des verehrten Dichters; sie lassen weder eine erstrangige rationale Deutung zu, noch sprechen sie in allen Lesern gleiche Stimmungsebenen an.

Auch Storm erwarb seine lyrische Meisterschaft dadurch, daß er in seinen Gedichten Gefühle und Stimmungen poetische gestaltete; selbst in seinen politischen Gedichten bleibt er diesem Konzept weitgehend treu. In „Waldweg“ folgt er der Tradition, in der die Mittagszeit bereits häufiger als eine dämonische Tageszeit beschrieben wurde; auch Eichendorff schrieb 1837 ein Gedicht „Mittagsruh“, in dem er eine solche Verknüpfung herstellt. Storm hat es im ersten Band seiner Eichendorff-Ausgabe gelesen7.

 

Storm vermag es in seinem Gedicht, das Individuelle der Emfpindung von Einsamkeit so verallgemeinert darzustellen, daß beim sensiblen Leser das Gefühl entstehen kann, er habe diese Empfindung selbst erlebt; zumindest kann er sie vorstellungsmäßig nachempfinden. Das aber macht die Wirkung des Gedichts aus, das bis heute nichts an Unmittelbarkeit der Aussage eingebüßt hat.

 

Anmerkungen

1 Theodor Storm – Constanze Esmarch Briefwechsel (1844-1846). Kritische Ausgabe. 2 Bde. Hg. von Regina Fasold, Band II. Berlin 2002 (Brief vom 13. Juni 1846).

2 Theodor Storm – Eduard Mörike. Theodor Storm – Margarethe Mörike. Briefwechsel. Hg. von Hildburg und Werner Kohlschmidt. Berlin 1978, S. 50.

3 Theodor Storm. Entwürfe einer Tischrede zum siebzigsten Geburtstag. In: Werke Bd. 4, hrg. von D. Lohmeier, Frankfurt am Main 1988, S. 489.

4 Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographische Schriften. Bd. II, hg. von Peter Goldammer. Berlin 1982, S. 224.

5 Joseph Freiherr von Eichendorff: Werke. 4 Theile. Berlin 1841.

6 Vorwort zu „Deutsche Liebeslieder seit Johann  Christian Günther, Werke Bd. 4, hg. von D. Lohmeier, Frankfurt am Main 1988, S. 381.

7 Joseph Freiherr von Eichendorff: Werke. Erster Theil. Gedichte, S. 35.

 

 

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