Aus Schleswig-Holstein

(vom 30. Juli)

 

Die Banner hoch! die weiße Nessel!

Und hoch das blaue Löwenpaar!

Sie sind des Hauses heilig Zeichen

Und unverletzlich immerdar.

 

Und wo wir festlich uns vereinen,

Die blauen Löwen halten Wacht;

Zu Kränzen winden wir die Nessel

In unsrer Buchen Blätterpracht.

 

Doch tret getrost auf unsre Schwelle,

Wer uns vertraut und wer getreu;

Nicht brennen wird die weiße Nessel

Und brüllen nicht der blaue Leu.

 

Das Banner hoch! daß Sonnenleuchten

In seine freien Schwingen fällt;

Und daß es rauschend sich entfalte

Und sichtbarlich vor aller Welt.

 

Vereinigt noch durch manch' Jahrhundert

Soll das Geschwisterwappen wehn -

Das Banner hoch! damit wir fühlen,

Daß wir auf eigner Erde stehn.

 

 

Mit diesen markigen Worten reagierte der junge Theodor Storm, seines Zeichens Advokat mit allergnädigster Bestallung des Dänischen Königs auf ein Reskript seines höchsten Dienstherrn, Christian VIII., vom 28. Juli 1845, in dem dieser schreibt (Chronologische Sammlung der im Jahre  1845 ergangenen Verordnungen und Verfügungen für die Herzogtümer Schleswig und Holstein, Kiel 1846, S. 264f.):

 

Es ist zu Unserer Kunde gekommen, daß die sogenannten Liedertafeln und Singvereine in den Herzogtümern Schleswig und Holstein eine dreifarbige Fahne benutzen und daß bei öffentlichen Gelegenheiten [...] ähnliche Fahnen mit oder ohne die vereinigten Wappenschilde der Herzogtümer Schleswig und Holstein angewandt werden. Indem solche Fahnen und Embleme als Kennzeichen einer politischen Partei anzusehen sind und zu Unordnung Anlaß geben können, verbieten wir den Gebrauch dergleichen Fahnen.

 

Die im Stile eines Korrespondentenmeldung überschriebene Reaktion Storms lässt an Deutlichkeit der Parteinahme für die nationale Sache nichts zu wünschen übrig. Storm beschreibt die Fahne der schleswig-holsteinischen Unabhängigkeitsbewegung, die auf den Farben Blau-Weiß-Rot durch die vereinigten Wappen (weißes Nesselblatt für das Herzogtum Holstein und zwei blaue Löwen auf goldenem Grund für das Herzogtum Schleswig) die Forderung nach einem selbständigen Schleswig-Holstein als Mitglied des Deutschen Bundes symbolisiert.

Solche Töne erwartet der Leser eigentlich nicht von Theodor Storm; man mag bei diesen Worten an Gedichte der Vormärzlyriker oder des „Jungen Deutschland“ denken, aber Theodor Storm? Der Husumer Dichter wird viel eher mit biedermeierlicher Idylle, lyrischer Natur- und Landschaftsschilderungen in Verbindung gebracht als mit solchen auf tagespolitische Aktivitäten zielenden kämpferischen Verse.

Aber täuschen wir uns nicht; Theodor Storm ist in allen Phasen seines aktiven Lebens Zeitgenosse und Chronist der jeweiligen bedeutsamen Ereignisse des deutschsprachigen Kulturraums gewesen. So nimmt es nicht Wunder, daß er auch zu Fragen der politischen Zukunft seiner Heimat Stellung bezogen hat. Allerdings tat er dies anders als diejenigen seiner Zeitgenossen, die uns als politische Dichter in Erinnerung geblieben sind, anders zum Beispiel als der 1817 – im gleichen Jahr wie Storm – geborene Georg Herwegh.

1841 erschienen die „Gedichte eines Lebendigen“, deren revolutionären Gesänge Herweghs Anhänger begeisterten; Herwegh verstand es meisterhaft, seine politischen Ideen durch zündende Rhythmen und rhetorische Effekte zu verbreiten und damit das leidenschaftliche Pathos seines sozialen Engagements in angemessene poetische Form zu gießen. Auch Storm las Herweghs Gedichte (in seiner Bibliothek stand die dritte Auflage der revolutionären Schrift von 1843) und ließ sich zu eigenen, ähnlichen Produkten anregen. Anders aber als bei Herwegh bildete das direkte tagespolitische Engagement bei Storm die Ausnahme, blieben Äußerungen zur „Deutschen Frage“ Beiwerk und Randerscheinung der poetischen Produktion.

Die „Deutsche Frage“, so nannte man im 19. Jahrhundert das Problem der territorialen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisation der bis 1806 im Heiligen Römischen Reich verbundenen Territorien. Diese Frage war bestimmt durch innerdeutsche Gegensätze und durch divergierende Interessen der europäischen Mächtebeziehungen.

Mit der bürgerlichen Revolution von 1848 begann ein Ringen um die Klein- oder Großdeutsche Lösung, da sich der Dualismus zwischen Preußen und Österreich immer mehr zuspitzte. Dem Königreich Preußen als stärkster Militär- und Wirtschaftsmacht gelang es, in drei Kriegen seit 1864 die Deutsche Frage im unvollendeten Nationalstaat des Deutschen Reiches von 1871 vorläufig zu lösen.

Die drei Jahrzehnte zwischen der beginnenden Zuspitzung dieser Frage Mitte der vierziger Jahre und ihrer Lösung zu Beginn des siebten Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts bildeten für Theodor Storm die Mitte seines Lebens; es war der Abschnitt seiner höchsten Leistungskraft zwischen Dreißig und Sechzig. Auch wenn Storm nicht als politischer Dichter wie Heine, Herwegh und Freiligrath bezeichnet werden kann, so hat er die für ihn als Schleswig-Holsteiner besonders nahe erlebten Konflikte nicht bloß mit engagierter Anteilnahme verfolgt, war nicht nur durch das mehr als ein Jahrzehnt dauernde Exil besonders betroffen, diese Frage spiegelt sich auch in Storms Literatur vielfältig wieder und hat in der Lyrik aber auch in seinem erzählerischen Werk tiefe Spuren hinterlassen. Der Meister des lyrischen Gedichts und der Erzähler der stillen poetischen Situation, so kann man das Werk des „frühen“ Storm durchaus charakterisieren, greift immer wieder Fragen der Tagesaktualität auf, denn Storms pflegte die ihn betreffenden politischen und sozialen Veränderungen genau zu verfolgen, und war weit davon entfernt, die gesellschaftspolitischen Probleme seiner Zeit aus der Poesie zu verdrängen; die Spuren dieser Wirklichkeitswahrnehmung haben in seinem Werk lediglich einen anderen Stellenwert als bei den „politischen“ Dichtern.

Die Herzogtümer Schleswig und Holstein gehörten seit 1773 zur dänischen Monarchie; dem deutschen Bund trat das Herzogtum Schleswig, das in Personalunion mit der Dänischen Krone verbunden war, 1815 bei der Neuordnung Europas nach dem Ende der Napoleonischen Ära nicht bei. Die besondere politische Lage am Rande Deutschlands zwischen Mitteleuropa und Skandinavien hatte zunächst keine Auswirkungen auf die kulturellen Beziehungen der deutschsprachigen Bewohner des Herzogtums, die traditionell nach Süden und Osten ausgerichtet waren. So konnte sich Storm als geborener Däne durchaus „deutsch“ fühlen und die kulturellen Traditionen seiner Muttersprache ungehindert aufnehmen.

Storm hatte sich seit dem großen Volksfest der Nordfriesen in Bredstedt im Juni 1844 für die politische Bewegung engagiert; im weiteren Verlauf zeigte sich im Süden wie im Norden der geographisch nicht eindeutig verlaufenden dänisch-deutschen Sprachgrenze eine zunehmende Radikalisierung der nationalen Ziele; die Forderung nach nationaler Eigenständigkeit gegenüber Dänemark stand eiderdänischen Bestrebungen entgegen, die auf Integration des Herzogtums Schleswig in den dänischen Gesamtstaat zielten.

Storms engagierte sich vor allem, weil er für den Bestand der deutschen Sprache fürchtete. Zugleich sah er - ganz in der Tradition der Aufklärung - als Ursache für das Scheitern der nationalen Bewegung in ganz Deutschland das Versagen des Adels, dessen gesellschaftliche Privilegien er ablehnte und dessen herrischen Lebensstil und arrogante Selbstdarstellung er zutiefst verabscheute. Der Bürger Storm wollte in einem von bürgerlichen Demokraten regierten Gemeinwesen leben, in dem die deutsche Sprache frei zur kulturellen Entfaltung kommen konnte. Gerade das aber wurde nach der Restauration der alten Mächte in Schleswig-Holstein immer unmöglicher.

 

 

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