Die Stadt

 

Am grauen Strand, am grauen Meer

Und seitab liegt die Stadt;

Der Nebel drückt die Dächer schwer,

Und durch die Stille braust das Meer

Eintönig um die Stadt.

 

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai

Kein Vogel ohne Unterlaß;

Die Wandergans mit hartem Schrei

Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,

Am Strande weht das Gras.

 

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,

Du graue Stadt am Meer;

Der Jugend Zauber für und für

Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,

Du graue Stadt am Meer.

 

 

Eine so enge Verknüpfung des Images einer Stadt mit einem Gedicht gibt es in ganz Deutschland nicht ein zweites Mal. Husum ist in der Vorstellung vieler Besucher der Küste Nordfrieslands die „graue Stadt am Meer“. Dabei ist die Stadt nicht immer grau, sondern zumeist licht und freundlich, vor allem im Sommerhalbjahr, denn durch ihre Lage zwischen dem 54. und 55. Breitengrad kann man im Juni etwas von der Mittsommernacht ahnen, wenn im Norden selbst nach 11 Uhr abends noch ein heller Lichtschein zu sehen ist.

Zu Beginn der 1867 geschriebenen Novelle „In St. Jürgen“ beschreibt Storm seine Vaterstadt so:

 

Es ist nur ein schmuckloses Städtchen, meine Vaterstadt; sie liegt in einer baumlosen Küstenebene und ihrer Häuser sind alt und finster. Dennoch habe ich sie immer für einen angenehmen Ort gehalten, und zwei den Menschen heilige Vögel scheinen diese Meinung zu teilen. Bei hoher Sommerluft schweben fortwährend Störche über der Stadt, die ihre Nester unten auf den Dächern haben; und wenn im April die ersten Lüfte aus dem Süden wehen, so bringen sie gewiß die Schwalben mit, und ein Nachbar sagt's dem anderen, daß sie gekommen sind.

 

Das klingt weniger hart und rau als die Beschreibung der Stadt im Gedicht, und auch in anderen Belegen finden wir ein abweichendes Bild, das der Dichter von seiner Heimatsstadt zeichnet.

In einem Brief an die österreichische Schriftstellerin Ada Christen vom 2. März 1873 beschreibt Storm seine Jugend folgendermaßen:

 

Die Stadt liegt in der Nähe der Nordsee, an der einen Seite strecken sich die ungeheuren Wiesenflächen der Marschen, an der andern waren in meiner Jugend noch ziemlich große, jetzt zum Theil urbar gemachte Haiden.

[...] Gern durchstreifte ich namentlich die Haiden, der Weg zum elterlichen Pfarrhause eines Schulfreundes führte über eine solche und wurde oft gemacht. Die Stadt trug derzeit noch ein ziemlich alterthümliches Gepräge, viele Häuser noch mit Treppengiebeln, wie solcherweise noch das alte St.-Jügenstift steht. In dem dicht neben der Stadt liegenden alten herzoglichen Schloß war der große Rittersaal voll lebensgroßer Fürsten-, Ritter- und Edelfrauen-Bilder. Dies Alles wirkte auf mich ein, [...].

 

Als Hans Theodor Woldsen Storm am 14. September 1817 in Husum geboren wurde, gehörte das Herzogtum Schleswig zum Dänischen Gesamtstaat; die kleine Hafenstadt an der Nordsee lag in provinzieller Abgeschiedenheit am Rande des deutschen Kulturraums; der ökonomische Niedergang nach der großen Sturmflut von 1634“war überall zu spüren, nicht nur die Marienkirche, die 1808 abgerissen wurde, sondern auch eine Reihe im 19. Jahrhundert niedergelegter großer Patrizierhäuser zeugen davon. Dieser Niedergang wurde in den zwanziger Jahren durch einen rapiden Verfall der Getreidepreise noch verstärkt, der schließlich auch zu einer Umstrukturierung der Landwirtschaft in Nordfriesland und auf der Halbinsel Eiderstedt führte. Die abseitige geographische Lage und die Verlagerung der bedeutenden Handelswege mit der beginnenden Industrialisierung taten ein übriges, so dass man in Husum von einer Verarmung des geistigen und kulturellen Lebens sprechen kann, die Storms Vater dazu bestimmte, den Fähigkeiten der bis in die Reformationszeit zurückreichenden Husumer Gelehrtenschule, seinen Sohn auf ein Studium vorzubereiten, wenig zu trauen.

Für die Entwicklung des jungen Theodors hatte diese Randlage aber auch ihr Positives; da gab es wenig Zwänge, die den Jungen in der Entfaltung seiner Phantasiekräfte einschränkten; keine Standesschranken hinderten ihn, Kontakte zu allen sozialen Schichten in seiner Vaterstadt zu knüpfen. Storm nutzte diese Freiheiten nach Kräften und entwickelte eine gesundes seelisches Gleichgewicht und die erforderliche Portion Selbstbewusstsein, die es ihm erleichterten, außerhalb der Geborgenheit von Heimat und Familie neue Impulse aufzunehmen und mit den früheren Erfahrungen zu assimilieren.

Die Familie, die Landschaft und die altertümliche Stadt haben sich bei dem phantasievollen Knaben eingeprägt; ein Hang zum Geschichtenerzählen und zum Unheimlichen ist ihm ein Leben lang zur zweiten Natur geworden.

Storm hat sein wohl bekanntestes Gedicht 1851 geschrieben, zu einer Zeit, als er sich auf dem Höhepunkt seiner lyrischen Fähigkeiten befand.

 

 

zurück zum Titelbild