Komm, laß uns spielen

 

Wie bald des Sommers holdes Fest verging!

Rauh weht der Herbst; wird's denn auch Frühling wieder?

 

Da fällt einer bleicher Sonnenstrahl hernieder -

Komm, laß uns spielen, weißer Schmetterling!

 

Ach keine Nelke, keine Rose mehr;

Am Himmel fährt ein Kalt Gewölk daher!

 

Weh, wie so bald des Sommers Lust verging -

O komm! Wo bist du, weißer Schmetterling?

 

 

Bisher nahm man an, Storms Gedicht „Komm, laß uns spielen“ sei erstmals 1885 in der 7. Auflage seiner „Gedichte“ gedruckt worden.1 Im Storm-Archiv befindet sich aber ein früherer Zeitschriftenabdruck, der der Forschung bisher entgangen war. Storm hat dieses Gedicht nämlich bereits 1882 unter dem Titel „Herbststimmung“ im Deutschen Familienblatt2 abdrucken lassen.

Das Gedicht schrieb Storm in der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober 1881 nieder, als er sich zu Besuch bei seiner Tochter Lisbeth in Heiligenhafen aufhielt. Sie war dort seit 1879 mit dem Pastor Gustav Haase verheiratet.

In sein Tagebuch notierte er3: „Dieß mal gab es die Nacht, da ich von Herzklopfen erwacht war. Im Zimmer trübes Mondlicht; draußen Regenschlag und Sturm.“ Es folgt das achtzeilige Gedicht ohne Überschrift; außer dieser Handschrift befindet sich im Storm-Nachlass noch ein Einzelblatt mit einem veränderten Gedichttext; diese Reinschrift von Storms Hand ist überschrieben „An Sie, die es allein versteht. (Do)

Der Herausgeber der ersten kritischen Storm-Ausgabe, Albert Köster, schloss aus dieser Überschrift, dass Storm durch einen Traum zu dem Gedicht angeregt worden sei, in dem ihm Dorothea erschien, von der er durch seinen Besuch im Hause seiner Kinder getrennt war. Dass ihm die Trennung von seiner Frau nicht angenehm war, können wir auch aus einem weiteren Gedicht schließen, das Storm am 8. Oktober, dem Tag der Rückreise, notiert hat4:

 

Reisetag

 

Ein langer Tag; doch labend

Daheim die Ruh,

Und zwischen Nacht und Abend

Geliebte, du!

 

Eine weitere handschriftliche Fassung findet sich in einem Brief an Wilhelm Petersen, den Storm am 12. Oktober 1881 nach seiner Rückkehr nach Hademarschen schrieb5. Petersen hatte dem Freund ein Gedicht mit der Bitte um Korrektur übersandt; Storm schickte es zurück und stellte sein eigenes Gedicht an den Anfang des Briefes; den er folgendermaßen einleitete: „Also, lieber Freund, damit Sie doch nicht allein in Sch<leswig->Holstein Verse machen: [es folgt das Gedicht].

Die jetzt wiedergefundene Erstveröffentlichung weicht von den anderen bekannten Fassungen zwar nur geringfügig ab, sie soll aber Anlass sein, auf die Sorgfalt aufmerksam zu machen, mit der Storm an seinen literarischen Werken wieder und wieder feilte. Denn der Dichter änderte nicht nur bei seinen Erzählungen in einem längeren Arbeitsprozess den Text immer wieder, sondern er wendete eine ganz ähnliche Arbeitsmethode auch bei seinen Gedichten an.

Vergleicht man die drei handschriftlichen Fassungen des Gedichts, so wird deutlich, dass Storm die Reinschrift, die sich auf dem Einzelblatt erhalten hat, unmittelbar nach der Niederschrift am 6. Oktober und vor dem Brief an Petersen (12. Oktober) hergestellt hat. Storm hat anschließend, aber bevor er an Petersen schrieb, die erste Niederschrift im Tagebuch dazu benutzt, am Gedicht zu feilen, denn diese Handschrift weist eine Reihe von Veränderungen und Varianten auf. Die Fassung im Brief an Petersen zeigt uns den Zustand des Gedichts am Ende dieses Bearbeitungsprozesses. Als Storm das Gedicht 1882 an das „Deutsche Familienblatt“ zu Veröffentlichung schickte, hatte er es an zwei Stellen erneut geändert; die zweite Zeile beginnt in allen handschriftlichen Fassungen „Es kommt der Herbst“, was Storm zu „Rauh weht der Herbst“ verändert; und die in der 5. Zeile erwähnte „Nelke“ war in den Handschriften noch eine „Lilie“.

Als Storm sich entschloss, das Gedicht in die 7. Auflage seiner „Gedichte“ aufzunehmen, feilte er noch einmal am Text; nun versah er sein kleines Werk mit der Überschrift „Komm, laß uns spielen“ und schrieb erneut zwei Stellen um; in der 3. Zeile ändert er „ein letzter Sonnenstrahl“ in „ein bleicher Sonnenstrahl“ und in der 6. Zeile stellte er die Satzglieder um „Am Himmel fährt ein kalt Gewölk daher!“. Die erste Änderung finden wir bereits unter den Varianten zur ersten Niederschrift im Tagebuch, die zweite ist erst nach der Veröffentlichung im „Deutschen Familienblatt“ vorgenommen worden.

Für die Leser des Erstdrucks war die poetische Botschaft eindeutig: Der Dichter beschreibt die resignative Stimmung, die uns im Herbst so oft befällt, wenn wir spüren, dass der Sommer vergangen ist und der Frühling in weiter Vergangenheit liegt. Die Feste des Sommers sind vorüber, es gibt keine Blumen mehr, keine Lust; auch die Schmetterlinge - früher sinnreich auch „Sommervögel“ genannt - sind verschwunden. Statt dessen rauer Herbst, bleicher Sonnenstrahl und kalt Gewölk. Das Gedicht enthält nichts Tröstliches als die Erinnerung an schönere Tage; in der ersten Strophe wird die bange Frage gestellt, ob es denn wieder Frühling werde. Und in der letzten Strophe kontrastiert der Dichter die schmerzliche Feststellung, dass des Sommers Lust verging mit dem sehnsuchtsvollen Ausruf: „O komm!“

So gelesen handelt es sich um eines jener Naturgedichte, in denen die Erfahrung der Jahreszeiten auf das menschliche Leben bezogen wird; Storm stellt sich in eine lange Tradition der Naturlyrik, für die der Herbst Metapher und Sinnbild von Vergänglichkeit des menschlichen Lebens ist.

 

Anmerkungen

1 So im Kommentar von Dieter Lohmeier in der kritischen Ausgabe der „Sämtlichen Werke“, hg. von K. E. Laage und D. Lohmeier (LL), Bd. 1, Frankfurt am Main 1988, S. 812; die dort zusammen getragenen Hinweise zur Entstehung des Gedichts wurden für diesen Beitrag dankbar benutzt.

Folgende Handschriften- und Druckfassungen sind überliefert:

H1: Storms Handschrift im Notizheft „Was der Tag gibt“ mit dem Datum „6.10.“1881. Storm-Nachlass, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel.

H2: Einzelblatt. Storm-Nachlass, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel.

H3: Theodor Storm an Wilhelm Petersen. Briefwechsel. Hg. v. Brian Coghlan. Berlin 1984, S. 110.

D1: Deutsches Familienblatt 3. Jg. 1882, S. 825.

D2: Theodor Storm: Gedichte. Berlin 71885, S. 91.

2 Das „Deutsche Familienblatt“ erschien seit 1879 im Verlag J. H. Schorer, Berlin; Storms Gedicht ist im 3. Jg. (1882) abgedruckt (S. 825).

3 „Was der Tag gibt“, Tagebuch Storms (Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel); vollständiger Abdruck in LL 4, S. 510ff.

4 LL 4, S. 517; von Storm nicht veröffentlicht. Eine Fassung mit der Überschrift „Rückfahrt“ aus dem Brief Storms an Paul Heyse vom 13.-17.10.1881 wurde in Bd. 8 der „Sämtlichen Werke“ 1898 veröffentlicht, dort unter dem Titel „Der Weg wie weit!“.

5 Theodor Storm an Wilhelm Petersen. Briefwechsel. Hg. v. Brian Coghlan. Berlin 1984, S. 110; vergl. auch S. 232ff.

 

 

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