Tiefe Schatten

 

In der Gruft bei den alten Särgen

Steht nun ein neuer Sarg,

Darin vor meiner Liebe

Sich das süßeste Antlitz barg.

 

Den schwarzen Deckel der Truhe

Verhängen die Kränze ganz;

Ein Kranz von Myrtenreisern,

Ein weißer Syringenkranz.

 

Was noch vor wenig Tagen

Im Wald die Sonne beschien,

Das duftet nun hier unten:

Maililien und Buchengrün.

 

Geschlossen sind die Steine,

Nur oben ein Gitterlein;

Es liegt die geliebte Tote

Verlassen und allein.

 

Vielleicht im Mondenlichte,

Wenn die Welt zur Ruhe ging,

Summt noch um die weißen Blüten

Ein dunkler Schmetterling.

 

Am 20. Mai 1865 starb Constanze Storm an den Folgen der Geburt ihres siebenten Kindes. Damit war eingetreten, was Theodor Storm – wie viele andere Ehemänner seiner Zeit – bei jeder Niederkunft befürchten musste. Der Tod seiner geliebten Frau stürzte den Dichter in die größte Krise seines Lebens. An einem der nächsten Tage bereits schrieb er das fünfstrophige Gedicht, in dem wir ein ergreifendes Zeugnis der unmittelbaren Erfahrung dieses Schicksalsschlages besitzen. Bis zum August 1865 folgten vier weitere Gedichte, in denen sich das tiefe Erschrecken und die Trostlosigkeit spiegeln, die Storm in eine Depression zu stürzen drohten. Storm fügte diese Gedichte später zu einem Zyklus zusammen, den er mit der gemeinsamen Überschrift „Tiefe Schatten“ versah. Thomas Mann bezeichnet sie in seinem Storm-Essay als „die durch dringendsten Trauer- und Abschiedsgedichte [...], welche wohl überhaupt die deutsche Lyrik aufzuweisen hat“.

 

In der unmittelbaren Todeserfahrung bleibt Storm zunächst nur das konventionelle Bild der Toten als der schlafenden Geliebten, wie er es aus der Tradition (z. B. Matthias Claudius: „Der Tod und das Mädchen“) kannte. Gruft, Sarg, schwarzer Deckel und Kränze, das sind die wenigen realistischen Details dieses idyllischen Stilllebens, dem kaum etwas von schauerlicher Friedhofsatmosphäre anhaftet. Vielmehr leitet Storm durch das Wort Kranz, das sowohl für den Grab- als auch den Hochzeitsschmuck stehen kann, auf gängige Frühlings- und Hochzeitsbilder über (Myrtenreiser, Syringenkranz, Maililien und Buchengrün) und verstärkt diesen Eindruck von blühender Lebendigkeit, indem er das lyrische Ich klagen lässt, das „süße Antlitz“ habe sich vor ihm bloß verborgen. Erst in der vierten Strophe scheint Leider fahrung durch: Hinter dem Gitterlein weiß es die geliebte Tote / Verlassen und allein. Ein dunkler Schmetterling in der letzten Zeile der fünften Strophe, der noch um die weißen Blüten summt, verweist wieder auf die Todeserfahrung des Dichters, der nicht von seinem Schmerz spricht, sondern nur von seiner unendlichen Liebe.

 

Storm neigt zur Reduktion der erfahrenen Wirklichkeit auf die Motive Vergänglichkeit und Sterblichkeit, die er in einer melancholisch-elegischen Grundstimmung gestaltet. Er bleibt dabei ganz sinnlich, keine Reflexion mischt sich ein, und damit entspricht dieser Text genau der Forderung, die sein Verfasser an ein vollendetes Gedicht gestellt hat.

In den folgenden Gedichten des Zyklus tritt an die Stelle der bloßen Sinnlichkeit die Reflexion. Der Tod der geliebten Frau entzieht Storm den Boden, auf dem sich in partnerschaftlicher Beziehung der Lebenssinn erfüllen könnte. Da ist auch keine tröstliche Hoffnung auf ein Wiedersehen im Jenseits; der Alleingebliebene ist auf sich selbst zurückgeworfen. Aber der Dichter stürzt nicht in den Abgrund, den Gefühl und Reflexion vor ihm aufgerissen haben; in einer ihm eigenen Fähigkeit zur Selbstheilung vollzieht sich in der aktiven Trauerarbeit eine Ablösung von der Geliebten. Und die künstlerischen Überhöhung seiner Empfindungen und Gefühle hilft Storm in dieser Krise, sich von Constanze zu verabschieden. Ein Jahr nach ihrem Tod heiratet er Dorothea Jensen. In sie hatte er sich schon kurze Zeit nach der Heirat mit Constanze leidenschaftlich verliebt, weil er - wie er später bekannte - ihren sinnlichen Reizen nicht widerstehen konnte.

 

Zuerst (gekürzt) veröffentlicht unter dem Titel „Unendliches Leid, unendliche Liebe“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 5. v. 06.01.1996. Wieder in: Frankfurter Anthologie. Neunzehnter Band. Frankfurt am Main 1996, S. 73-75.

 

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