Was Siegfried Jacobsohn in Husum erlebte

Am Donnerstag, dem 6. August 1914, 5 Tage nach Kriegseintritt des Deutschen Reichs, traf spät abends ein Gast in der Storm-Stadt ein, der hier nur eine Nacht und einen halben Tag verbringen sollte. Es handelte sich um den Theaterkritiker Siegfried Jacobsohn aus Berlin, Herausgeber der „Schaubühne“, jener legendären kulturpolitischen Zeitschrift, deren Spiritus Rector gerade dabei war, das Blatt in eine Wochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft und damit nach einem zeitgenössischen Urteil der „Hamburger Nachrichten“ zur „kritischen Bühne der Weltvorgänge“ zu profilieren.

Der Redakteur befand sich auf der unfreiwilligen Rückreise von der Insel Sylt nach Berlin, seinem Wohn- und Arbeitsort, den er vor sieben Wochen mit seinem Feriendomizil in Kampen vertauscht hatte. Mitten in der Sommerfrische erreichten ihn erste Informationen vom dramatischen Beginn jener Ereignisse, die bald die Welt erschüttern sollten und die ihm in seiner abgelegenen Idylle als „bedrohliche Nachrichten“ erschienen: Der Erste Weltkrieg hatte begonnen.

Siegfried Jacobsohn (1881-1926) war einer der bedeutenden Theaterkritiker im Deutschen Reich und gab seit September 1905 „Die Schaubühne“ heraus. Seit 1913 wurden in dem Blatt auch politische Fragen thematisiert. Im April 1918 wurde die Zeitschrift in „Die Weltbühne“ umbenannt und entwickelte sich zu einem auch international bekannten pazifistischen Forum der politischen Linken. Nach Jacobsohns frühem Tod übernahmen zunächst der langjährige Mitarbeiter Kurt Tucholsky und dann Carl von Ossietzky die Redaktion. Die „Weltbühne“ wurde 1933 verboten, Ossietzky von den Nazis ermordet.

Im 10. Jahrgang seiner Zeitschrift erschien vom 27. August bis 8. Oktober ein „Kriegstagebuch“ in sechs Folgen, dessen letzter Abschnitt den Aufenthalt in Husum beschreibt. Zwei Jahre später veröffentlichte Jacobsohn seine Schilderungen unter dem Titel „Die ersten Tage“ als selbstständiges Buch in der Reihe „Die Zeitbücher“ (Konstanz 1916).

Jacobsohn verbrachte die Sommermonate seit 1909 auf der Insel und wohnte bis Kriegsbeginn im Hause des Bauern Jürgen Kamp. Dort richtete er seine improvisierte Redaktion ein und arbeitete je nach Witterung am liebsten im Freien. Aus dieser Mischung von Arbeit und Erholung wurde Jacobsohn im Sommer 1914 jäh herausgerissen. Bereits am 5. August forderte ein Edikt der Militärverwaltung sämtliche Feriengäste auf, die Insel am nächsten Tage zu verlassen, da Sylt seit Kriegseintritt zum Sperrgebiet erklärt worden war.

Jacobsohn, der von der allgemeinen Mobilmachung als „dauernd untauglich für alle Waffengattungen“ verschont blieb, nimmt mit großem Erstaunen die Veränderungen wahr, die gerade mit vielen Deutschen vorgehen. Die Tageszeitungen kann er wegen ihrer „Breitmäuligkeit“ und „hemmungsloser Kriegsdemagogie“ nicht mehr auseinander halten. Freunde aus Berlin berichten über die dortige Kriegsbegeisterung, deren Ursachen sich Jacobsohn nur durch Massenhypnose, Massenstimmung und Massenmeinung erklären kann. Um sein positives Bild von den Landsleuten nicht revidieren zu müssen, klammert sich der Humanist an die unheroische Umdeutung der allgemeinen Zustimmung  in „Jubel aus Angst.“ Schon bald werden seine Erlebnisse auf der Rückreise nach Berlin diese Einschätzung bestätigen.

Noch glaubt Jacobsohn an die Vernunft und kleidet seine pazifistische Gesinnung in ein poetisches Bild: „Nun, meine Seele ist in Zweifel, ob sie gerade jetzt einen Aufschwung nehmen würde. Sie hat für ihre leuchtenden Stunden bisher wesentlich zarteren Anlass und Inhalt gehabt als einen Krieg Aller gegen Alle. Sie neigt dazu, eine Veredelung der Menschen erstrebenswerter zu finden als ihre schreckensvolle Verminderung.“

Gegen seinen Willen verlässt der Publizist am Donnerstagmorgen die Insel und setzt per Segelkutter ans Festland nach Hoyer-Schleuse über. Es ist kein Abschied für immer, denn nach Kriegende kehrte er nach Sylt zurück und erwarb das Reetdachhaus seines Gastgebers, um hier die Sommermonate mit seiner Familie zu verbringen. Sylt wurde in den Jahren bis zu Jacobsohns Tod 1926 Treffpunkt bedeutender Politiker und Künstler der Weimarer Republik. Unter seinen Gästen war auch Thomas Mann, der die Insel 1921 besuchte und wie viele andere Besucher auf die herbe Schönheit Sylts begeistert reagierte.

Im August 1914 heißt es aber zunächst einmal, dem Ferien-Idyll Ade zu sagen. Die Rückreise erweist  sich als schwieriger als gedacht. Der Zug fährt erst um 15.30 Uhr „kriegsfahrplanmäßig“ von  Hoyer in Richtung Hamburg ab; überall Stopps, Soldaten überfüllen die Coupés. In Tondern hat man einen unfreiwilligen zweistündigen Aufenthalt, den Jacobsohn zu einem Stadtrundgang nutzt. Häuser, Markt und Kirche erzählen von der besonderen Vergangenheit des Herzogtums Schleswig zwischen Dänemark und Deutschland, und der von der Sonne braun gebrannte Chronist sinniert darüber, dass die Stadt bald wieder dänisch werden könnte, aber Straßenjungen reißen ihn in die Gegenwart zurück: „Ein Neger! Guckt doch bloß den Neger an!“ Erwachsene beäugen den Fremden mit unverholenem Misstrauen.

 

Durch eine von den Zeitereignissen unberührte friedliche Landschaft geht die Reise schließlich weiter und man langt in um 23.30 Uhr in Husum an. Jacobsohn quartiert sich in einem Hotel an der Großstraße ein und beschließt, die kommenden Ereignisse mit größtmöglicher Gelassenheit zu ertragen.

Am nächsten Morgen steht unser Reisender schon früh um 6 Uhr auf, um die Stadt auf den Spuren Theodor Storms und seiner Werke zu erkunden. Zunächst aber geht er zum Hafen und lässt sich von freundlichen Arbeitern den Weg zur Badestelle beschreiben. Durch den Schlosspark, vorbei an Storms Denkmal, durch Wiesen und Äcker wandert er und badet in der Nordsee, wie er es in diesem Urlaub seit fünf Wochen gewohnt war.

Auf dem Rückweg zum Bahnhof fangen die unerwarteten Schwierigkeiten an. Eigentlich will er sich nur über eine Zugverbindung nach Hamburg erkundigen, aber er wird immer wieder als Spion verdächtigt; seine gedrungene Erscheinung (er maß nur 1,57 m), das volle Haar und die Sonnenbräune verleihen ihm das Aussehen eines Südländers. Er wird trotz seiner in Berliner Mundart vorgetragenen Proteste mal für einen russischen, mal für einen französischen Spion gehalten und just in jenem Augenblick, als er sich Storms Geburtshaus am Markt ansehen will, sogar von einer Militär-Patrouille verhaftet und in die Hinterstube einer Gastwirtschaft verschleppt. Da er keine Ausweispapiere bei sich hat, kann er sich nicht legitimieren. Jacobsohn nimmt es mit Humor und erklärt die Eilfertigkeit der Bürger und Soldaten mit dem ungewöhnlichen Tatendrang, vor dem Militär und Zivil geradezu fiebern. „Das Vaterland ist in Gefahr. [...] Sie wollen an den Feind. Sie haben gelobt, ihn in irgendeiner Gestalt zu fassen, und wärs in meiner.“

Diese Stimmung, die nicht nur in der Hauptstadt des Deutschen Reiches beobachtet werden konnte, sondern auch in der Provinz, spiegelte sich auch in den patriotischen Aufrufen der Lokalpresse. Am Montag, dem 3. August tönten die „Husumer Nachrichten“ zum Beispiel: „Im Vertrauen auf unsere gute Sache und gestützt auf unser starkes Schwert ziehen wir hinaus, um den Sieg auf unsere Fahnen zu heften. Heil den tapferen Streitern zu Lande und zu Wasser! Heil dem Kaiser! Heil dem Reich!“ Ähnliches konnte man im August 1914 in den Gazetten sämtlicher kriegsbeteiligter Länder lesen, aber die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten und gab den wenigen Skeptikern und Kritikern wie Jacobsohn nur allzu bald Recht.

In seinem Bericht hat der politische Beobachter nämlich eine Reihe kritischer Andeutungen eingeflochten, in denen er seine eigenen Tendenzen deutlich zum Ausdruck bringt. Nur zwei Jahre später – anlässlich der Buchausgabe seines Kriegstagebuchs – konnte der Verfasser über seine kleine journalistische Arbeit resümieren: „Sie scheint mir nicht wertlos als Dokument eines Menschen, der vom ersten Augenblick an seinen klaren Kopf behalten hat.“

In der ersten Augustwoche des Jahres 1914 aber waren solche nüchternen Einschätzungen der Weltlage die Ausnahme. Die meisten Menschen in den europäischen Kulturstaaten waren wie trunken von der allgemeinen Kriegsbegeisterung, die ansteckend wirkte und sogar den Kritiker für kurze Zeit in seiner anglophilien Grundhaltung erschütterte.

Jacobsohn, der sich auch einem Offizier gegenüber nicht legitimieren kann, lässt sich schließlich zum Stadtoberhaupt führen und ist überrascht: „Nie hätt' ich einer Stadt von achttausend Einwohnern einen solchen Bürgermeister zugetraut. Kultiviert, gescheit, verbindlich, heiter, jeder Zoll kein Bürokrat.“ Der so Gelobte war Dr. Georg Rose (1876-1921) aus Mecklenburg, Bürgermeister von Husum von 1909 bis 1920. Er leitete die Stadtverwaltung in den schweren Kriegs- und Nachkriegsjahren in kompetenter Zurückhaltung und ohne Aufsehen zu erregen.

Jacobsohn bittet ihn um eine Legitimation, die Dr. Rose in bestem Beamtendeutsch auch ausstellt: „Der Vorzeiger dieses: der Zeitschriftenverleger Siegfried Jacobsohn aus Berlin-Charlottenburg befindet sich auf der Reise von der Insel Sylt nach Hamburg. Gegen seine ungehinderte Weiterreise sind Bedenken nicht zu erheben. Die Polizeiverwaltung von Husum. Der Bürgermeister Dr. Rose.“

So ausgerüstet gelangt der Publizist (fast) unbehelligt auf den Bahnsteig und in den Zug nach Hamburg. Von dort aus kann er nach einem Tag Aufenthalt, den er nutzt, sich in der Hansestadt umzusehen seine Reise schließlich am Sonntag fortsetzen und trifft spät am Abend in Berlin ein.

Jacobsohns Husum-Bericht schließt mit folgenden Worten, die für den heutigen Leser, der den Hass des rechten Lagers gegen linke Pazifisten kennt, fast prophetische Züge tragen: „Immer wieder hatten Zivilisten, irrsinnig vor Angst um ihr Vaterland, die bewaffnete Macht auf mich gehetzt.“

 

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