Die Windsbraut

 

Immer, wenn ich den Besen aus der Gartenecke hole, lauert sie hinter dem Bretterzaun. Lege ich das Kehrblech bereit und fange an zu fegen, fährt sie um die Ecke und kieselt um mich herum. Kehre ich Blätter zusammen, reißt sie alles wieder auseinander. Manchmal scheint sie gut gelaunt. Dann nimmt sie alle trockenen Blätter von der Einfahrt und wirbelt sie zu einem Haufen, den ich bequem zusammenfegen kann. Aber nur, wenn sie eingeschlafen ist, denn sonst bläst sie alles wieder auseinander, und ich höre sie spöttisch lachen. Sie sitzt auch in den Bäumen an der Chaussee, von denen ich als Kind geglaubt habe, die Bewegungen ihrer Blätter, Zweige und Äste seien es, die den Wind erzeugen.

Man müsste die Windsbraut einfangen, denke ich und will mir einen Plan zurecht legen. Aber ich kann kein geeignetes Gefäß auftreiben, und Bannsprüche, wie weiland Theodor Storm sie kannte, fallen mir auch nicht ein.

 

Der allerdings hatte es mit Feuermann und Regentrude zu tun, der Wind stand nicht auf seiner Abschussliste. Auch der „Schimmelreiter“, den sich die Nordfriesen gerne als Nationalepos einverleiben, bringt mich nicht viel weiter. Will es Hauke Haien doch mit einem ausgewachsenen Orkan aufnehmen, der alle Hände voll zu tun hat, um Deich und Koog zu überfluten und nebenbei auch noch Frau, Kind und Hund zu ersäufen. Wer den Weltuntergang inszeniert, kann sich nicht auch noch um ein schmeichelndes Weib kümmern, und mag es noch so verführerisch tun. Mit dem Deichgrafen hat er freilich keine Mühe, weil der sich mit seinem Schimmel freiwillig in die Fluten stürzt.

Während der Orkan also über die Meere tobt und den Küstenländern Tod und Verderben bringt, saust die Windsbraut, sein feiner Schatz, über dem Festland als Wirbelwind der Wilden Jagd voran. Sie muss in alle Ewigkeit dahinbrausen - so sagt man, - weil sie keine Rücksicht nimmt, nicht auf die mächtigen Bäume im Wald, nicht auf die Tiere und auch nicht auf die bestellten Felder der Menschen. Überhaupt ist ihr alle Technik ein Graus und sie rüttelt und schüttelt an allem, was sich ihr in den Weg stellt. So reißt sie Schilder ab, wirft Baugerüste und Kräne um, schleudert auch mal ein ganzes Dach vom Haus; aber für die wirklich großen Katastrophen muss sie den Sturm rufen, ihren Herrn, der schon von Alters her als ihr Meister gilt und den sie mit ihren abgefeimten Künsten noch nie behexen konnte.

 

Jetzt hat sich der Wind gelegt, die Windsbraut scheint eingeschlafen. Ich sitze im Gras, atme den betörenden Duft der Wiesenkräuter ein und höre ein gaukelndes Kichern, das wie ein Schauer herabsinkt und meine Gedanken in eine andere Richtung lenkt.

 

Wieder kommt mir Storm in den Sinn und das Wortspiel, das seine Landsleute mit seinem Namen treiben, die ihn bis heute „Tetje Wind“ nennen. Die lieben es, Menschen nach ihren Tätigkeiten oder Schrullen zu benennen, wie zum Beispiel Peter Runtum, der vor fast 200 Jahren in Husum den Pfingst- und Michaelismarkt eintrommelte, oder Jochum Pingel, der die Klosterglocke im St. Jürgen-Stift „bingeln“ musste, und über den Storm folgende Spottverse mitgeteilt hat: „Jochum Pingel/ Treckt de Bingel/ För en Kringel/ Un en Snaps!“

Theodor Storm hat übrigens selber mit seinem Namen gespielt, so im Jahre 1845, als er in einem Brief aus Husum an Constanze Esmarch im fernen Segeberg das bekannte plattdeutsche Volkslied „Datt du min Leewsten bist“ abschrieb, in dem ein junges Mädchen ihren Freund auffordert, sie nachts heimlich in ihrer Schlafkammer zu besuchen. Der verliebte Dichter erklärte seiner Braut die anzüglichen Schlusszeilen „Klopp an de Kåmerdür/ Fat an de Klink,/ Vader meent, Moder meent,/ Dat deit de Wind“ folgendermaßen: „Mit diesem Ständchen gute Nacht; Du schläfst leider nicht allein, auch käm ich wohl nicht mehr zu Dir um Mitternacht, wenn ich nicht wircklich der Wind wäre; leider vermag hier der Storm nicht so viel als sein schwächerer Bruder. Nacht Dange, in Gedanken, die sind doch noch schneller als der Wind, und viel wärmer und treuer, mein süßes süßes Engelsköpfchen. -“

Theodor Storm war nicht der erste, der seinen Familiennamen für ein Wortspiel missbrauchte. Genau zehn Jahre vor diesem Brief machte ein anderer einen ähnlichen Witz auf Kosten des damals erst siebzehnjährigen Schülers. Das war, als er mit seinen Freunden im Herbst 1835 den Jahrmarkt in Süderstapel besuchte und am Dütjendanz teilnahm, bei dem der Tänzer seiner Partnerin am Schluss einen Kuss geben muss. Ein ärgerlicher Wirt reagierte auf Storms Bericht im „Ditmarser und Eiderstedter Boten“ mit der Polemik: man wolle sich den fremden Aufschneider „lieber unter der Benennung 'Sturm' denken, weil wir in seinem famösen Aufsatze überall den sturmähnlichen Wind deutlich genug vernehmen, ohne gerade zu wissen, von wannen er kömmt, und wohin er fährt.“

 

Der Wind fährt in die Markise des nahen Hauses, pfeift scharf und wirft den Sonnenschirm um. Ich lasse die Hexe ruhig Gift und Galle speien und erinnere mich an einen alten Spruch von der Westküste: „Auf Schiffen dürfen die Frauen nicht stricken, sonst stricken sie den Wind weg.“ Ich kann die Windsbraut zwar nicht zum Stricken zwingen, aber mir fallen Spottverse ein, mit denen ich sie wegscheuchen will: „      Mit Katzen, wer da ackern will/ Der spann’ die Mäus’ voraus,/ So geht es Alles wie ein Wind,/ So fängt die Katz’ die Maus.“

Es scheint zu funktionieren, denn sie lässt mich jetzt in Ruhe weiter phantasieren.

 

Storm und seine Schulkameraden trafen sich gelegentlich im Krug des nördlich von Husum gelegenen Hockensbüll und unternahmen Ausflüge zu Jahrmärkten in benachbarten Städten und Gemeinden. Wen wundert es, wenn die jungen Männer ihr Augenmerk bei Wein und Gesang auf die Dorfschönen ihrer Umgebung richteten? Man kann Storm wohl kaum vorwerfen, dass er von der Wirkung des schönen Geschlechts fasziniert war und über seine Erlebnisse Gedichte und kleine Prosastücke schrieb, bei denen er sich sogar an der Volksüberlieferung orientierte. Wind und Weib sind immer beliebte Themen der volksnahen Dichtung; hier ein plattdeutsches Beispiel, überschrieben „im Vorübergehen“: „Gret, fluddert di dat Band ok?/ Ja, Hans, wenn de Wind weit!“

 

Doch ich schweife ab und lasse mich viel zu sehr mit dem stürmenden und drängenden Storm ein, wo ich es doch mit der launigen Windsbraut zu tun habe, deren Gekicher mir plötzlich so schadenfroh erschein, wenn sie die Wetterfahne klirren lässt. Ich suche sie mit meinen Blicken, kann aber im Geflirrt des Spätnachmittags nichts erkennen. Bald schon bin ich mit meinen Gedanken wieder in dem weiten Land der Vergangenheit.

 

Storms Braut Constanze war keine von jenen raffinierten Frauen, die man mit einem unsteten Luftgespinst vergleichen kann. Insofern fehlt dem Storm-Wind in dieser Beziehung ein keckes Widerspiel. Aber nicht lange zuvor hat es ein Mädchen gegeben, das mit den stürmischen Anträgen ihres Liebhabers so umgegangen ist, wie es weiland Emanuel Geibel, der Dichterfürst aus Lübeck, in seiner Ballade „Die Windsbraut“ besang.

Da bezirzt ein schönes Burgfräulein allerlei Ritter und Edelknaben, versetzt ihre Herzen in Liebesglut und wünscht ihnen allen, sie mögen doch verderben und sterben! Auf die Vorhaltungen ihres Bruders erwidert sie trotzig: „Der Wind, der Wind, das Königskind,/ Soll eh' mein Buhle sein.“ Der unternehmungslustige Wind lässt sich das natürlich nicht zweimal sagen, saust des Nachts emsig durch die Burgfenster, schnappt sich die Übermütige – er ist ja gar kein Kind mehr, sondern beherrscht die Wälder und die Fluten des Meeres – und trägt seine zu Tode erschrockene neue Braut auf „langem luft'gen Arm mit Saus und Braus und Pfeifenklang“ rastlos hinaus ins trostlose Nirgendwo.

 

Da pustet mir wer frech ins Gesicht, dass mir die Haare zur Berge stehen. Als ich die Augen öffne, fliegt mir Sand hinein. Es wispert und knistert in der Luft und das Gartentor schlägt hart gegen sein Schloss. Ich verstehe: Sie möchte beachtet werden, ich aber wende mich ab und wische mir Sand und Tränen aus den Augen.

 

Mit einer solchen kalten Braut hatte es Storm auch einmal zu tun. Als er Ostern 1842 der 16jährigen Bertha von Buchan einen Heiratsantrag machte, wies die ihn ab. Angeblich verstand sie nicht, was er von ihr wollte. Dabei hatte der junge Student sich bereits sechs Jahre zuvor in das zehnjährige Kind verliebt, wie er später einer Tante gestand, und intensiv um das heranwachsende Mädchen geworben. Bertha wurde seine Muse und regte ihn zu einigen feurigen Liebesgedichten an, die bereits einen selbständigen Ton erkennen lassen. In dieser Zeit wurde die Leidenschaft zu Storms eigentlichem Problem. In einem Erzählgedicht brachte er dies zum Ausdruck. Aber anders als Freund Geibel, mit dem er 1837 im Balladendichten wetteiferte, wählte der meerverbundene Storm nicht das Motiv der Windsbraut, sondern er sang von der Wasserfrau oder Nixe, mit der er sein geliebtes „Lockenköpfchen“ vergleicht. „Ein Arm so weiß,/ So kalt wie Eis/ Hat bald den Knaben umschlungen.“ Hier spricht ein Mann von seiner Angst vor der Verführung durch die elementare weibliche Macht, deren Sexualität er nicht beherrscht.

Die Ballade ist also eine Liebeserklärung an Bertha, in der Storm seine eigenen Ängste thematisiert und sich mit der Problematik auseinandersetzt, dass sein Gegenüber sein Anliegen eigentlich noch gar nicht verstehen kann. „Lockenköpfchen ist die Nixe,/ Hält mich eben fest umschlungen,/ Augenbläue ist die Tiefe,/ Darin ich ihr nachgesprungen.“ Man spürt noch heute, dass es sich nicht um eine bloße unverbindliche Tändelei gehandelt haben kann, sondern dass Storm diesem Mädchen zeitweilig regelrecht verfallen gewesen sein muss. Darum hat er in seinen Gedichten und auch in einigen Prosaskizzen das noch nicht erwachsene Kind zur Frau stilisiert, auf die er seine sexuellen Wünsche projizieren konnte. „Busenwelle ist die Welle,/ Die mich willenlos beweget,/ Rosenlippe ist die Klippe,/ Die korallenreich sich hebet.“

Offenbar hat Bertha in Storm Begierden ausgelöst, die er nicht befriedigen durfte; die Beziehung war im Reich der Fantasie angesiedelt, so dass er zunächst den Anspruch auf das angebetete Mädchen in der Realität nicht einlösen musste. Im Umgang mit ihr zeigte er schickliche Zurückhaltung; ein Übriges tat die räumliche Distanz der beiden zwischen Hamburg und Kiel, die er nur durch seltene Besuche überwinden konnte, so dass der Verdacht einer unstatthaften Annäherung gar nicht erst aufkommen konnte. Trotzdem konnte die lange Trennung das Feuer nie auslöschen, das die Kindsbraut bei jedem Besuch in Storm von neuem anfachte.

 

Während ich mit den Worten spiele und gewagte Überlegungen miteinander kombiniere, mischt sich die Windsbraut direkt in meine Gedanken ein. „Von den grässlichen Wassernixen hätte er seine Hände lassen sollen!“, säuselt sie altklug und fügt gehässig hinzu: „Du siehst ja, was es ihm gebracht hat. Nichts als Verdruss!“ Der hässliche Ostwind ist aufgewacht  und lässt die Blätter tanzen. Ich rede in den Wind: Natürlich stören dich solche Gedanken, alte Hexe, weil du neidisch bist auf alle, die wirklich lieben können. Tanze und springe nur, du du wirst mich doch nicht aus meinen Tagträumen vertreiben, dafür sind sie viel zu süß!

Oskar Kokoschka, Die Windsbraut , 1913/14  (Kunstmuseum Basel

Bertha Zurückweisung stürzte den Studenten in eine tiefe Krise. „Der einst er seine junge/ Sonnige Liebe gebracht,/ Die hat ihn gehen heißen,/ Nicht weiter sein gedacht.“ Orientierungslos lief Storm bei Wind und Wetter durch Hamburg, spürte Bertha nach, wollte unerkannt bleiben, zeigte sich ihr dennoch in der Kirche und war tief enttäuscht, als sie auf seine Blicke nicht reagierte. Einem Schulfreund vertraute er sich an; er warf sich aufs Bett, litt unter Fieber und wollte Berthas Ablehnung partout nicht wahrhaben. An Theodor Mommsen schrieb er im Mai 1843: „Die Liebe zu diesem Kinde wird mein Leben noch schlimm verwüsten.“

Schritt für Schritt musste er erkennen, dass Bertha seine Liebe nicht erwiderte, dass sie seiner heißen Werbung gegenüber kalt blieb. Was blieb, waren sensible Liebesgedichte und ein paar wilde Verse: „Ein Dirnlein ist verloren,/ Gewonnen die andern all!“ Aber da pfeift einer im dunklen Keller, der Angst hat, denn die letzte Strophe dieses „Wilde Nacht“ überschriebenen Gedichts lautet: „Was immer die Lippe geschworen,/ Es stimmte das Herz nicht ein,/ Er hatte doch alles verloren/ in dem einzigen Mägdelein.“

Erst Anfang 1844 überwand Storm seine Depression, als er sich mit seiner Cousine Constanze Esmarch verlobte. Damit hatte er sich mit seinen erotischen Wünschen nun endgültig an eine erwachsene Frau gewandt, die es ihm schon bald ermöglichte, eine auch im sexuellen Bereich gleichberechtigte Beziehung zu entwickeln. Zwischen Husum und Segeberg flogen in den nächsten zwei Jahren hunderte von Liebesbriefen hin und her. Sie zeugen von stürmischer Lust und tiefem Leid dieser wirklich nicht unkomplizierten Beziehung. Theodor Storm kann endlich zu neuen Ufern aufbrechen, wenn auch zunächst nur in seiner poetischen Welt. Seine Lyrik gewinnt eine bisher nicht da gewesene Tiefe und Unmittelbarkeit der Empfindung. Gemeinsam mit seiner Geliebten will er nun den Naturgewalten die Stirn bieten, sich über die tiefe Todeseinsamkeit erheben und der Wolkenjagd droben trotzen. „Nur in den Schlünden schwatzte/ Der Wind durch Grabesruh,/ Und droben in der wilden Nacht/ Alleinzig ich und du!“

 

Jetzt klatschen mir die Zweige des Kirschlorbeers ins Gesicht, schon jault der Wind ums Haus, drohende Wolken sind aufgezogen, Regen hängt am Himmel. Dann wird es still – die Ruhe vor dem Sturm. Ich spüre es, sie lauert hinter der hohen Buchenhecke, aber ich packe mein Kehrzeug zusammen, gehe ins Haus und schließe Fenster und Türen. Ob sie will oder nicht, die Windsbraut muss draußen bleiben.

 

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