Theodor Heinrich Ludwig Schnorr

Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande und Abenteuer des Fräuleins Emilie von Bornau, verehlichte von Schmerbauch.

Frankfurt 1801

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[36] Wunderbare

Reisen

zu Wasser und zu Lande

und lustige Abenteuer

des

Fräuleins Emilie von Bornau,

verehlichte von Schmerbauch.

Von ihr selbst erzählt.

Mit Kupfern.|

 

 

[39] Acht Jahr nach dem Tode meiner Mutter wurde ich geboren und zwar auf die sonderbarste Art von der Welt.

Nun – das heiße ich doch eine Lüge! wird so mancher sagen: Aber es ist eben so wahr und kein Mensch wird mehr daran zweifeln, sobald ich die gehörige Erklärung darüber gebe. Ist doch so manches dem ersten Augenscheine nach zweifelhaft, und befindet sich, bei dem Lichte besehen, so klar als die Sonne.

Laut den Kirchenbüchern des Dorfs Bellingen im –schen wurde ich im Jahr 1768 geboren, und im Jahre 1760 starb meine Mutter. Wer im geringsten daran zweifelt, der darf nur von dem Pastor Loci gegen die Gebühr meinen Taufschein lösen

Dies begab sich nun auf folgende Weise:

Gewohnt täglich im Sause und Brause zu leben mit ihren Nachbaren denen Herren von Schafkopf, von Plundermilch und von Ohnehosen; ge-|[40]wohnt selbst in dem berühmten siebenjährigen Kriege so manchen Ritt mit den Herren Offizieren zu machen; gewohnt um die Wette alles mit ihnen zu tun, zu trinken, zu essen, zu jagen in allen Wäldern, selbst in denen der Liebe nicht aus genommen – höchst geschwächt durch so manche starke Durchzüge, aß sie eines Mittags zum Dessert – es galt eine Wette, die nicht mehr als funfzig Dukaten betrug, mit dem Herrn von Plundermilch, drei Stück Melonen, – sie waren eben das Jahr sehr gut geraten – wovon jede über zwei Pfund hatte, und trank dazu drei Bouteillen Acht und Vierziger.

Bei dem Genuss der letztern Melone und der letzten Bouteille bekam sie eine heftige Kolik und– sie wurde tot von der Tafel weggetragen, an welcher man so zum Übermaße geschwelgt und mit unter gesch–lt hatte. Sie blieb trotz aller Mittel – man hatte freilich damals deren noch nicht so viele als jetzt, – die man anwandte, sie ins Leben zu bringen, ohne die geringste Bewegung. Zwei Ärzte, die sogleich von den nächsten Städten herbeigerufen wurden, wovon der eine selbst ihr Leibarzt war, erklärten sie für tot. „Frau von Bornau ist verloren. Sie ist vom Schlage gerührt“ – sagte der eine Aesculap, „und nun –| [41]

Zwey Bouteillen Acht und Vierziger her – auf eine fröhliche Urstedt!“

Die Bedienten brachten auf Befehl ihres Herrn deren sogleich sechs. Nicht zwei Stunden, so waren die Flaschen geleeret, und so gings im Gallop wieder zu ihrer Heimat.

Welchʼ ein Gewinsel, Gewehklage es im Dorfe Bellingen gab, als die Trauerklocke den Tod der gnädigen Frau ankündigte, – welch ein Gewimmel und Getümmel unter den ganzen Tross von männlichen und weiblichen Domestiken entstand – wie jämmerlich sich der gnädige Herr von Bornau, mein Vater hatte? – wer vermag das zu beschreiben? Alles war um ihn herum, ihn zu trösten, aber nichts vermochte die Tränenströme versiegen zu machen, die aus seinen dicken Augen hervorquollen. So sehr auch meine Mutter ihren Herrn Gemahl unter dem Pantoffel hatte; so gewiss jeder seine eigene Wege ging, und Vater oft in mehreren Wochen meine Mutter nicht anders sah als an der Tafel; so liebten sich doch weit und breit keine Eheleute zärtlicher. Und in den letztern Zeiten, wo einer des andern Laune gewohnt war, gab es kein friedlicheres Ehepaar in der ganzen Gegend.

Ihre Tugenden waren größer als ihre – Fehler.| [42]

Benjamin Schmolke, Cubach und – Gellert, den sie aber nicht so sehr schätzte, weil er ihr zu neu war, waren Morgens und Abends, nachdem sie sich gehörig *)  geschwaltet hatte, ihre Erbauungsbücher – ob sie gleich den übrigen Teil des Tages mit keinem Gedanken wieder an das dachte, was oder warum sie gebetet hatte.

–––

*) Man sehe D. Justi Gesenii Catechismusfragen Seite 256.

,,Der Morgensegen“. „Das walte“ wovon jenes Wort seinen Ursprung hat.

 

Bellingen: Schloss Bellingen ist ein 1590 erbautes Herrenhaus der Freiherren von Andlau im heutigen Bad Bellingen (Landkreis Lörrach), das von der Gemeinde Bad Bellingen als Rathaus genutzt wird.

 

Imp.Caes. Carolo VI - Provincia Brisgola (1718).  In Maior Atlas Scholasticus. Mappis Homannianis. Frankfurt am Main 1788.

Die Habsburger hatten bereits im 11. Jahrhundert bedeutende Besitztümer in Bellingen und konnten nach dem Aussterben der Zähringer (1218) hier auch die Landesherrschaft erlangen. Die Habsburger belehnten die Herren von Butenheim mit der Herrschaft Butenheim, die aus Bellingen, Butenheim, Homburg und Kleinlandau bestand. 1337 verpfändete der österreichische Landvogt die Herrschaft an Friedrich vom Haus[2] Dessen Sohn Hans Ulrich vom Haus wurde 1365 Pfandherr und 1401 Lehensherr der Herrschaft. Es wird angenommen, dass dieser Hans Ulrich Ende des 14. Jahrhunderts Bellingen mit einem Graben und einer Mauer umgeben hat. Mit seinem Vetter Hartung vom Haus starb dieses Geschlecht in der männlichen Linie aus. Hartungs Schwiegersohn, Walter von Andlau, erhielt 1418 die Herrschaft Butenheim – und damit Bellingen – als Lehen von Katharina von Burgund. Die Herren von Andlau behielten dieses Lehen auch 1473/74 während der burgundischen Pfandherrschaft. 1805 ging die Landesherrschaft von den Habsburgern auf das Haus Baden über, während die Andlau ihre Besitzungen in Bellingen bis 1937 behielten.

 

Schloss Bellingen, heute Rathaus der Stadt Bad Bellingen

Es wird vermutet, dass auf dem Platz, auf dem heute das Schloss (Rathaus) steht, bereits im späten Mittelalter ein Vorgängerbau gestanden hat, da Mauerreste aus dem 14. Jahrhundert gefunden wurden, die aber auch von einer Befestigungsmauer um den Ort stammen könnten. Die Herren von Andlau verwalteten Bellingen vermutlich zunächst von ihrer Burg Butenheim aus. Die Seitenlinie Andlau-Homburg-Bellingen lebte ab 1527 zeitweise in Bellingen und errichtete dort 1590 das Schloss, das im 18., 19. und 20. Jahrhundert mehrmals baulich stark verändert wurde. Seit 1789 wurde das Schloss durch die von Andlau beständig bewohnt. Es handelt sich um einen einfachen Bau mit zwei Geschossen und ausgebautem Dachgeschoss, der traufseitig zur Straße steht und dessen First von Süd-Südwest nach Nord-Nordost verläuft. Zehntscheuer und Ökonomiegebäude standen hinter dem Schloss zur Rheinseite gewandt.
Wikipedia

Pastor Loci: der örtlich Pastor

Herren von Schafkopf, von Plundermilch und von Ohnehosen: Schnorr parodiert die Namen der Adelsgeschlechter

fröhliche Urstedt: im 16. Jahrhundert verbreitete Grabinschrift „freliche Urstedt“, von mhd. urstende, urstente, erstende, bedeutet fröhliche Auferstehung.

 

Grabsteininschrift in der Seitenkapelle der Pfarrkirche zu Weiten im Bezirk Melk in Niederösterreich.

In: Das Donauländchen der kaiserl. königl. Patrimonialherrschaften im Viertel Obermannhartsberg in Niederösterreich. Geographisch und historisch beschrieben von Ant. Friedrich Keil. Wien 1885, S. 422.

Trauerklocke: alte Schreibweise von Glocke

Benjamin Schmolke: Benjamin Schmolck (Schmolke) (1672-1737) war ein deutscher Kirchenliederdichter des Barock.
Wikipedia

 

  

Einer gläubigen und andächtigen Seelen tägliches Bet- Buß- Lob- Und Danck-Opffer/ Das ist: Ein grosses vollkommenes Bet-Buch in allerley geistlichen und leiblichen/ gemeinen und sonderbahren Nöthen und Anliegen zu gebrauchen, Aus 100. bewährten Autoribus zusammen getragen [...]; Nebst zweyen Registern, anfangs heraus gegeben von Michael Cubach, Jetzo aber/ nicht allein durchgehends fleißig geändert und verbessert/ sondern auch mit einem Neuen Anhange [...] ingleichen eines [...] Hauß-Gebets Herrn M. Christian Scrivers sel. wie auch mit dessen Vorrede vermehret [...]. Leipzig, 1713.

Cubach: Michael Cubach (†1680), Buchdrucker und Buchhändler in Leipzig, der Herausgeber und teilweise Verfasser einer Sammlung von 1200 Gebeten unter dem Titel: Einer gläubigen und andächtigen Seelen tägliches Bet-, Buß-, Lob- und Dankopfer, […], welche zuerst 1616 in Leipzig und nachher sehr oft, zuletzt 1746, aufgelegt wurde.
Brockhaus Conversations-Lexikon 1837

 

Einer gläubigen und andächtigen Seelen tägliches Bet- Buß- Lob- Und Danck-Opffer/ Das ist: Ein grosses vollkommenes Bet-Buch in allerley geistlichen und leiblichen/ gemeinen und sonderbahren Nöthen und Anliegen zu gebrauchen, Aus 100. bewährten Autoribus zusammen getragen [...]; Nebst zweyen Registern, anfangs heraus gegeben von Michael Cubach, Jetzo aber/ nicht allein durchgehends fleißig geändert und verbessert/ sondern auch mit einem Neuen Anhange [...] ingleichen eines [...] Hauß-Gebets Herrn M. Christian Scrivers sel. wie auch mit dessen Vorrede vermehret [...]. Leipzig, 1713.

Gellert: Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769 war ein deutscher Dichter und Moralphilosoph der Aufklärung und galt zu Lebzeiten neben Christian Felix Weiße als meistgelesener deutscher Schriftsteller.
Wikipedia

 

Geistliche Oden und Lieder von C. F. Gellert. Leipzig, 1757.

D. Justi Gesenii Catechismusfragen: Justus Gesenius (1601-1673) war ein deutscher Theologe und Kirchenliederdichter.
Wikipedia

 

  

D. JUSTI GESENII Catechismus-Fragen, Uber Den Catechismum Des sel. Herrn D. MAETINI LUTHERI, Nebst Einem Auszuge der fürnehmsten Kern- und Macht-Sprüche Heiliger Schrift, Vermehret mit etlichen Gebetlein für die Jugend. WERNIGERODE, 1739.

geschwaltet: aus „Das walte“

Der Morgen-Segen.

Das walte GOtt Vater, Sohn und heiliger Geist, Amen.

ICh dancke dit mein himmlischer Vater , durch JEsum Christum, deinen lieben Sohn, daß du mich diese Nacht für allen Schaden und Gefahr behütet hast, und bitte dich, du wollest mir vergeben alle meine Sünde, wo ich Unrecht gethan habe, und mich diesen Tag auch behüten für Sünden und allen Ubel, daß dir al mein Thun und Leben gefalle. Denn ich befehle dich, mein Leib und Seele, und alles in deine Hände, dein heiliger Engel sey mit mir, daß der böse Feind keine Macht an mir finde, Amen.
Gessner 1558, S. 263

 

Sie hatte schon mehreremale Kanzel und Altar bekleidet. Zwei Anzüge, einer für die hohen Feste – schwarzer Samt mit reichen goldenen Fransen; und der andere für den Sonntag, roter Samt mit Gold, prangten zu ihrer Ehre in der Kirche zu Bellingen.

Sie tat dem Prediger und den Armen ihres Dorfes sehr viel Gutes. Kein feister Ochs wurde geschlachtet, kein Ohm Wein wurde ein gezogen, kein Weizen wurde gedroschen, der Pastor bekam den Dezem. Kein großes Gastmahl wurde gegeben – wenigstens alle Woche zweimal – und der Gewissensrat musste mit gegenwärtig sein. Dafür – tat er denn aber auch wieder ein Auge zu, wenn die Frau von Bornau ihr Beichtformular herbabbelte – oder| [43] wenn sie in seiner Predigt erschien, welche sie, wenn sie zu Hause war, nie versäumte.

Jeden Mittag konnte man gewiss zwanzig und mehrere Menschen mit Töpfen zählen, die in der Küche warteten, bis sie gefüllet wurden – wie sie denn auch alle Jahre eine gewisse Anzahl armer Kinder kleidete.

Das waren ihre Tugenden.

 

Der Verwalter Zahlmann wurde nun beordert alles Erforderliche zum Begräbnisse zu veranstalten, der denn seiner Seits geschäftig genug war, alles nach Stand und Würden auszuführen. Das Gewölbe, worin unsere Vorfahren, standen, in der gegen unserm Schlosser über liegenden Kirche wurde aufgemacht und Abends die hochadliche Leiche in einem Trauerwagen mit sechs Pferden bespannt, die bis auf die Erde mit schwarzem Tuche behangen waren, dahin ganz langsam abgefahren, und unter dem Geläute der Glocken und einer Trauermusik beigesetzt.

In dem Augenblicke, als der Verwalter Zahlmann die Türen verschließen will, hört der selbe ein dumpfes Geräusch und zugleich ein Angstgestöhne. Er horcht mit den übrigen Leichenbegleitern, die er aufmerksam darauf gemacht hatte. Anfangs kommt ihnen allen ein Schauder an.| [44] Aber sie horchen noch einmal und – mein Vater befiehlt, sogleich den Sarg wieder zu öffnen.

Was geschieht nun? Kaum ist der Sarg geöffnet; so erhebt sich meine Mutter darin, grüßt alle Anwesende mit schwacher Stimme und freundlichem Gesicht und frägt: Wo bin ich? Was soll das bedeuten?

Alles staunt bekreuzt und besegnet sich! und kann nicht antworten, weil man immer noch nicht recht wusste, ob dies nicht eine Spükerei wäre, die der leidige Teufel angerichtet hätte. Denn damals glaubte man noch, zur Ehre der Menschheit sei es gesagt, die Existenz dieses schwarzen Unwesens – und gerade solche Wirkungen seiner Macht. Endlich sieht sie auf alle Personen herum, die da gegenwärtig waren; besieht sich und sagt:

„Mein Gott! Man hat mich begraben wollen!“

 

 

Ja! meine Teure Ehehälfte! erwidert der Mann: Du warest seit gestern Mittag ohne alles Leben. Selbst die Ärzte hatten dich für tot erklärt. Jetzt werde ich denen Herren den Auftrag geben, ein Buch gegen das zu frühe Beerdigen der Toten zu schreiben, das gewiss zum Wohl der Menschheit gereichen soll. Und| [45] nun wollen wir zu Hause fahren und aus dem Trauerfest, soll ein Freudenfest werden – wie wohl er im Innern seines Herzens wünschte, sie hätte erst nach Mitternacht oder nie wieder anfangen mögen zu pochen.

Frau von Bornau wurde aus dem Sarge heraus in den Wagen geholfen, in zwei Minuten war man vor dem Schlosse, sie erholte sich nach wenigen Stunden und war nun so gesund, als sie vorhin nie gewesen war.

Überall auf dem Hof, und vor dem Schlosse in der Küche und im ganzen Dorfe hörte man nichts als Freudengeschrei. Alles kam, die liebe gnädige Frau wieder zu sehen und legten Glückwünsche zu ihren Füßen. Man beeiferte sich um die Wette, ihr die Cour zu machen, ihr Erfrischungen, Stärkungen, Gesundheiten, zuzubringen. Sie saß mit an der

 Tafel, die erst um 2 Uhr aufgehoben wurde, und woran sich die Herren von Schafkopf, von Plundermilch und von Ohnehosen, wie auch der Amtmann Burmann sämtlich mit ihren Familien, Nichten, Tanten, Oncles, Pastor Schwarz und der Verwalter Zahlmann nicht ausgenommen, recht was zu gute taten. Denn es wurden an diesem Abende nicht mehr als ein ganzer Ohm Nierensteiner, drei Anker Rheingauer und ein Anker Acht und| [46]  vierziger – rein ausgetrunken. Nach zwei Uhr ging alles taumelnd seiner Wege und die tragikomische Farce hatte ein Ende.

–––

Kanzel und Altar bekleidet: Adlige Familien übten häufig das Kirchenpatronat oder Patronatsrecht (lateinisch ius patronatus) aus, die Schirmherrschaft über eine Kirche, die auf seinem Gebiet liegt. Zu den Pflichten eines Patrons gehört die Kirchenbaulast am Kirchengebäude und mitunter am Pfarrhaus, oft auch die Besoldung des Pfarrers und anderer Amtsträger der Kirche. Zu ihren Pflichten gehörten auch, für einen angemessenen Schmuck der Kirche zu sorgen.

Farbige Behänge (Paramente)  bekleiden in vielen Gotteshäusern auch Kanzel sowie Altäre und hängen als Tuch vorn herab.

Ohm Wein: Die Maßkette für das Ohm war regional unterschiedlich. Allgemein waren 6 große oder 10 kleine Ohm ein Fuder. Im Herzogtum Braunschweig rechnete man 1 Ohm = 4 Anker = 40 Stübchen = 80 Maß = 160 Quartier. Allgemein waren 1 ½ Ohm gleich einem Oxhoft.
Wikipedia

Beichtformular: Auch in lutherischen Kirchen wurden bis in das 18. Jahrhundert hinein teilweise prachtvolle Beichtstühle errichtet, von denen sich zahlreiche erhalten haben. Hierin unterscheiden sie sich von evangelisch-reformierten Kirchen. Nach der für das Luthertum grundlegenden Confessio Augustana (1530) wurde zwar die Ohrenbeichte abgeschafft, aber die Einzelbeichte beibehalten. Dafür wurde auch ein eigenes Beichtformular erstellt, das den theologischen Ansatz Martin Luthers hervorhob, dass nicht das Sündenbekenntnis im Mittelpunkt steht, sondern die Absolution als Ziel der Buße.
Wikipedia

Der Neue Anhang zu: Geistreiches Gesang-Buch, darinnen Die auserlesenste und erbaulichste Lieder, welche theils bishero in denen Reformierten Kirchen gesungen, theils aber aufs neue hinzugethan, und in eine bequeme Ordnung gebracht worden, enthalten sind. Büdingen, 1751 enthält auf S. 129f. das „Bußfertige Bekenntniß der Sünden, samt angehängtem Trost.“:

Ihr geliebten in dem HErrn, dieweil wir in den geboren GOttes, gleich als in einem spiegel sehen, wie groß und vielfältig unsere sünden sind, durch welche wir zeitliche und ewige straffe verdienen: so last uns dieselbe von hertzen unserm getreuen GOtt und Vater bekennen. Sprechet derhalben mit mir also:

Ich armer sünder kekenne für die, meinem GOTT und Schöpffer, daß ich leyder schwerlich und mannigfaltig wider dich gesündiget habe, nicht allein mit äusserlichen groben sünden, sondern vielmehr mit innerlicher angebohrner blinndheit, unglauben, zweiffelung, kleinmüthigkeit, ungedult, hoffart, bösem geitz, heimlichen neid, haß und mißgunst, auch andern bösen tücken, wie du, mein HErr und Gott, an mir erkennest, und ich leyder! Nicht gnugsam erkenen kann: die reuen mich, und sind mir leyd, und begehrevon hertzen gnade, durch deinen lieben Sohn JEsum Christum. […]“

 

Dezm.: Der Begriff Zehnt, Zehent, Zehnter, Zehend, der Zehnte (auch Kirchenzehnter; lateinisch decima [pars], „zehnter Teil“, mittelniederdeutsch teghede) oder Dezem (von lateinisch decem „zehn“) bezeichnet eine etwa zehnprozentige Steuer in Form von Geld oder Naturalien an eine geistliche (etwa Domkapitel, Pfarrkirche) oder eine weltliche (König, Grundherr) Institution.
Wikipedia

Spükerei: SPUKEREI, f. das gespuke, vielfältiges, anhaltendes spuken, mnd. spôkerîe, in umgelauteter form nach dem niederdeutschen spökerije, spökerij als spökerei vereinzelt seit dem 16. jahrh. auch in der schriftsprache auftauchend. (DWB)

ein Buch gegen das zu frühe Beerdigen der Toten zu schreiben:

In Märchen und Sagen erwachen Menschen aus dem Todesschlaf, klopfen von innen an den Sarg oder steigen aus ihrem Grab. Unter Gebildeten galt das als Phantasie und Fabulieren des einfachen Volkes. Das änderte sich , als 1742 seine Dissertation über Die Unsicherheit der Kennzeichen des Todes veröffentlichte. Auf 500 Seiten listet er Vorfälle auf, bei denen Verstorbene oder Totgeglaubte wieder zum Leben erwachen. Hingerichtete werden vom Galgen abgenommen und laufen einfach davon, ein blutender Trompeter entsteigt dem Grab, die verblichene Großmutter erhebt sich vom Totenlager. Als das Buch 1754 auf Deutsch erschien, löste es eine gewaltige akademische Diskussion über den Scheintod aus. Neben aller reißerischen und anekdotischen Übertreibung aber ist Bruhiers Grundaussage richtig: Die Anzeichen des Todes sind trügerisch. Ein jeder ist in Gefahr, zu früh und damit lebendig begraben zu werden. Einzig die Fäulnis zeigt den sicheren Tod an.

Im Jahre 1742 veröffentlichete der französische Arzt Jean Jacques Bruhier eine Dissertation sur l'incertitude des signes de la mort et l'abus des enterrements, et embaumements précipités.  Die Übersetzung von D. Johann Gottfried Jancke erschien 1754 unter dem Titel: Abhandlung von der Ungewißheit der Kennzeichen des Todes, und dem Misbrauche, der mit übereilten Beerdigungen und Einbalsamirungen vorgeht. Leipzig ; Coppenhagen 1754.

 

Dissertation sur l'incertitude des signes de la mort, et l'abus des enterrements, & embaumements précipités: Par Jacques-Jean Bruhier, Docteur en Médicine. Seconde édition, revue, corrigée, & angementeée. Tom Premiere. A Paris, M. DCC. XLXIX.

Auch der Autor hat sich mit dem Problem auseinander gesetzt. Heinrich Theodor Ludwig Schnorr: Was lassen uns jene ältern und neueren Sagen von dem Pochen in den Gräbern schließen, und wovon giebt es uns einen Beweis? In Neues Hannoverisches Magazin. 28tes Stück. Freitag, den 6ten April 1792, Sp. 438-444.

Anker: Weinmaß; in Hannover 1 Anker = 38,93957 Liter

Nierensteiner: Wein aus Nierstein bei Bingen am Rhein.

Rheingauer: Wein aus der Kulturlandschaft Rheingau, die sich rechtsrheinisch von Walluf bis Lorchhausen erstreckt und das Gebiet vom Rhein bis zu den Höhen des Taunushauptkamms umfasst.

Acht und vierziger: Der Jahrgang 1748 gilt für deutschen Wein als größter Jahrgang des 18. Jahrhunderts.

 

Palatinatus ad Rhenum. (1788). In: Maior Atlas Scholasticus. Mappis Homannianis. Frankfurt am Main 1788.

 

Schwabsburg und Nierstein Kupferstich nach Merian

 

Jetzt erst eine kurze Relation von dem Personale meiner Lebensgeschichte.

Mein Vater hieß Claus von Bornau. Er war zwar kein Siegfried von Lindenberg: aber er grenzte ziemlich nahe daran. – Meine Mutter – eine geborne von Wirsing. Das Schloss erbte mein Vater von seinen Voreltern, die alle denselben Namen führten, und sich bekanntlich in den großen Kreuz- und Querzügen der alten Ritterzeiten durch mannhafte Taten hervorgetan hat ten. Das Schloss, ob es gleich in einer der an mutigsten Gegenden am Rheine lag, war leider! eines der baufälligsten in der ganzen weiten Gegend. Überall voller Risse in den schwarzen Mauern, gestützt, glich es mehr einem Neste der Mäuse und Ratten, als einem Rittersitze. Nur ein einziger Saal schien noch haltbar, alles übrige – seinem Einsturze nahe. Doch wohnte, hausete, zechte, lärmte man noch immer darin, so lange es gehen wollte. Nebengebäude, Scheunen und Ställe waren vom Großvater seliger neu aufgeführt – das Ganze wie es gewöhnlich ist,| [47] ein Viereck, und eine schöne Kastanien und Lindenallee ging von der Zugbrücke bis zu einem Hölzchen, die Forst meines Vaters, wohin manche Promenade gemacht wurde. Übrigens war es von allen meinen Vorfahren sowohl väterlicher als mütterlicher Seite, bekannt dass sie es in puncto sexti so genau nicht genommen hatten. Jeder hatte seine eigene Karriere gehabt, doch immer gesucht, dass öffentlich wenigstens kein Bürgerblut unsere hochadlichen Ahnen befleckt hatte; so dass ein jeder bei dem Landtage seine Ahnen sowohl von väterlicher als mütterlicher Seite seit mehreren tausend Jahren aufzählen konnte, welches die noch jetzt im Schlosse Bellingen hängenden Stammbäume beweisen.

Unser Hofstaat bestand aus mehreren männlichen und weiblichen Bedienten – einem sogenannten Kammerdiener meines Vaters, einem Kutscher, einem Stiefelwichser, einem Förster nebst einem halben Dutzend Hühnerhunden. Meine Mutter hatte ihre Kammerjungfer, Garderobenmädchen, Nähejungfer u. d. g.

Das übrige Personale, oder vielmehr unser Umgang, den wir zu der Zeit hatten, ist schon aus dem Vorhergehenden bekannt.

Siegfried von Lindenberg:  Siegfried von Lindenberg. Erster bis Vierter Theil. Fünfte rechtmäßige, von Verfasser [d. i. Johann Gottwerth Müller] durchgehends verbesserte und vermehrte Ausgabe. Leipzig 1790.

Humoristischer Roman von Johann Gottwerth Müller (genannt Müller von Itzehoe, 1743-1828).

Schnorr verwendet Motive für seine Münchhausen-Biographie im Kapitel Des Freiherrn von Münchhausen wunderbare Begebenheiten seiner Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande. Drittes Bändchen. Bodenwerder 1794.

 

Johann Gottwerth Müller veröffentlichte  weitere Romane als „Verfasser des Siegfried von Lindenberg“. Insgesamt verfasste er dreizehn Romane, die in zahlreichen Auflagen und Übersetzungen erschienen. Im satirisch-didaktischen Ton zielte er auf die ästhetisch-moralische Erziehung der Stände ab. Darüber hinaus verfasste er Lustspiele und Essays zur Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts. Er war mitarbeitender Rezensent an Friedrich Nicolais Allgemeiner Deutscher Bibliothek und gab von 1771 bis 1776 die Zeitschrift Der Deutsche heraus. Auch als Übersetzer war er tätig: Von ihm stammt u. a. die deutsche Übersetzung des utopischen Romans von Denis Vairasse Reise nach dem Lande der Sevaramben, oder Geschichte der Staatsverfassung, Sitten und Gebräuche der Severamben, Dieterich, Göttingen 1783.
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in puncto sexi: lat.: in geschlechtlicher Hinsicht

bei dem Landtage: Zusammenkünfte der politisch berechtigten Stände eines Landes. In den ständischen Landtagen waren je nach Zeit und Region unterschiedliche Stände, die so genannten Landstände vertreten. Dies konnten sein: die Prälaten (Bischöfe, Kapitel, Klöster), der Adel (oft unterteilt in Herren und Ritter), die landesherrlichen Städte. Im Landtag selbst wurden die Angehörigen desselben Standes in Kurien oder Bänken zusammengefasst. Der Adel bildete die sogenannte Ritterschaft auf den Landtagen. Es wurden in der Regel drei Kurien unterschieden: Prälaten, Ritterschaft und Städte. Den ersten Stand – und damit die erste Kurie des Landtags – bildeten entweder die Prälaten oder die Herren. Die Gesamtheit der Landstände in einem bestimmten Herrschaftsgebiet wurde auch Landschaft genannt.
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Stammbäume: Ahnentafel als Nachweis möglichst vieler Vorfahren, um die Berechtigung zu Ritterschlag und Turnierteilnahme zu erlangen, im weiteren Sinn auch die Berechtigung zum Eintritt in einen Ritterorden oder in einen adligen Dom- oder Stiftskapitel. Diese Form der Darstellung – oft ausgeschmückt mit Wappendarstellungen wird als Aufschwörungstafel bezeichnet. Die Verwandtschaftsbeziehungen waren damals im Ehe- und Erbrecht wichtig. Das Streben nach möglichst weit zurückliegenden prominenten, sagenhaften Vorfahren führte gelegentlich zu abstrusen Behauptungen der Abstammung.
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Wappen der Freiherren von Andlau im Wappenbuch des Heiligen Römischen Reiches, Nürnberg um 1554 - 1568.

 

Mit dem Ehesegen hatte es Vater und Mutter gar nicht glücken wollen. Erst nach dem fünf-|[48]ten Jahre des Ehestandes gebar meine Mutter zur Freude des Vaters einen allerliebsten Jungen, der aber wenige Wochen nach der Geburt an einem zu frühe eingetretenen Zahnfieber zu dem größten Leidwesen beider Eltern verschied. Übrigens ging es hier, wie schon aus dem Anfange zu ersehen, immer hoch her. Des Saufens, Schwelgens, Tobens, Lärmens, Reitens, Fahrens, Jagens, Tanzens und wie alle Freuden der Welt, der Ceres, des Bacchus, der Diane und der Terpsichore heißen mögen, war kein Ende. Die Tafel war stets mit dem besten Weine; so wie auch ganz natürlich, mit immer neuen Gästen besetzt, wobei freilich die alten auch nicht vergessen wurden. Da nun Vater und Mutter einmal für eine solche Lebensart waren, und jeder seine eigene Gleise hatte; so kann man es sich leicht erklären, woher es kam, dass bei allen möglichen Anstrengungen der jungen und alten, der robusten und schwächlichen Herren, bei dem größten Hange zur Wollust dennoch die Kindlein nicht gedeihen wollten, so dass Vater und Mutter lange Zeit daran zweifelten, dass sie eine Frucht hervorbringen würden, die einst unter ihrer Pflege gedeihen möchte – als sich auf einmal, zu beiderseitiger größten Freude und zu nicht geringem Erstaunen des Vaters, die Mut-|[49]ter wieder in gesegneten Leibesumständen befand.

Sogleich wurden Freudenfeste angestellet und insbesondere dem Ehren Schwarz aufgetragen, ein eigenes Kirchengebet für seine hohe Patronin auszufertigen und nächsten Sonntags in Gegenwärtigkeit seiner versammelten Gemeinde mit heiligen Seufzern und verkehrten gen Himmel gerichteten Augen abzulesen.

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Ceres:  römische Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit; griechisch Demeter. Sie hatte mit Jupiter zwei Kinder: Proserpina und einen ungenannten Jungen.

 

Ceres. ALMA CERES DOCUIT SEGETUM SPEM CREDERE SULCIS. Kupferstich von Virgil Solis, dem Älteren (1514-1562) nach, Giovanni Jacopo Caraglio (* zwischen1500-1505, † 1565). London, British Museum (Dept. of Prints and Drawings)

Diane: römische Göttin der Jagd, des Mondes und der Geburt, Beschützerin der Frauen und Mädchen. Ihr entspricht die Artemis in der griechischen Mythologie.

 

Peter Paul Rubens: Artemis bricht mit den Nymphen zur Jagd auf. Öl auf Leinwand, um 1615. Cleveland (Ohio) Museum of Art.

Bacchus: Bacchus ist ursprünglich die lateinische Form von Bakchos, einem Beinamen des Dionysos, Gott des Weines, des Rausches, des Wahnsinns und der Ekstase, in der griechischen Mythologie. Bacchus war bei den Römern als Name von Liber pater, dem ursprünglichen italischen Gott des Weines und der Fruchtbarkeit, gebräuchlich. (Wikipedia)

 

Bartholomäus Spranger (1546–1611): Venus, Bacchus und Ceres. Öl auf Leinwand. Alte Galerie Schloss Eggenberg, Universalmuseum Joanneum, Graz

Thema der Darstellung ist ein Wort des römischen Dichters Terenz: Sine Baccho et Cerere friget Venus – Ohne Bacchus und Ceres friert Venus. Venus sucht die Gesellschaft von Ceres, der Göttin der Feldfrüchte, und des Weingottes Bacchus. Denn der Liebesgenuss bedarf der irdischen Nahrung.

Terpsichore: die Reigenfrohe, die Tanzfreudige, eine der neun Musen, Töchter des Zeus und der Mnemosyne sind. Sie ist die Muse der Chorlyrik und des Tanzes und hat ihren Namen nach Ansicht mancher antiker Schriftsteller daher, dass sie ihre Liebhaber mit den Verführungen vergnügte, die von der Gelehrsamkeit herkommen. Sie soll zuerst das Tanzen und nach anderen Schönen Künsten die Wissenschaften erfunden haben. (Wikipedia)

Ehren Schwarz: Ehrenmann, ehrwürdiger Herr, hier Beiname des Pastors

 

Weitere Quellen für die Abenteuer des Fräuleins von Bornau sind die Romane von Johann Gottwerth Müller, die Schnorr bereits für seine fiktive Münchhausen-Biographie verwendet hat:

  

Reise nach dem Lande der Sevaramben oder Geschichte der Staatsverfassung, Sitten un d Gebräuche der Sevaranden. Aus dem Französischen übersetzt vom Verfasser des Siegfried von Lindenberg. Erster Theil. Zweyter Theil. Göttingen 1783.

Müller 1793 Friedrich Brack oder Geschichten eines Unglücklichen. Aus desselben eigenhändigen Papieren gezogen vom Verfasser des Siegfrie von Lindenberg.  Erster Band., Zweyter Band, Dritter Band. Berlin und Stettin. 1793/94.

 

Schon hatte es Nachts zwölfe geschlagen als meine selige Mutter auf einmal durch einen plötzlichen Schrecken erwachte.

Vater war von der Feierlichkeit bei dem Herrn von Ohnehosen, dem nächsten Nachbar, erst spät zu Hause geritten. Man hatte da wacker die Humpen gelichtet, und des wütenden Sturmes, der draußen tosete, bei dem Andenken an vorige Zeiten, an Kriege und Abenteuer, die man sich einander erzählte, vergessen. Sein treuer Knappe Friedrich sogleich bereit, ihm möglichst geschwinde aus seinen Stiefeln und Kleidern zu helfen, reichte ihm, wie er gewohnt war, den letzten Becher, den er mit zitternden Händen ausleerete. So taumelte Vater ins Bette. Und| [50] wäre auch der jüngste Tag unter dem schrecklichsten Donner und Blitz gekommen, mit einem Krach, als wenn die Welt aus ihren Angeln gerissen würde, er hätte nichts davon empfunden.

„Hörst du,“ sagte ihm meine Mutter, mit dem Nachtlichte in der Hand im äußersten Negligé. Die Angst hatte sie von ihrem Zimmer in die Kammer ihres Gemahls getrieben – indem sie ihn so heftig rüttelte, dass es ihr beinahe an Kräften gebrach.

Noch völlig in Gedanken an die Szenen des Tages sagte er, halb versunken in Schlaf: – „Trink weiter – Herr Bruder!“

„Mein Gott! ächzte die Frau, indem sie ihn noch mehr zu ermuntern versuchte: Hörst du denn nicht, dass ich es bin? „Hörst du denn gar nicht den schrecklichen Sturm!“ Es war der wütendste Orkan. „Hörst du nicht das entsetzliche Krachen des Hauses? Denkest du nicht an die Gefahr?“

„Gefahr hin – Gefahr her! Lass es stürmen, lass es wüten – wenn der Bettel auch ein fällt.“

Herr Jesus! kam Friedrich, da ist schon der eine Flügel des Hauses zusammengestürzt.| [51]

Mein Vater war glücklich wieder eingeschlafen – und hatte nicht einmal gehört, was Friedrich rapportierte.

Meine Mutter so geschwind sie konnte, wollte ihr Leben mit der Flucht retten. – Friedrich war schon vor ihr fortgegangen, um zu sehen, wo das hinaus wollte – als schon der ganze Saal zusammenstürzt und sie in Schutt und Trümmern begraben wird.

Das einzige, was noch die meiste Haltbarkeit bewiesen hatte, war die Kammer, worin mein Vater – schnarchte. Diese stand da, wie ein Fels in Ungewittern.

Es ward Morgen. Sehnlichst hatten die Menschen, die die ganze Nacht hindurch so schrecklich geängstiget waren, dass sie nicht aus ihren Häusern gingen und nur den Augenblick ihrer Vernichtung erwarteten, das Tageslicht herbei gefleht, gehofft. Das Zetergeschrei, welches sie erhoben, als sie die Ruinen ihres Schlosses er blickten, war entsetzlich.

Schon hatten Knechte und Mägde, Verwalter und Kutscher, die in den Nebengebäuden ihre Wohnungen hatten und unversehrt geblieben waren, mit weinenden Augen und wundgerungenen Händen, mit blutendem Herzen, sowie die Einwoh-|[52]ner des Dorfs Bellingen alles angewandt, um den Schutt so weit aufzuräumen, um Leitern an zubringen – als auf einmal der Herr von Bornau wach wird, das Fenster auftut und – in die Ruinen herabschaut.

„Wo ist meine Frau? Wo ist Friedrich? wo ist – und mein Vater springt, so wie er da ist – in die Ruinen hinab, ohne erst die Leitern abzuwarten, die man ihm möglichst bald beizubringen hoffte.

Der erste traurige Anblick für ihn war der, dass sein alter treuer Friedrich, der in seinen Diensten grau geworden war, von den Aufräumenden tot hervorgezogen wurde. Ein Balken eines Zimmers hatte ihn erschlagen. Eben dieses müsste er auch von meiner Mutter denken – als er ein jammervolles ängstliches Gewinsel hört, grade an der Stelle, wo er steht. Möglichst geschwinde und behutsam befiehlt er die Steine und den Schutt wegzuräumen und – nach zwei bangen Stunden sieht er endlich meine Mutter gerettet.

Tausendmal hat es mir meine Mutter erzählt, - wie angst sie unter diesen Trümmern gewesen. Keine Todesangst könne größer sein, als die, unter Ruinen alter Gemäuer begraben zu werden. Anfangs hätte sie grässlich geschrieen, um desto eher Hülfe zu bekommen. Aber wahrscheinlich| [53] habe man vor dem grässlichen Sturme nichts hören können. Endlich wäre ihr die Stimme gebrochen. Ein großes Glück bei dem Unglücke – ein Balken war gerade so gefallen, dass er auf einem Absatze geruhet und sie dadurch etwas Raum und Luft behalten.

Der Sturm war so schrecklich, dass alle Glocken der ganzen Gegend läuteten auch selbst die auf unserm Turme, die doch so groß waren, dass an jede zwei starke Männer nötig waren, um sie zu bewegen. Die Finsternis glich völlig der ägyptischen. Niemand wagte sich hinaus, weil jeder glaubte, seines Lebens nicht sicher zu sein. Kurz: das Ganze soll völlig der Ankunft des jüngsten Tages geglichen haben. –

Aber die Angst hatte bei meiner Mutter die heftigsten Wehen hervorgebracht. Sie war erst im fünften Monate ihrer Schwangerschaft. Man brachte sie geschwind in die Wohnung des Verwalters Zahlmann und – der Kutscher musste in vollem Galopp zu ihrem Leibarzt Pillenius, um ihn herzuholen.

er hätte nichts davon empfunden: Schnorr paraphrasiert die Verse des Horaz

Iustum ac tenacem propositi virum

Non civium ardor prava iubentium,

Non voltus instantis tyranni

Mente quatit solida, neque Auster,

Dux inquieti turbidus Hadriae,

Nec fulminatis magna manus Iovis:

Si fractus inlabatur orbis,

Inpavidum ferient ruinae.


Einen rechtschaffenen und zielstrebig auf seinen Vorsätzen beharrenden Mann, den erschüttern weder das ungestüme Aufbrausen der Massen, noch die grimmige Miene des drohenden Tyrannen in seinem festgefügten Geist; weder der Sturmwind, der wild über die Adria hinfegt, noch die mächtige Faust des Blitze schleudernden Jupiter: Und wenn das Weltall zusammenbricht, treffen ihn die Trümmer und er zittert nicht einmal.
Übersetzung von G.E

Die drei Bücher der „Carmina“ des Horaz, die in den Jahren 33-23 vor Christi Geburt entstanden, gelten als seine bedeutendste dichterische Leistung. Sie handeln von unterschiedlichen Themen, von Freundschaft, Liebe, dem Leben und dem Staat. Das dritte Buch gehört zu den „Römeroden“, in denen der Dichter zur römischen Jugend spricht und sie zu einem tugendhaften Leben ermahnt. Die dritte Ode preist die Standhaftigkeit des gerechten Mannes, der sich durch nichts beirren lässt. In ihrem Kernstück, der so genannten Romulusode, stellt Horaz das durch seine virtus zur Weltherrschaft gelangte Rom dem durch Lasterhaftigkeit versunkenen Troja gegenüber.

Q. HORATIUS FLACCUS, Ex RECENSIONE & cum NOTIS ATQUE EMENDATIONIBUS RICHARDI BENTLEII. EDITIO TERTIA. AMSTERDAMI, M. D. CCXXVIII. Eb: Q_Horatius1728, S. 149f.

mit dem Nachtlichte: Die Leuchtmittel im 18. Jahrhundert bestanden für den Adel bzw. die mittlere Bourgeoisie und Großbourgeosie hauptsächlich aus Bienenwachskerzen.
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im äußersten Negligé: hier das Nachthemd

der Bettel: nutzlose, alte oder wertlose Dinge 

rapportierte: abstattete; Meldung machen

Die Finsternis glich völlig der ägyptischen: Ägyptische Finsternis bezeichnet die Sandstürme, die am Nordrand der Sahara vorkommen und die Sichtweite bis auf einige Meter reduzieren können. Der oft auch als Redewendung verwendete Begriff geht auf die biblische Textstelle (Ex 10,22 ) zurück, bei der eine der zehn über Ägypten verhängten Plagen beschrieben wird. Die durch den Sandsturm einkehrende Dunkelheit kann mehrere Tage anhalten. In der Region nennt man diese Stürme Dunkelmeer.
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Ankunft des jüngsten Tages: Das Jüngste Gericht (auch Endgericht, Apokalypse, Jüngster Tag, Nacht ohne Morgen, Letztes Gericht, Gottes Gericht oder Weltgericht) stellt die antike bzw. alttestamentliche endzeitliche Vorstellung der abrahamitischen Religionen von einem das Weltgeschehen abschließenden göttlichen Gericht dar.
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Hans Baldung: Das Jüngste Gericht. Holzschnitt. Nürnberg 1503 -1507

Pillenius: Spottnahme für einen Arzt

 

 

Er kam – ehe noch eine Stunde verging. - Die Wehen kamen heftiger. Nach einer halben -Stunde drangen sie – der Herr Leibarzt war einer von denen vernünftigern – dies hatte meine Mut-|[54]ter von ihm besonders in ihrem Tagebuche angemerkt – die mehr die Natur wirken lassen, als offenbar Gewalt anwenden, wo keine nötig ist – ein Wesen hervor, das förmlich der Länge, Breite und Dicke nach einem Eie glich. Nur mit dem Unterschiede: dass das Ei nicht mit einer kalkartigen Schale, sondern vielmehr mit einer Haut versehen war. Das war allen ein Wunder vor ihren Augen – und selbst Doktor Pillenius konnte nicht umhin, dasselbe anders zu erklären. Ein außerordentlicher Fall, sagte er, der im Stande wäre, einem den Kopf zu verdrehen. Doch, was ist zu tun? sagte er zu meiner Mutter: Sie legen sich in ein warmes Bette, und da es ihnen sehr um Nachkommenschaft zu tun ist, und dies vielleicht allen Umständen nach zu urteilen, das Letzte ist, welches sie hervorbringen möchten; so wollen wir auch Tag und Nacht alle nur mögliche Mühe an wenden, um dieses Embryo durch Wärme, dies lehrt uns die Natur – zur Vollkommenheit zu bringen. Denn sehen sie, fügte er hinzu: das Wesen rührt sich. Was sich bewegt, hat Leben – was Leben hat, wächst: also haben wir Hoffnung. Lassen wir es nur nicht kalt werden.

„Aber was ist es denn nun?“ frug Vater – Mutter – aus einem Tone?| [55]

Was es ist? Wie sie sehen – ein Ei. Wer vermag durch die dicken Vorhänge der Verschlossenheit zu dringen? Sie haben die Güte und erwarten den Zeitpunkt, wo sich die Hülle löset.

Stille lag Mütterchen zweimal vierundzwanzig Stunden, während dessen der Leibarzt alle Augenblicke frug: ob sie noch keine stärkere Bewegung in dem Foetu bemerke? Ich lag anfangs ganz ruhig in ihrem Schoße. Aber die immer stärkere Wärme brachte mich endlich zum Leben.

Die Hülle zerplatzte – und in der heißen Stube war alles beschäftigt, mich aus dieser Hülle - herauszubringen. –

„Ein Mädchen,“ schrie der Doktor. „Ich gratuliere von Herzen.“

„Ein Mädchen?“ rief meine Mutter voll Freuden. „Gott sei gelobt! Das habe ich gewünscht, sehnlichst gewünscht!“ Der Vater ging weg, als er mich gesehen hatte, und sagte nichts.

Aber ein so kleines Wesen hatte wohl die Welt noch nie erblickt. Mein Kopf etwa so groß, als eine mäßige welsche Nuss; – das ganze – kaum eine Viertelelle-lang. – Und doch vergaß meine Mutter über meine Geburt und über mein Da-|[56]sein fast den größern Schmerz, dass das Schloss - eingefallen war, und dass sie unter den Trümmern desselben gelegen, geseufzet und gewehklagt hatte.

Mein Vater, ein äußerst bequemer Mann, der außer der Jagd und dem Tisch, wenige andere Freuden kannte und sich nicht gerne mit wichtigen Geschäften befasste, ohnehin, wenn sie Kopfbrechen kosteten, ließ durch den Verwalter Zahlmann ein großes Capital auf seine Güter leihen, um das Schloss möglichst bald wieder herzustellen. Dieser war denn auch mit Hülfe des Herrn Amtmann Burrmann, ein starker Baugeist, darüber aus, nach Genehmigung des vorgelegten Risses, in Zeit von einem Jahre – zwar nicht eine stattliche steinerne Burg, aber doch ein geschmackvolles wohnbares Haus für die geringst möglichsten Kosten – denn er war ein ehrlicher Mann, der meinem Vater schon lange gedienet hatte – aus den Trümmern des alten Schlosses hervorgehen zu lassen.

Meine Mutter war glücklicher Weise noch mit Puppenzeuge aus ihrer ersten Jugendzeit versehen, und hatte dies aufbewahrt. Man zog mir dasselbe so behände als möglich an und legte mich anfangs in eine Schachtel auf Baumwolle – nachher in die Puppenwiege – weil diese genau für mich passte. Meine Mutter hatte sie auf ih[57]rem Arbeitstischgen stehen. Mich zu stillen, war nicht möglich. Denn mein Mund war kaum so groß, dass die Spule einer Gänsefeder völlig Platz darin gehabt hätte.

Keiner war mehr für mich besorgt, als die Frau Verwalterin. Noch kann ich es nicht vergessen, was sie an mir tat. Sie hatte Tag und Nacht keine Ruhe, mir Zucker und Milch einzuflößen durch eine Gänsespule, damit sie mein schönes Leben der gnädigen Frau erhalten möchte. Man bedachte sich hin und her, wie man es mir bequemer machen wollte. Und es bot sich eine Gelegenheit dar, die nicht angenehmer und nützlicher sein konnte.

Badine, ein kleines, kleines Schoßhündchen der Verwalterin, ihr Lieblingstierchen, hatte eben geworfen. Man sah kein besseres Mittel, mir Nahrung zu verschaffen, als diese von ihren Kleinen zu befreien und mich an ihr saugen zu lassen. Sie wurde also meine Amme. Nun wollte es mich durchaus nicht anders saugen lassen, als wenn ich nackend war. Ich fand an diesem Tierchen so viel inniges Wohlbehagen, als vielleicht einst Romulus und Remus, die Begründer Roms, an den Zitzen der Wölfin, die man vorzüglich im Eutrop und andern römischen Schriftstellern im Contrefait aufgestellt sieht, kaum| [58] mögen gefunden haben. Dies ging soweit, dass ich selbst in erwachsenen Jahren stets eins oder mehrere solcher Tiere um mich haben musste. Der Pastor Loci, Ehrn Schwarz, mit welchem ich meine Leser im Vorhergehenden schon bekannt gemacht habe, ein freundlicher Mann, aber im höchsten Grad steif und orthodox, ein Teufelsgläubiger – besuchte auch sogleich meine Mutter in unsrer Klause beim Verwalter Zählmann, bezeugte sein höchstes Mitleid über unsern Zustand, aber doch zugleich seine Freude über die Geburt eines Fräuleins. Er verwunderte sich über die Maßen sehr, als die Wehmutter mich in einem Schächtelchen herbrachte. Er sah mir länger, als eine halbe Viertelstunde in meine blauen, freundlichen Äugelein und dann brach er auf einmal in die Worte aus: Herr! wie sind deine Wunder so groß und so viele!

 

 

Einige Tage nachher, als er wieder kam, besprachen sich meine Eltern mit ihm wegen der Taufe, und wie es damit sollte gehalten werden.

„Ich kann dasselbe nicht taufen!“ äußerte er.

Und warum nicht?

„Weil es nicht, wie andere Kinder, wenigstens sieben Monat im Mutterleibe gewesen;| [59] weil es nicht die gewöhnliche Größe hat, die ein Kindlein haben muss; weil es eine Hündin zur Amme hat.“ – –

Es hat aber, wie sie selbst sehen, alle Gliederchen, und alle die gehörigen Zeichen, die es unterscheidet. Gott hat es so gewollt, dass es als Ei zur Welt kommen sollte. Es fehlt nichts daran. Es ist ein wohlgestaltetes Kind. Wie viele Kinder werden bloß mit Kuhmilch getränkt?

„Die Kuh ist ein reines – der Hund ein unreines Tier. – Das tut aber alles nichts zur Sache. Ich darf es für mich nicht tun. Es muss erst an ein hochwürdiges Konsistorium berichtet werden, um dessen Gutachten darüber zu vernehmen.

Das Konsistorium erklärte sich dann darüber, wie folget:

„Wenn sich es befände, dass das Kindlein alle erforderliche Gliedmaßen hätte; wenn Leben in demselben wäre und ganz vorzüglich, da alle Kindlein wenigstens vier Pfund am Gewicht hätten – wenn dieses, weil es von Adel wäre, etwas über zwei Pfund Netto hätte; so könne das selbe getauft werden, Wornach sich Pastor zu. achten,“| [60]

Mit den ersten beiden Stücken hatte es nun wohl seine Richtigkeit. Aber mit dem Letztern, worauf es so einzig ankam: wie war das möglich zu machen? Wenn das fatale Netto nicht dabei zur Bedingung gemacht war; so hätte die Bademutter mit Zuziehung mehrerer Windeln auch allenfalls einiger Gewichte den Worten ein Genüge leisten können – aber wie sollte man nun dem Dinge abhelfen?

Dies gab indessen die besondere Veranlassung, mich in Beisein des Pastors, der meiner Mutter diese Nachricht schriftlich überbrachte, in optima forma, und zwar dem buchstäblichen Sinne des Konsistoriums gemäß, zu wägen – wo ich denn Netto ein Pfund weniger ein halbes Loth wog.

Die geschwätzige Fama hatte nun überall, wie gewöhnlich, viel Wunder von mir verbreitet. - Einige hatten dies, die andern jenes von mir geschwatzet. Gerade wie die Gevatterin von Frau Orgon in Gellerts Fabel. Viele gutherzige Seelen ermangelten dann nicht in heiliger Einfalt meiner Mutter alles haarklein und noch obendrein mit vielen Zusätzen wieder zu überbringen, was die ganze Gegend von mir geträtschet. Dazu gab hauptsächlich das die Veranlassung: dass ich als Ei zur Welt gekommen – dass ich schon älter,| [61] als vierzehn Tage, und noch nicht getauft sei; und ob das nicht mehr als heidnisch wäre, dass ich von einer Hündin gesäuget würde. Meine Mutter, so vernünftig sie auch sonst war, härmte sich zusehends darüber ab, weinte und klagte ganze Stunden und kam endlich auf den gewöhnlichen Kunstgriff, der alles möglich macht. Sie eröffnete dies ihrem Gewissensrath, der denn auch derselben Meinung war, indem er – versteht sich, dass sie ihm für seine edle Bemühung einen goldnen Louis in die Hand drückte – alles anwenden wolle, um sie baldmöglichst zu beruhigen.

Was geschah nun auf die dringende Vorstellung des Pastoris Loci? Gegen die Erlegung von vier vollwichtigen Louis erhält Ehren Schwarz hierdurch die Erlaubnis, das Kindlein, und zwar im Hause, zu taufen.

Wer war froher, als der Pastor. Im Hui, so wie er diese Worte kaum selbst gelesen hatte, kam er zur Frau von Bornau, und überbrachte derselben zu nicht geringer Freude diese Nachricht. Und – allen Gesprächen und Klatschereien war dadurch auf einmal ein Ende gemacht.

Der Taufactus wurde Tags darauf sogleich in der Stube des Verwalters Zahlmann – der| [62] indessen ein anderes Zimmer bezogen hatte, voll zogen, und mir der Name Emilie beigelegt. Die hohe Fete war so schlecht weg, als es in der Lage und unter solchen Umständen möglich war. Meine Tante, Frau von Otterndorf, war die einzige Patin, die meine Mutter erwählt hatte. In wenigen Stunden also bei einem Tee und einer kleinen Abendtafel wurde die Sache möglichst kurz abgemacht, zu nicht geringem Leidwesen des Pastoris Loci, der es, wie natürlich, gerne sahe, wenn die gehörigen Formalitäten mit Gevatternwesen u. dgl. beobachtet wurden. In dessen war es doch sein Schade nicht. Er erhielt von meiner Mutter außer jenem Louis, wie wir wissen, noch zween andere, die er mit großer Behaglichkeit und mit einem freundlichdankendem Lächeln, welches zugleich mit einem Händekuss begleitet war, unbesehen zu sich steckte, um sie zu den übrigen Jüngern und Aposteln hinzuzufügen, und sie so alsdann vollzählich und zinsbar in alle Welt zu senden.

Die Taufe hatte die große Wirkung gehabt, dass ich in der nächsten Nacht zu nicht geringem Erstaunen aller, die mich nachher wieder sahen, mehr als zwei Zolle gewachsen war. Wie froh war meine Mutter, als ich ihr des andern Morgens in dieser Gestalt und Größe anlächelte. Sie würde| [63] mir vielleicht nicht so gelächelt, nicht alles so vom Anfang meiner Geburt aufgezeichnet haben, wenn ich nicht ein so ganz besonderes Geschöpf gewesen und sie noch Hoffnung gehabt hätte, mehrere Kinder zu bekommen.

Mein Vater, der immer seinem Vergnügen nachging; bald hier bald dorthin reisete, weil er es in der engen Klause nicht auszuhalten vermochte, und wenn er einmal zu Hause war, mit der Jagd, Fischerei und mit der Weinflasche die Zeit zubrachte; bekümmerte sich desto weniger um mich. Mein Wesen war ihm zu unbedeutend und, zu klein. Er glaubte auch nichts weniger, als dass ich aufkommen würde. Auch war ich ihm ein eigentlicher Stein des Anstoßens und ein Fels des Ärgernisses, weil er wohl wusste: wo mich die Mutter erwischt hatte. Doch – dies soll ewig ein Geheimnis bleiben,

Ach! es ist für Eltern, im Ganzen genommen, noch mehr für meine Mutter, die aus Geschlechtsneigung Affenliebe für ihr Kind hat, nichts schlimmer, als ein einziges Mädchen oder ein einziger Junge. Wer hat wohl jemals große Früchte davon gesehen? Und – wenn die Eltern selbst nicht im Stande sind, einen großen Teil ihrer Zeit auf die Erziehung zu verwenden; wenn Eltern zu viele Geschäfte; wenn sie keine Lust ha|[64]ben, ihre Kinder zu bilden und ihr ganzes Leben nur bloß den Zerstreuungen, dem Zeitvertreibe, der Wollust, der Üppigkeit, dem Schwelgen widmen; oder wenn sie nicht Verstand genug besitzen und nun die ganze Erziehung entweder der Zeit oder dem Gesinde, oder Lohndienern überlassen müssen – wie traurig steht es dann um Wesen der Art, die doch einst wieder auf dem großen Schauplatz der Welt treten sollen, um ihre eigenen Rollen zu spielen!!!

Nicht alles, wie Helvetius und Rousseau sagen, aber unendlich vieles kommt auf die erste Bildung an. Wer vermag es oft genug, den sorglosen Eltern und Erziehern zu sagen?

Mein Hündchen, welches mich stillete, gab sich ganz außerordentliche Mühe um mich. Es hatte mich so lieb, als wenn ich sein eigenes Kind war. Jetzt litte es auch, dass ich angekleidet an seinen Zitzen saugen durfte. Nie kam es von meiner Stelle. Tag und Nacht war es um mich. So oft ich mich nur rührte, war es bei der Hand, mir seine kleinen Zitzchen zu reichen, und es hatte es gar gerne, wenn ich in seinen Silberlöckchen, mit seinen Ohren, oder mit seinen Pfötchen spielte.

Mutter hatte sich nach ihren gehabten Mühseligkeiten und Schrecknissen bald wieder erholt und| [65] sah nun aus den Trümmern der Vergangenheit allmählig einen neuen Phönix sich erheben. Der Kutscher des gnädigen Herrn, wie auch der junge Herr von Ohnehosen suchte in Abwesenheit des Gemahls, der selten einen Tag zu Hause war, meiner Mutter eins ums andere die Lange weile erträglich zu machen; so wie sich denn mein Vater auf gut adelich mit den Kammerzöfchen und Köchinnen seiner Herrn Nachbarn die Zeit zu verkürzen suchte.

 

–––

Das allersonderbarste Phänomen, welches sich vielleicht bloß durch Zufall, aber doch gerade in der Nacht meiner Geburt ereignete, war, dass ein Rosenstrauch im Schlossgarten, ohnerachtet es mitten im Winter war, grün wurde, und eine Rose von ganz außerordentlicher Schönheit und Größe, und zwar nur eine Einzige trug. Hundert Rosen in eine einzige vereinigt, so hat es mir meine Mutter oft erzählt, wären noch nichts gewesen gegen die Größe dieser einzigen Rose. Die ganze umliegende Gegend, alles kam, um diese Rose zu sehen und sich selbst von dieser wunderbaren Begebenheit mit eigenen Augen zu über zeugen. Auch war dies das auffallendste, dass sie länger als vier Wochen bei dem anhaltenden Froste stets in ihrer Schönheit blieb. Wie es| [66] schien, dass sie durch ein einfallendes Tauwetter ihre Existenz verlieren würde, pflückte sie mein Vater ab, und suchte sie noch lange zu bewahren.

Diese Rose war lange das Gespräch der ganzen Gegend. Besonders die alten Mütterchen waren voll von Weissagungen dieser Rose, deren Erscheinung man bloß auf mich deuten wollte.

Drei Geistliche, der Erzbischof von Canterbury, der erste Pope aus Petersburg, und der erste Iman aus Konstantinopel kamen samt und sonders mit ihrem Hofstaat in einer und derselben Viertelstunde im Römischen Kaiser in Frankfurt an. Alle erkundigten sich einer bei dem andern um die Ursache ihrer Reise, und ein jeder hatte eine und dieselbe Absicht. Sie waren alle drei große Liebhaber der Naturgeschichte. Ihnen allen hatte zu einer und derselben Zeit geträumt, sie wären dazu bestimmt, eine seltene Naturerscheinung nicht allein zu sehen, sondern auch ihre gelehrten Kenntnisse zu untersuchen. Hier erhielten sie Nachricht, wo der Ort war. Und wie sie in Bellingen ankamen, war dies ihr erstes, dass sie durch ihre Dolmetscher ausrufen ließen:

Wo ist das Wunder aller Rosen, das je die Welt gesehn? Ein Traum führt uns hieher.| [67]

Sie wurden in den Schlossgarten geführt, und konnten nicht genug eine Rose bewundern, die sie an Schönheit und Größe noch nie gefunden hatten.

Nach langem Nachsinnen über die Ursachen, kamen sie alle drei, welches sonst ein seltener Fall ist, dahin überein: dass die Erzeugung der Rose von einer warmen Quelle herrühren müsse, die nicht allein ihre Mineralteile zu der Größe der Rose hergegeben, sondern auch die Erde daselbst erwärmet, dass im Winter eine so schöne Seltenheit hätte hervorgebracht werden können.

Diese Herrn blieben mit ihrem Gefolge mehrere Wochen bei uns, nahmen in der engen Klause des Verwalters für lieb, besahen alle Tage die schöne Rose, ließen sich unsere Bewirtung gefallen, und reiseten wieder zu ihren Bestimmungen, indem sie es durch ihre Dolmetscher versichern ließen, dass ihnen diese Reise nie gereuen würde.

Die hohe Meinung von mir fing sowohl in der umliegenden Gegend, als auch in den Köpfen meines Vaters und meiner Mutter mächtig an zu spuken. Man glaubte nun durchgehends – es versteht sich von selbst, dass sich diese Herrn nach mir und nach den Umständen meiner Geburt erkundigten, dass sie sich über alles gar sehr verwunderten – die Ehre des Besuchs dieser hohen| [68] Personen aus so entfernten Ländern habe einzig und alleine mir gegolten.

Wie sonderbar die Meinungen der Menschen oft sind!

–––

in dem Foetu: Leibesfrucht vom 4. Monat der Schwangerschaft an

Spule einer Gänsefeder: der gehärtete zum Schreiben benutzte Teil einer Gänsefeder zwischen Kiel und Schaft

Romulus und Remus: In der Version von Plutarch hatte Amulius, der König von Alba Longa, seinen älteren Bruder Numitor vom Thron gestürzt. Dessen Tochter Rhea Silvia – auch Ilia genannt – zwang er, Vestalin zu werden. So wollte Amulius verhindern, dass in der Familie des Bruders Nachfahren entstünden, die seinen Thron gefährden könnten. Mars stieg jedoch zu ihrem Tempel hinab, vergewaltigte sie, und sie empfing von ihm die Zwillinge Romulus und Remus.

Nach deren Geburt wurden die Kinder auf Amulius’ Befehl in einem Weidenkorb auf dem Tiber ausgesetzt und Ilia ins Gefängnis gebracht. Der Tiber führte jedoch gerade Hochwasser, und als das Wasser zurückging, strandete die Wanne am Ficus Ruminalis im Schlamm. Eine vom Schreien der Kinder angelockte Wölfin (Mamma Lupa) brachte sie in ihre Höhle und säugte sie.
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Romulus und Remus. Anonymer Kupferstich, 1552. In: Speculum Romanae Magnificentiae, hrsg von Antonio Lafreri. Roma 1552.

Eutrop: Eutropius († nach 390 nach Christus) war ein spätantiker römischer Geschichtsschreiber. Er verfasste um 369 n. Chr. ein Breviarium ab urbe condita, in dem er die Geschichte des römischen Reiches von der Gründung der Stadt Rom bis zum Tod Kaiser Jovians (364 n. Chr.) darstellte.
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Contrefait: franz. Bildnis

Konsistorium: Behörde in der evangelischen Kirche

die geschwätzige Fama: römische Gottheit des Ruhmes sowie des Gerüchts.

die Gevatterin von Frau Orgon in Gellerts Fabel:

Die Mißgeburt.

Frau Orgon! rief die Frau Gevatterinn,
Ach wüßten Sie, wo ich gewesen bin!
Ich will es Ihnen wohl entdecken;
Allein Sie müssen nicht erschrecken.
Ich komme gleich von einer Wöchnerinn.
Lucinde, daß ichs kurz erzähle,
Lucinde, die so stolze Seele,
Die uns durch ihren Staat so oft beschämt gemacht,
Erschrecken Sie nur nicht, hat in vergangner Nacht
Ein Kind, (verzeih mirs Gott!) mit langen Hasenohren,
Ein recht abscheulich Kind gebohren.
Die stolze Frau! Ich richte nicht;
Allein ich weis, daß nichts umsonst geschicht.
Lucinde wünscht, daß es verschwiegen bliebe!
Ich wünsch es selbst aus Menschenliebe;
Allein die Stadt erfährts, gedenken Sie an mich:
Indeß behalten Sie die Heimlichkeit für sich.

Frau Orgon eilt von ihr erschrocken zu Dorinden,
Sie fragt nach ihrem Wohlbefinden,
Und schmäht mit ihr die Weiber, die gern schmähn.
Wie? Sollte sie Dorinden nichts erzählen?
Nein, denn sie fängt schon an sich bestens zu empfehlen.
Warum muß der Besuch so bald zu Ende gehn?
Vielleicht, weil beide sich von nichts zu reden schämen.
Deswegen? Nein, das glaub ich nicht.
Wie sollten dies sich Weiber übelnehmen?
Da mancher große Mann, gelehrt von Angesicht,
Oft tagelang von nichts mit großen Männern spricht.

So ist Frau Orgon schon gegangen?
Noch nicht. Nun aber geht sie fort.
Doch seht, sie kehrt sich um: Frau Schwester, noch ein Wort,
Ein Wort! Es soll mich sehr verlangen,
Ob Sie – ? Lucinde – Wie? Sie hätten nichts gehört?
Nichts, Gott vergieb mir meine Sünde!
Nichts von der Mißgeburt der kostbaren Lucinde,
Mit welcher sie die Welt beschwert?
Hier sieht man recht die göttlichen Gerichte!
Ein Kind mit härichtem Gesichte,
Das einem Hasen gleicht, und einem Pferdefuß,
Bedenken Sie, wie das erschrecklich lassen muß!
Allein Lucinde wills verhehlen;
Drum sagen Sie nur weiter nichts davon.
Das arme Kind! Es ist ein Sohn.

Dorinde sagts ihr zu. Und doch soll mirs nicht fehlen,
Sie wird die Neuigkeit, sobald sie kann, erzählen,
Weil jene sie, zu schweigen, bat.
Sie tut es so getreu, als es Frau Orgon that.
Erst hat das Kind nur Hasenohren,
Frau Orgon schenkt ihm drauf noch einen Pferdefuß;
Allein Dorinden ists noch viel zu schön gebohren.
Und weil sie was verbessern muß,
Tut sie dem Kinde den Gefallen
Und macht ihm noch an beide Hände Krallen.

Eh noch der Nachmittag verstrich,
Ließ das Geheimniß sich auf allen Gassen hören,
Die alten Mütter kreuzten sich,
Und suchten schon recht mütterlich
Durch dieses Zorngericht die Töchter zu bekehren.
Da war kein Mensch, der nicht mit einem Ach!
Von diesem Wechselbalge sprach.
Die Knaben stritten selbst mit blutigem Gesichte
Schon für die Wahrheit der Geschichte.

Sobald als dies der Magistrat erfuhr,
Schickt er den Physicus nach dieser Kreatur.
Er kam neugierig zu Lucinden;
Allein anstatt den Wechselbalg zu finden,
Fand er ein wohlgestaltes Kind,
An dem die Ohren größer waren,
Als sie bei andern Kindern sind.
Das war die Mißgeburt, der man so mit gefahren!

–––

Der Dörfer und der Städte Plage,
Verwünscht seyst du, gemeine Sage!
Die schnell mit dem, was sie zu wissen kriegt,
Geheimnisvoll in alle Häuser fliegt,
Und, wenn sies dreimal sagt, vom neuen dreimal lügt.
Ein giftig Weib, was kann die nicht erzählen;
Zumal, wenn es der armen Freundin gilt?
Ein giftig Weib — Doch nein, ich mag nicht schmälen;
Mich schreckt die Redekunst, mit der sie andre schilt.

Sammlung der besten deutschen prosaischen Schriftsteller und Dichter. Erster Theil. Gellerts Fabeln. Carlsruhe 1774, S. 153-155.

 

 

Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769 war ein deutscher Dichter und Moralphilosoph der Aufklärung und galt zu Lebzeiten neben Christian Felix Weiße als meistgelesener deutscher Schriftsteller.
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goldnen Louis: Der Louis d’or (auch Louisd’or oder Louisdor) ist eine französische Goldmünze.
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Fete: Feier, fest

Helvetius: Claude-Adrien Helvétius (eigentlich in der nicht latinisierten Form Claude-Adrien Schweitzer, 1715-1771) war ein französischer Philosoph des Sensualismus und Materialismus der Aufklärung.
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Herrn Johann Claudius Hadrian Helvetius hinterlassenes Werk vom Menschen, von dessen Geistes-Kräften, und von der Erziehung desselben. Aus dem Französischen. Erster und Zweyter Band. Zweyter und verbesserte Auflage Breslau 1785-

Rousseuau: In Rousseaus pädagogischem Hauptwerk Émile oder über die Erziehung wird die fiktive Erziehung eines Jungen beschrieben. Julie oder Die neue Heloise ist ein Plädoyer für die Liebesehe und gegen den Standesdünkel des Adels.

welches mich stillete: Fromme Matronen und düstere Sittenlehrer sind der Meynung, daß der Mensch die meisten Neigungen seiner Seele mit der Milch der Säugamme habe eingesogen. Sie führen uns zum Beyspiele die Unkeuschheit unserer Edelleute an, deren Ammen, wie sie sagen, durchgehende Huren waren. [...]

Was nun die Milch der Ammen betrift: so wissen wir wohl, daß jede Leidenschaft, wie jede Speiseordnung ihre große Wirkung in der Milch der Amme und im Körper des Kindes mache. Man wird aber sonst, mit Erlaubniß aller Damen und Bürgersweiber, einen beträchtlichen physischen Unterschied zwischen der Milch einer Hure und einer Ehefrau gestatten können. Die Unzucht unserer adelichen Amadisse wird sich von ihrer Erziehung, von ihrer Kühnheit und Lebensart weit besser erklären lassen. Übrigens weiß ich ohnehin nicht, mit welchem Grunde Moralisten und Dorfärzte immer gegen die Säugammen schreyen mögen. Man wählt sich eine starke, gesunde, mit gewölbten Brüsten wohl besetzte Amme und verschafft dem Kinde eine Nahrung, welche ihm eine Dame auß ihrem bischen Busen nicht geben kann. Eine Dirne vom Bürger- oder Bauernstande lebt einfacher; sie hat festere Fleischtheile, dickere nahrhafte Säfte, rohere Nerven, mithin weniger Empfindsamkeit, wenigere Leidenschaften, als die reizbare Dame. Es ist also für die Gesundheit und die Körperstärke des jungen Herrchens eine tüchtige Säugamme das vortheilhafteste, was ihm Eltern verschaffen können.
Melchior Adam Weikard: Der philosophische Arzt. Erstes und zweites Stück, dritte Auflage, Linz 1787. Erster Teil, S. 80f.

 

Göttinger Taschen Calender für das Jahr 1798

Phönix: gr. ‚Der Wiedergeborene/Der neugeborene Sohn‘ ist ein mythischer Vogel, der am Ende seines Lebenszyklus verbrennt oder stirbt, um aus dem verwesenden Leib oder aus seiner Asche wieder neu zu erstehen. Diese Vorstellung findet sich heute noch in der Redewendung „Wie Phönix aus der Asche“ für etwas, das schon verloren geglaubt war, aber in neuem Glanz wieder erscheint.
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Symbola Heroica Pietrasanta Silvestro Amsterdam 1682, S.

Rosenstrauch: Im antiken Griechenland war die Rose eng mit der Göttin Aphrodite verbunden. Nach der Christianisierung des Römischen Reiches wurde die Rose mit der Jungfrau Maria identifiziert. Auf sie wird die Stelle des Hohenliedes 2, 2. bezogen: „Wie die Rose unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den Töchtern.“ Maria heisst die Rose oder der Rosenzweig von der Wurzel Jesse oder Isai (Davids Vater, von dem sie stammte). Jesaias 11,1. Daher das schöne alte Kirchenlied: Ein Rose ist entsprungen,/ Von Jessc war die Art.

Besonders beliebt war im Mittelalter die Vorstellung, Maria sitze im Rosenhag oder Rosenthal.
Zur Zeit der Niederschrift des Romans kurierte im Hannoverschen eine Sage, die von den Brüdern Grimm später verschriftlicht wurde:

Der Rosenstrauch zu Hildesheim

Als Ludwig der Fromme winters in der Gegend von Hildesheim jagte, verlor er sein mit Heiligtum gefülltes Kreuz, das ihm vor allem lieb war. Er sandte seine Diener aus, um es zu suchen, und gelobte, an dem Orte, wo sie es finden würden, eine Kapelle zu bauen. Die Diener verfolgten die Spur der gestrigen Jagd auf dem Schnee und sahen bald aus der Ferne mitten im Wald einen grünen Rasen und darauf einen grünenden wilden Rosenstrauch. Als sie ihm näher kamen, hing das verlorene Kreuz daran; sie nahmen es und berichteten dem Kaiser, wo sie es gefunden. Alsobald befahl Ludwig, auf der Stätte eine Kapelle zu erbauen und den Altar da hinzusetzen, wo der Rosenstock stand. Dieses geschah, und bis auf diese Zeiten grünt und blüht der Strauch und wird von einem eigens dazu bestellten Manne gepflegt. Er hat mit seinen Ästen und Zweigen die Ründung des Doms bis zum Dache umzogen
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. 2 Bände, Berlin 1816/1818. Der Text folgt der von Hermann Grimm besorgten dritten Auflage von 1891.
unter Verwendung von Wikipdia

 

Gründungslegende des Hildesheimer Doms, Gemälde von 1652; Hildesheim, Dommuseum

Erzbischof von Canterbury: Der Erzbischof von Canterbury ist zugleich Primas von ganz England und das geistliche Oberhaupt der Kirche von England sowie Ehrenoberhaupt der anglikanischen Kirchengemeinschaft. 1783–1805 hatte John Moore das Amt inne.

Pope aus Petersburg: der orthodoxe Metropolit von St. Petersburg und Ladoga,

Iman aus Konstantinopel: ein Geistlicher aus der Hauptstadt des osmanischen Reichs

im Römischen Kaiser in Frankfurt: Der Römer ist seit dem 15. Jahrhundert das Rathaus der Stadt Frankfurt am Main und mit seiner charakteristischen Treppengiebelfassade eines ihrer Wahrzeichen. Er ist als Zentrum der Stadtpolitik Sitz der Stadtvertreter und des Oberbürgermeisters. Das mittlere der ursprünglich drei eigenständigen Gebäude am Römerberg ist das eigentliche Haus zum Römer. Unter „Römer“ wird schon seit Jahrhunderten der gesamte Rathauskomplex verstanden. Warum das zentrale Gebäude „Römer“ heißt, ist unbekannt; es existieren verschiedene, einander widersprechende Deutungen.

Als die Verwaltung der Stadt im 14. Jahrhundert ein neues Domizil brauchte, kaufte der Rat am 11. März 1405 die beiden repräsentativen Bürgerhäuser mit den Namen Römer und Goldener Schwan und machte sie zum Amtssitz mitten im Zentrum der damaligen Stadt. Neben dem Kaiserdom St. Bartholomäus zählten sie als Ort der meisten Wahlen zum römisch-deutschen König bzw. Königswahlen und -krönungen und damit zu den bedeutendsten Gebäuden in der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.
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Huldigung der Frankfurter Bürger vor Franz I. anlässlich dessen Wahl zum Kaiser,  kolorierter Kupferstich 1745

Ein Traum führt uns hieher: Schnorr parodiert den Besuch der Heiligen Drei Könige an der Krippe Jesu. die in der Weihnachtsgeschichte des Matthäusevangeliums (Mt 2 EU) erwähnten „Sterndeuter“ (im griechischen Ausgangstext Μάγοι, Magoi, wörtlich „Magier“), die durch den Stern von Betlehem zu Jesus geführt wurden.

DA JESUS geboren war zu Bethlehem im jüdischen lande, zur zeit des königes Herodis, sihe, da kamen die weisen vom worgenlande nach Jerusalem, und sprachen:

Wo ist der neugeborene könig der Juden? Wir haben seinen stern gesehen im morgenlande, und sind kommen, ihn anzubäten.

Da das der könig Herodes hörete, erschrack er, und mit ihm das gantze Jerusalem.

Und ließ versammlen alle hohenpriester und schrifftgelehrten unter dem volck, und erforschete von ihnen, wo Christus solte geboren werden.

Und sie sagten zu ihm: Zu Bethlehem im jüdischen lande. Denn also stehet geschrieben durch den propheten:

Und du Bethlehem im jüdischen lande, bist mit nichten die kleinste unter den fürsten Juda, denn aus dir sol mir kommen der hertzog, der über mein volck Israel ein HErr sey.

Da berief Herodes die weisen heimlich, und erlernte mit fleiß von ihnen, wann der stern erschienen wäre.

Und weisete sie gen Bethlehem, und sprach: ziehet hin und forschet fleißig nach dem kindlein, und wann ihrs findet, so sagt mirs wieder, daß ich auch komme, und es anbete.

Als sie nun den könig gehöret hatten, zogen sie hin. Und siehe, der stern, den sie im morgenlande gesehen hatten, ging vor ihnen hin, bis daß er kam, und stund oben über, da das kindlein war.

Da sie den stern sahen, wurden sie hoch erfreuet,

Und gingen in das haus und fanden das kindlein mit Maria, seiner mutter, und fielen nieder, und beteten es an. Und thaten ihre schätze auf, und schenckten ihm gold, weyrauch und myrrhe.

Und Gott befahl ihnen im traum, daß sie sich nicht solten wieder zu Herodes lencken, und zogen durch einen andern weg wieder in ihr land
Matth. 2, 1-12

 

Lucas van Leyden: Die Anbetung der Heiligen Drei Könige.Kupferstich Wien 1513, Grafische Sammlung Albertina.

 

Jesus! Maria! kam einst des Verwalters ältestes Töchterchen, welches sich gern mit der kleinen Emilie beschäftigte, ganz außer Atem herein, und setzte sich zu meiner Mutter, indem sie immer auf mich herabblickte, und tief seufzte. Noch war ich kein Jahr alt.

„Was fehlt dir, mein Kind!“

Ach! das kann ich Ihr Gnaden – So ließ sich meine Mutter titulieren – gar nicht sagen.

„Warum nicht? Sag es mir doch.“

Ach! ich habe es schon mehreremal gehört und recht bitterlich darüber geweint.

„Nun, worüber denn? Sag es doch.“

Ach! wollen Sie denn auch nicht erschrecken, nicht böse werden, mich nicht schlagen oder schelten – stotterte das Mädchen. Ich glaube, dies kleine gnädige Fräulein Emilie wird ein kleines Hündchen. Denn so oft sie sich recht freut und ich mit ihr spiele, sagt sie: Wau, Wau! Wau, Wau! eben so als Badine, Und dann springt| [69] Badine, so freudig, so freudig – und bellt und wedelt um sie herum.

„Wau, wau! Wau, wau!“ rief ich.

Nun –hören Sie?

„Daß Gott es erbarme! Ich arme unglückliche Mutter! Womit habe ich das verdient? Ist das etwa eine Strafe von Gott: dass ich dir habe Badinen zur Amme gegeben?“ – Und nun erhob meine Mutter ein Klagegeschrei, das nicht größer sein konnte und die Jeremiaden nahmen erst mit dem Abend ein Ende, als der Pastor Schwarz kam, und sie diesem Manne, der es ihr freilich oft genug, so gut als andere gesagt hatte: Man möchte das nicht tun – und lieber Emilien, wie andere Kindlein, mit Kuh- oder Ziegenmilch auffüttern – ihre Gewissensskrupel vorgelegt hatte.

Dieser ließ sie Anfangs bei ihrer Meinung und sagte: das wäre allerdings gar wohl möglich. Denn dergleichen wärs unserm Herrgott ein Gräuel. Es könne aber doch auch Entwickelung des Nachahmungstriebes sein, der sich schon bei ihr so frühe zeigte. Und also wurde die gnädige Frau beruhig, Badine sogleich abgedankt und das Kindlein künftig mit Kuhmilch getränkt.

Zusehends wuchs ich heran und nach einigen Wochen hörte man ganz vernehmlich: Mu, Mu!| [70] Und ob man mir gleich keine Katzenmilch zur Nahrung gab, hörte man mich bald: Mau, Mau! sagen, zu nicht geringer Freude meiner Mutter, und aller, die mir solchen Hokus Pokus vormachten.

Jeremiaden: Der Ausdruck Jeremiade stammt ursprünglich und landläufig aus dem biblischen Buch der Klagelieder. In der Literatur bezeichnet der Ausdruck Jeremiade ein den allgemeinen gesellschaftlichen Verfall beklagendes Werk. In der Folge verblasste der Begriff und wurde zum allgemeinen Ausdruck für Klagelied, Jammerrede und erhielt häufig einen abwertenden Beiklang.
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Hokus Pokus: im sinne von gaukelei, blendwerk; das wort läszt sich bis ins 17. jahrh. zurückverfolgen und scheint zuerst in England gebildet. 1634 erschien zu London eine schrift: Hocus Pocus junior. the anatomic of legerdemain; später ins deutsche übersetzt unter dem titel: Hocus Pocus junior. oder taschen-spiel-kunst. aus änglischer sprach in die deutsche übersetzt. hiernach ist Hocus Pocus als eigenname eines fertigen taschenspielers genommen, und der beiname junior weist darauf hin, dasz derselbe schon länger im umlauf gewesen sei. die nächsten verwendungen des wortes im deutschen wahren auch den character als eigennamen durchaus: es ist ein kunst, unterschiedliche spiel üben, wie der Joan Potage, oder Ockes Bockes der Amsterdamer zu machen pflegte. Schuppius 708; kurzweilige und zuvor in trück nie gesehene approbirte kahrtenkünste, zusammen gebracht von einem in viel künsten erfahrnen und also genannten meister Hocus Pocus. (DWB)

 

Titel des ersten, in englischer Sprache verfassten und illustrierten Buches, das sich ausschließlich mit Zauberkunststücken zum Selbervorführen beschäftigte. 1667 erschien eine erste deutsche Übersetzung von Hocus Pocus Junior mit dem Zusatz: Oder die Taschenspielkunst, gar deutlich und fleißig beschrieben, auch mit Figuren erklärt.

 

Künstler:Jean Marc Nattier: Bildnis der Marie Zephyrine von Frankreich. Öl auf Leinwand. Gallerie degli Uffizi.

 

Das Haus war jetzt völlig fertig. Meine Eltern zogen mit großen Pomp hinein und gaben zur Einweihung desselben ein vierzehntägiges Fest, an welchem nicht mehr als dreißig Ochsen, zwanzig Kälber, vierzig Hammel und zehn Schweine, hundert Hühner und zehn kalekutische Hähne mit allen guten Freunden, getreuen Nachbarn u. dgl. bei eben so großem Aufwand an Weine und andern Sachen verzehret wurde. Ganz Bellingen, alle Einwohner vom Ackermann bis zu dem geringsten Tagelöhner wurden überflüssig mit Weib, Gesinde und Kindern an mehreren Tagen traktieret. Es fehlte auch an Musik nicht. Alles war fröhlich und die Einwohner wissen noch diese Stunde von den festlichen Tagen zu erzählen – auch wird man es gewiss nie vergessen, dass die Bauern unter einander, weil so ganz erstaunlich viel zu essen und zu trinken, da war, Wetten anstellten, wer unter ihnen am besten fressen und saufen könnte – und einer derselben, der große Schelling genannt, der Bauch mitten entzwei geplatzte war und derselbe alle sein Eingeweide ausgeschüttet hatte.| [71]

Das war eine tragische Szene!

Drei Jahre war ich alt, als ich endlich anfing, einem Kindlein von einem Jahre ähnlich zu werden. Jetzt lernte ich mehrere Worte aussprechen – Mama, Papa, sagen und allmählich – mit dem vierten Jahre gehen. Solange dauerte es, ehe ich zu dieser Vollkommenheit gelangte. Mutter freute sich über nichts mehr, als wenn sie mich in ihrer Schürzentasche umhertrug, worin ich gar niedlich stehen und sitzen konnte.

Ich hätte hier bald eine Reise vergessen, die ich im ersten Jahre meines Lebens machte und die mich beinahe um meine Existenz bringen können, wenn nicht ein glücklicher Genius über mich gewacht und mich gerettet hätte.

Vater, Mutter und einige benachbarte gute Freunde, die Herren von Ohnehosen, von Plundermilch und von Schafkopf, mein Oncle, der Major von Bornau, Pastor Schwarz, Amtmann Burrmann, mit ihren Gemahlinnen, Kindern, Nichten, Tanten, Cousinen stellten eine kleine Spazierfahrt auf dem Rheine zu Schiffe an. Es war gerade der schönste Morgen im Julius. Zur Erfrischung und zugleich zur Unterhaltung hatten wir außer andern Bedürfnissen, Erdbeeren, Kirschen u. d. gl. mitgenommen. Mein Oncle, der Major von Bornau, der allerlei Spaß mit den| [72] Damen hatte, schnippte nach einem Fräulein von Ohnehosen, die er sehr gern zu leiden hatte, mehreremale mit Kirschkernen. Meine Wärterin, auf dem Bord des Schiffs, hat mich auf ihrem Schoß sitzen, ohne mich zu halten, um mit mir, wie gewöhnlich, zu kurzweilen. Schnipp – prellt ein Kirschkern an mein Köpfchen – und ich falle rücklings ins Wasser vom Bord hinab.

 

 

Meine Mutter sinkt in Ohnmacht. Alles schreiet – wer rettet? Glücklicherweise hatte meine Wärterin noch die meiste Gegenwart des Geistes und die wenigste Wasserscheue, ihr Gewand nass zu machen. – Sie springt sogleich ins Wasser, und eben in dem Augenblicke, als ich zum zweitenmale ein Ärmchen hervorstreckte, packt sie mich und bringt mich glücklich an Bord.

Die schrecklichen Folgen dieser Reise zu Wasser äußerten sich erst in meinem achten Jahre, wovon ich hernach reden werde.

Jetzt erst etwas über die mancherlei Torheiten und Absurditäten, wodurch Eltern, Verwandte, Domestiken und andere, Kinder verbilden und den ersten Samen zu Ausschweifungen, Weichlichkeit, Eitelkeit, Eigensinn u. dgl. streuen. Frage man dann, woher es kommt, dass die Kinder in erwachsenen Jahren so sind? Ich werde| [73] hier nur die gewöhnlichsten und zugleich die schädlichsten anführen.

William Hogarth Marriage A-la-Mode, The Inspection, ca. 1743, Öl auf Leinwand.

kalekutische Hähne: Truthähne

traktieret: bewirtet

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Sieben Hauptlaster oder auch die Sieben Todsünden: Geiz (Avaritia), Trägheit/Acedia (Disidia), Unmäßigkeit (Gula), Neid (Invidia), Zorn (Ira), Stolz (Superbia) und die Unkeuschheit bzw. auch Wollust oder Genusssucht (Luxuria). Von Pieter Brueghel, herausgegeben von Hieronymus Cock. Kupferstich 1558.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wirtshaus-Tanz, Radierung; 18. Jh., Nach David Teniers

 

In meinem vierten Jahre fing ich an, sehr interessant zu werden. Ohnerachtet der sehr eigenen Kleinheit meines Körpers, sah man doch schon unverkennbare Züge einer vollkommenen Schönheit, die sich mit jedem Tage zusehends entwickelte. Ein jeder mochte mich leiden; jeder machte mir Liebkosungen, rühmte meine Schönheit, meine Artigkeit. Selbst mein Vater, der sich sonst so wenig um mich bekümmerte, fing an, Vergnügen an mir zu finden. Mehrere Stunden des Tages blieb er oft um meinetwillen zu Hause.

Man zeigte mir immer die Teile, die edler sind, als dass man sie dazu missbrauchen sollte. Schon frühe wurde der Samen der Wollust dadurch rege gemacht. Und wem hatte ich dies zu verdanken? Niemanden anders, als denjenigen, die dadurch den Grund zu meinen nachherigen Ausschweifungen legten. Mein Vater hatte sogar einen kleinen Reim, den er dazu sang, wenn er mich aufs Knie – eine eben so schädliche Mode! – setzte, und mich reiten ließ. Auch meine kleine Wärterin, wenn sie mich nicht anders zum Schweigen bringen konnte, reizte mir diese empfind Teile; dann war ich mäuschenstille.| [64]

Unglücklicherweise war ich also die einzige Tochter der, Gott verzeih es mir! affenartigsten Mutter von der Welt. Fluchen möchtʼ ich, im Grabe noch derjenigen suchen, die mir das Leben und – wie soll ich es nennen? „Erziehung?“ Verbildung gab.

Mütter! habt ihr eure Kinder lieb – o so flehe ich euch um eures eigenen Glücks, um eurer Ruhe willen flehe ich euch – Mütter! wenn ihr euch dieses edlen Namens würdig machen wollet, braucht besonders bei der Erziehung eurer Kinder, besonders eurer Töchter mehrere Vorsicht und Sorgfalt. Geht doch nicht den gewöhnlichen Weg, da ihr entweder gar nicht auf sie achtet, sie roh aufwachsen lasset, auch nicht gern mit ihnen beschäftigen wollet – oder dass ihr zu viel mit ihnen tändelt. Beides macht sie zu den unglücklichsten Geschöpfen. Ich urteile und schließe von mir auf andere. Ich war nun einmal der beständige Gegenstand ihres unmäßigen Lobes, ihrer höchsten Bewunderung und das stets in anderer Gegenwart.

Es ist wahr, die Natur hatte viele Reize an mir verschwendet. Ein Gesicht, gleich den Lilien und Rosen; Augen, groß und veilchenblau; ein Wuchs, schlank wie die Tanne; ein Lächeln, wie das Lächeln einer Huldin; ein Füßchen – so| [75] klein und nett, zum Entzücken; ein Gang, so klein ich auch noch war, wie der Gang einer Grazie – die naivesten Einfälle zum Lachen –das alles war in einem hohen Grade in mir vereinigt. Aber durfte ich dies so früh schon wissen? Musste man mir das –sogar in Gegenwart anderer – rühmen? Musste man in frühester Jugend mich schon dahin leiten, diese Güter als einzige höchste Güter der Glückseligkeit, gerade für das zu halten, was sie nicht sind?

Man tat alles, was man nur konnte, um mich frühe so eitel als möglich zu machen. Wenn die Kinder unsrer Nachbarn, die Fräulein von Schafkopf, und von Ohnehosen; Pastors Minchen und Fiekchen, die wenige Jahre älter waren als ich, die aber nicht die neuesten Moden mit machten, in gewöhnlichen Kleidern gingen, so gab mau mir hingegen alles so neu, so geschmackvoll, so reich und schön, dass sich eine Prinzessin solcher Kleider nicht geschämt haben würde.

Ach wie galant ist Emilie! Welch ein schönes Mädchen! hörte man überall, ertönen. Ach! ein ganz schönes Fräulein! –

Alles, was ich sah, machte mir Liebkosungen, Schmeicheleien. Mein Geist fand so viel Behagen daran, dass sich die hohe Meinung von mir mit jedem Tage vergrößerte, so dass ich schon| [76] am Ende meines zehnten Jahres launigt und missmütig war, wenn man mich in Gesellschaft nicht genug gelobt hatte.

So geht es, Mädchen! Nicht wahr? Wer man euch die Eitelkeit mit der Muttermilch einflößte, sie immer stärker anfachte – diesen Funken, der schon für sich selbst zu einem groß Feuer anwächst und durchaus keine Nahrung bedarf.

bei der Erziehung eurer Kinder, besonders eurer Töchter: Die Erziehung der Mädchen wurde in der Pädagogik der Aufklärung kontrovers diskutiert.

Huldin: grazie, auch freier bezeichnung einer anmutreichen person (DWB)

Grazie: Die Chariten sind in der griechischen Mythologie nur „Untergöttinnen“ und Dienende der Hauptgötter, die mit Aphrodite, aber auch Hermes und Apollon in Verbindung stehen. Sie entsprechen in der römischen Mythologie den drei Grazien, gratiae. (Wikipdia)

 

Mode des späten Rokoko

 

Elisabeth Louise Vigée-LeBrun: Portrait of Marie Joséphine of Savoy (1753-1810), Countess of Provence. Öl auf Leinwand 1782. Collection Musée Hôtel Bertrand, Châteauroux

 

Jean-Bernard Duvivier: Portrait of the Villers Family. Öl auf Leinwand 1790. Groeningemuseum.

 

Thomas Gainsborough: Portrait of Mrs. Thomas Hibbert. Öl auf Leinwand 1786. Neue Pinakothek.

 

Väter! Mütter! Macht ihr eure Kinder eitel durch Putz, durch allerlei Lobeserhebung von Schönheit, Grazie, Zauber, die sie in ihr frühen Jugend von euch hören – wem anders haben sie ihr nachheriges Unglück zu danken? Niemandem, als euch. Ihr waret es, die ihr ihnen zu hohe Begriffe einflößtet. Und – was ist denn Schönheit? Sie besteht doch mehr in der Einbildung, als in der Wirklichkeit. Wo gibt es weibliche Vollkommenheit? Wie so selten findet man sie. Und wenn wir sie finden – wie bald ist sie verblüht die Rose, wenn der brennende Mittagswind darüber haucht. Und was ist Putz, Kleidung? Elender Flitter. Gebt dafür euren Kindern Tugend, edle Bescheidenheit, anständige Sitten. Lasst sie nicht in Putz und Mode ausschweifend werden – und ihr gebt ihnen Güter, die unvergänglich sind, welche die höchste Zufriedenheit, das wahreste Lebensglück gewähren.| [77]

Die erstern Spiele, die den Samen der Koketterie in meine junge Seele streuten, begannen schon mit dem sechsten Jahre. Man ließ die Kinder der Nachbarn kommen und nun musste ich mir alle Tage einen andern darunter zu meinem Bräutigam auswählen, und ihn herzlich drücken und küssen. Vater, der an meinem feurigen, lebhaften Gaukelspiel Gefallen hatte, konnte nicht oft genug kopulieren. Sobald ich meine Jungen recht fest in meine Arme gepackt hatte, rief ich:

Kopulieren – Väterchen! kopulieren. –  Schon in meinem achten Jahre fand ich ein solches Behagen an Küssen, dass man nicht nötig hatte, mich dazu zu nötigen. Süßes Entzücken, eine schauerliche durchs Blut strömende Hitze empfand ich bei jeder herzlichen Umarmung des Junker Fritz, Herrmanns u. a. m.

Sagt, Eltern! kann man etwas törichters denken, als diese noch immer von so vielen Eltern unschuldig geglaubte Spielerei? Wer vernünftig sein will, der leide doch nie so etwas, oder flöße Kindern solche Triebe ein, die mehr als zu frühe wach werden. Der Schaden ist unnennbar groß, der dadurch gestiftet wird, größer, als es Eltern glauben.

Noch mehr. Schon von meinen frühesten Jahren handelte meine Mutter sehr unnatürlich| [78] gegen mich – eben so, wie ich nachher in meinen erwachsenen Jahren so viele Mütter gegen ihre Töchter handeln sah – weil mein Gesicht, mein Körperbau und alles eine griechische Schönheit verkündigten; weil ich die einzige war. Ich wurde so zärtlich und weichlich gewöhnt in allen Stücken, dass ich in meinen ältern Jahren mir selbst gram war, wenn ich dies oder jenes nicht essen, diese oder jene Luft nicht ertragen konnte, weil ich nicht daran gewöhnt war. Meine zarten Glieder durfte ich nicht einem jeden Winde und Wetter aussetzen, um die extra feinen Züge meines englischen Gesichtchens nicht zu verderben. – Die zu große Nachgiebigkeit gegen meinen Eigensinn in meinen frühern Jahren, damit ich mich nicht ärgern möchte, und der seltene, größtenteils zur Unzeit angebrachte kindische Ernst, der so bald in Scherz übergeht, die beständige Hohnneckerei – alles das musste notwendig den Grund legen zu meiner Schwächlichkeit, Verzogenheit, zu den reizbaren Nerven u. s. w. Wenn ich sah, dass meine Gespielinnen sich allen Unbequemlichkeiten des Windes und Wetters bloß stellen durften, ohne im mindesten eine Wirkung auf ihren Körper zu empfinden; so bekam ich in solchen Fällen allemal Zahnschmerzen, Schnupfen oder steifen Hals. – Ein Glück für mich, dass sich das in meinen älteren Jahren| [79] einigermaßen verlor. Doch – was kann der Körper nicht gewohnt werden?

kopulieren: von lateinisch cōpulātio „Verbindung“ entlehnt; intransitiv: den Geschlechtsakt vollziehen; transitiv: zu Mann und Frau erklären.

Hohnneckerei: Spott

 

Antoine Watteau: Die Champs Elisées. Öl auf Holz, um 1721

 

 

 

Jean-Honoré Fragonard: Der gestohlene Kuss. Öl auf Leinwand, um 1760. The Metropolitan Museum of Art.

 

 

 

Göttinger Taschen Calender für das Jahr 1792

 

In meinem achten Jahre bekam ich eine sehr heftige Krankheit. Sie äußerte sich durch Übelkeit, öfteres Brechen, bleiches Aussehen, schreckliches und schmerzhaftes Fressen in den Eingeweiden und – einen in die Augen fallenden dicken Bauch. War ich nur noch sechs oder sieben Jahre älter; so hätte man etwas anderes mutmaßen sollen. Doktor Pillenius, meiner Mutter Leibarzt, der uns oft besuchte, aus Ursachen, die meine Leser kennen, wurde also auch hier zu Rate gezogen. Man kuriert mich aufs Wurmfieber. Aber zu dem größten Erstaunen des Doktor Pillenius geht mir ein Fisch, mit Gräten, Floßfedern und Schuppen bei Stücken ab. Eine wunderseltsame Begebenheit, die sich der Doktor nicht erklären konnte. Ein Fall, den er, so geschickt er war, denn er besah niemand das Wasser, welches zu der Zeit ein wahres Phänomen war, noch nie gehabt hatte. Zum ewigen Andenken setzte er die abgegangenen Stücke, nachdem er sie gehörig gesäubert und gereinigt hatte, in Spiritus. Sehr wahrscheinlich besitzt er diese Naturseltenheit noch jetzt in Petersburg, wenn er noch lebt. Denn er wurde damals von der höchst sel. Kaiserin von Russland mit einem Gehalt von|[80]tausend Rubeln nach Petersburg als Leibarzt Ihrer Majestät berufen.

Das war eine schreckliche Folge; so erklärte es der Leibarzt, der ein großer Naturkündiger war, und es mag wohl wahr sein! von jener Reise zu Wasser, wo ich mit einem Kirschkerne in den Rhein geschnippt wurde. Ich mochte das Eichen eines Fisches mit dem Wasser verschluckt haben. Dies hatte sich in meinen Eingeweiden festgesetzt, war allmählich gewachsen – und hatte mir eine solche heftige Krankheit zugezogen. –

Ich erholte mich, sobald das garstige Tier, welches doch wohl drei Pfund wiegen mochte, von mir gegangen war, bald, wuchs und gedieh zusehends, und wurde nun fast überall in Gesellschaften gezogen. Vater und Mutter reiseten nicht so oft aus, als sie mich mitnahmen. Auch mochte man mich meiner naiven Einfälle wegen überall gern haben. So oft meine Eltern ausgebeten wurden; so wurde es auch zur unbedingten Klausel gemacht, ja Emilien mit zu bringen.

 

Floßfedern: Fischflosse

Leibarzt: Melchior Adam Weikard, auch Weickard, Weikhard (*1742-1803) war als Brunnenarzt und Amtsphysikus im fuldischen Brückenau tätig. Im Jahre 1770 berief ihn der Fuldaer Fürstbischof Heinrich von Bibra nach Fulda, wo er sich als Arzt niederließ und stieg nacheinander zum Hofrat, Leibarzt des Fürstbischofs und Professor der Medizin an der Fuldaer Universität Adolphina auf. Weikard praktizierte zudem in seinem Haus, genannt „Sonnenbäckersch“, gegenüber der Stadtpfarrkirche St. Blasius. Daneben war er weiterhin bis 1776 als Physikus des Amtes Brückenau und Badearzt in Brückenau tätig. 1784 erfolgte seine Berufung als Hofarzt der russischen Zarin Katharina II. am Zarenhof in St. Petersburg. Dort wurde er 1785 zum Staatsrat ernannt und war bis 1789 tätig, bevor ihn die aufreibenden Gesellschaften dazu veranlassten, den russischen Hof zu verlassen. Von 1791 bis 1792 stand er als Leibarzt im Dienst des Fürstbischofs Karl Theodor von Dalberg in Mainz, nach dem Ausscheiden praktizierte er bis 1794 in Mannheim, danach in Heilbronn. In Heilbronn ergänzte der als Wunderarzt geltende, weitgereiste Weikard als Brownianer die ansonsten dem Heilmagnetismus zugeneigten Stadtärzte Eberhard Gmelin und Friedrich August Weber. Dort entstand auch sein bei Class verlegtes Medizinisch-practisches Handbuch. Zar Paul versuchte, Weikard mit der Ernennung zum kaiserlich-russischen Staatsrat wieder nach Russland zu locken, wodurch es zum Streit Weikards mit dem Heilbronner Magistrat kam. Statt nach Russland wandte sich Weikard nach Fulda, wo er 1803 als fürstlich-nassauischer Geheimrat als Direktor der Medicinalanstalten ernannt wurde, bevor er im selben Jahr in seinem Geburtsort Römershag starb.
(Wikipedia)

 

Melchior Adam Weikard: Der philosophische Arzt. Erstes und zweites Stück, dritte Auflage, Linz 1787.

Viele Ärzte und Naturforscher haben von dem Ursprunge unseres Lebens heutiges Tages ungefähr folgende Meynung: Das Weibchen hat Eyerchen an den Eyerstöcken. In dem Eychen liegt der Thierkeim, das ist, ein kleinster Punkt, welcher ein unentwickeltes Thierchen im Kleinsten vorstellt, Dieser Keim liegt hier unentwickelt, gleichsam schlafend, ungefähr so, wie die Fledermaus oder die Stubenfliege im Winter liegt. Er hat eine gewisse Reizbarkeit, worauf etwa nur das Flüchtige des männlichen Samens passend ist. Dieser feinste Theil des Samens allein, wenn er auf die jedem Geschlechte bekannte Weise zum Eichen des Weibchens gebracht wird, durchdringt das Eichen, reift den Thierkeim, so daß der Anfang einiger Bewegung in selbigem verursacht wird. Diese Bewegung mag anfänglich die allergeringste und undeutlichste seyn; sie wird aber nach und nach stärker, so wie einige Theile zugenommen haben, oder fester geworden sind. Es entsteht in den flüssigen Theilen eine immer deutlichere Hin- und Herbewegung, hiedurch eine Ausdehnung der festen Theile, eine Entwickelung der Kanälchen, Glieder; es fliessen mehr nahrhafte Säfte herbey: es entsteht überhaupt das, was man Wachsthum heißt, welches bey Physiologen deutlich und weitläuftig genug behandelt ist, oder doch behandelt seyn sollte.
Erster Teil, S. 149f.

 

Aber welches Gift kann tötender und entnervender sein, als das, welches ein Mädchen in unsern gewöhnlichen Gesellschaften einsaugt. Ach! man ist wahrlich nicht delikat genug. Man sagt Dinge ohne alles Erröten, ohne alle Zurückhaltung, wovon unsere Alten nicht glauben,| [81] dass man sie oft schon wisse, oder darüber nachdenke. Man bedient sich wohl der Zweideutigkeiten, geheime Winke, einer leisen Sprache – aber gerade dies macht ein Mädchen nur noch aufmerksamer, und das Übel ärger. Oft ist man laut – der Wein macht jovialisch; man vergisst sich. Man geht immer weiter; man wird offener, die delikatesten Dinge werden nicht mehr im verschleierten Gewande vorgetragen. Es geht so viel Schlüpfriges mit unter. Das Mädchen vergleicht, erweitert seine Ideen. Es sieht es dem Vater, der Mutter, den übrigen Gästen an, dass ihnen dies Kapitel das Angenehmste ist. Über dergleichen Gegenstände hatte ich nun schon oft in mehreren Gesellschaften meine Eltern sprechen gehört; ich hatte mit meinen Gespielinnen, dem Fräulein von Ohnehosen und von Plundermilch, mit Pastors Fiekchen darüber gesprochen, wo ich denn etwas mehr Licht bekam. Aber wenige Tage darauf kam ich hinter das ganze Geheimnis.

Auf welche Art? Ach! es ist schrecklich zu sagen. Eltern! so oft ihr eure Kinder dem Gesinde überlasset; so sind sie in der größten Gefahr.

Wo Gesinde, schlechtes Gesinde, buhlerisches Ungezüchte ist in ihren Stuben, wohinein man so gerne geht, weil man da so manches bekommt; | [82] weil man so sehr gelobt wird, und sich dadurch das Gesinde so gern das Zutrauen der Tochter des Hauses erwirbt, um ungehindert ihren Lüsten nachgehen zu können – ach! da erfährt das noch unschuldige Kind Dinge, die es entweder gar nicht,– und das ist fast unmöglich – oder doch auf eine bessere Art erfahren sollte. Hier war es, wo mein Herz zwar in einer Entdeckung, worüber ich lange nachgedacht hatte, sich glücklich fühlte: aber die nun auch schon in meinem zehnten Jahre mir solche Reize verursachte, die für mich, für mein ganzes übriges Leben den traurigsten Einfluss, die bedauernswürdigsten Folgen hatte.

Verfluchen möchte ich, in den Abgrund verfluchen, alles, was sich in Masse hindrängte, um mein Elend zu bilden. Aber sollte es nicht tausenden meiner Schwestern eben so gehen?

Meine Eltern waren ausgereiset. Und ich – die Ursache weiß ich selbst nicht, warum ich eben zu Hause blieb – mit einem Kammerzöfchen meiner Mutter, dem größten Scheusale der Menschheit allein. Wir begaben uns auf ein Zimmer im obersten Stockwerk, wo wir uns einschlossen. So schamhaft ich auch war; so musste hier mein Gesicht erröten, als ich sah, dass sich dies Mädchen ganz entkleidete, und mir Dinge vor die Augen kamen, die ich nie gesehen hatte. Ich | [83] musste mich auch ausziehen. Meine Schamhaftigkeit kämpfte lange wider diese Unsittlichkeit. Aber –was half mein Sträuben? Die Vorstellungen der Dirne gewannen so viele Gewalt über mich, dass ich endlich nachgab. Wir sprangen da – es war eben ein sehr heißer Sommertag – herum. Und nun entdeckte mir dies Mädchen alle nur mögliche Geheimnisse der Natur mit den wollüstigsten Stellungen und Gebärden.

Was hätte diese Unholde verdient, die es sich rühmte, den Tempel der Wollust schon im zwölften Jahre betreten zu haben? Steupenschlag und Brandmark? Nein! Alle Martern und Strafen der ganzen Welt in eins gefasst, sind lange noch nicht Strafe genug.

Könnte ein Vater, eine Mutter bei der jetzigen üppigen, immer mehr einreißenden, von Vater auf Sohn, von Mutter auf Tochter durch die traurigsten Bespiele forterbenden, die ganze Menschheit zerrüttenden entnervenden Lebensart verhindern, dass Kinder nie mit ihrer Entstehung bekannt würden – Könnte man aus den jungen Seelen, den brennendheißen Durst, hinter dies Geheimnis zu kommen, bis zu den Punkt, wo es nötig wäre, es zu wissen, ganz heraustilgen. – Könnte man es dahin bringen, dass sie nicht eher, als bis zu ihren mannbaren Jahren| [84] irgend eine tierische Begattung zu sehen bekämen; so möchte ich es immer zugeben, dass man Kindern aus ihrer Entstehung ein Geheimnis machte. Aber – da dies unmöglich ist; so möchte ich für das Glück der ganzen Welt hiemit den Wunsch tun:

Väter, Mütter! Erzieher, Erzieherinnen! Macht die Kinder, so früh ihr könnt, mit ihrer Entstehung bekannt. Warum sollen natürliche Dinge Geheimnisse für sie sein, da sie diese frühe genug auf eine, für die Eltern unverantwortliche und noch mehr für die Kinder höchst verderbliche Art erfahren. Warum sollen Erdichtungen – oft so unkluge Erdichtungen, die zu läppisch sind, als dass ich eine davon anführen möchte – mit den lächerlichsten Farben aufzutragen, wobei das Kind dem Vater, der Mutter oder den andern Menschen, die unberufen dies Geschäft übernehmen, die Lügen aus den Augen lesen kann, die Stelle der Wahrheit einnehmen? Warum sollen so manche Kinder dadurch ein größeres Zutrauen zu den Domestiken, als zu den Eltern bekommen? Ist euch diese Wahrheit durch mein eigenes Beispiel nicht einleuchtend genug; so vermag ich sie euch nicht klarer zu schildern.

Aber diese Erklärung geschehe mit der ganzen Würde, die sie verdient; auf eine der Natur| [85] der Sache angemessene Art. Man sei nicht mehr so geheimnisvoll bei den Geburten der Tiere. Man lasse ihnen erst diese sehen und mache ihnen kein Märchen vor. Denn die Eltern verlieren immer sehr, wenn Kinder dergleichen zufälliger Weise zu sehen bekommen – und wo sind sie vermögend, Begattungen oder Geburten ihren Augen ganz zu verbergen? – und wie wollen sie es denn anfangen, die Wahrheit zu überschleiern.– Aber auch zu sagen: die Tiere oder die Mütter pissen sie aus? Wie ich in einem Buche, von einem sonst gelehrten und einsichtsvollen Manne las – ist unwahr und – empörend. – Dann gehe einer von der Erklärung der Tiergeburten zu jenen über. Kinder werden dann mehr Zutrauen zu ihren Eltern haben; ihre Liebe für sie, besonders für die Mütter, ich stehe dafür, wird dadurch sehr zunehmen; sie werden dann nicht beständig grübeln; sich nicht mit ihren Gespielen auf eine lächerliche Art über diese Materie unterhalten; nicht zu dem Gesinde ihre Zuflucht nehmen u. d. gl.

Doch genug hievon. Nur das Einzige noch Zu frühe mit einem Kitzel vertraut, den ich schon so lange in meinem Innern fühlte, nährte ich die Wollust in meinem Busen, und erstickte fast unter diesen namenlosen Gefühlen von Reizen, deren| [86] Befriedigung ich nicht geschwinde genug herbei wünschen konnte.

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jovalisch: heiter gesinnt

 

Göttinger Taschen Calender für das Jahr 1799

Steupenschlag: steupen: züchtigen

Brandmark: Schandzeichen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

in einem Buche, von einem sonst gelehrten und einsichtsvollen Manne: Johann Bernhard Basedow (1724-1790) war ein deutscher Theologe, Pädagoge, Schriftsteller und Philanthrop der Epoche der Aufklärung.

Basedow entwickelte sich zu einem der führenden Köpfe der Philanthropen, einer reformpädagogischen Bewegung während ab 1757 der Zeit der Aufklärung. Unter dem Postulat der Nützlichkeit und Brauchbarkeit des Individuums für die Gesellschaft wollte sie eine neue Erziehung begründen, die gesellschaftliche Veränderungen automatisch nach sich ziehen sollte. Diesen Fortschrittsoptimismus teilte er mit anderen Aufklärern Unterricht.

1771 rief ihn Fürst Leopold III. von Anhalt nach Dessau, damit er dort seine pädagogischen und reformerischen Ideen verwirklichen konnte. In Dessau plante Basedow das Philanthropinum, eine „Pflanzschule der Menschheit“, in der Kinder verschiedener Herkunft im Sinne des aufklärungspädagogischen Gedankenguts (standesgemäß) erzogen werden sollten.

 

Nach der Eröffnung im Dezember 1774 gingen zahlreiche Spenden in Dessau ein, und die Zahl der Schüler stieg rasch an. Führende pädagogische Reformer konnten als Mitarbeiter gewonnen werden: Christian Heinrich Wolke, Joachim Heinrich Campe, Ernst Christian Trapp, Christian Gotthilf Salzmann u. a. Gegenüber der von den Aufklärungspädagogen kritisierten Lern- und Paukschule betonte Basedow das spielerische Element im Elementarunterricht, das Lernen durch Anschauung und Selbsttätigkeit, die Betonung der lebenden Fremdsprachen, die Pflege der Muttersprache. Basedow führte am Philanthropinum auch Leibesübungen zum Zweck der Jugenderziehung ein. Das enge Zusammenleben der Lehrer mit ihren Zöglingen im Internat sollte darüber hinaus deren Charakter formen.

1774 legte Basedow sein pädagogisches Elementarwerk vor, in dem er in neun Büchern Grundfragen der Erziehung des Menschen, der Logik, der Religion und der Sittenlehre behandelte sowie die Beschäftigungen und Stände der Menschen, Geschichte und Naturkunde. Zu den Schwerpunkten, denen er große Bedeutung beimaß, gehörte auch die geschlechtliche Aufklärung und Unterweisung.

Bereits in seiner Philalethie (Altona 1764) hatte er die Forderung an alle Eltern und Erzieher gestellt, den brennenden Fragen der Kinder nicht auszuweichen, sondern sie wahrheits- und kindgemäß zu beantworten. In seinem Elementarwerk gab er auch praktische Anregungen für die Unterweisung in Elternhaus und Schule. Daniel Chodowiecki schuf dafür die Kupfertafeln. Mit dem Elementarwerk schuf Basedow das moderne Realienbuch: Es verband Text und Bild sowie Sachinformationen, die dialogisch erörtert wurden.

 

Das Basedowische Elementarwerk. Ein Vorrath der besten Erkenntnisse zum Lernen, Lehren, Wiederholen und Nachdenken. Zur Zeit Kaiser Josephs II. Zweite sehr verbesserte Auflage, Leipzig 1785.
Wikipedia

 

Wo kommen die Kinder her? fragte der Knabe. Das dürfen nur verheyrathete Leute wissen, antwortete die Mutter: kleine Kinder müssen nicht so neubegierig seyn. So hilft sich zwar die Mutter aus der Verlegenheit: aber sie mag wissen, daß der kleine Knabe, der durch diese Verachtung gereizt wird, nicht ruhe, bis er gelernet habe, was nur verheyrathete Leute wissen dürfen.

Der kleinen Sohn einer sehr ehrbaren und weisen Mutter, welche zuweilen mit dem Harne Steine von sich gab, fragte sie einst: Wo kommen die Kinder her? Mein Sohn, antwortete die Mutter ohne langes Bedenken: die Frauen pissen sie mit solchen Schmerzen aus, die sie zuweilen das Leben kosten.

 

Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker, Von Johann Bernhard Basedow, Zur elementarischen Bibliothek. Dritter Auflage. Dessau, 1773, S. 122f.

 

 

Pastor Schwarz hatte bei seinen Kindern einen Hauslehrer, Namens Gänsekiel. Dieser musste mich einige Stunden des Tages unterrichten. Schreiben war mir das angenehmste – und ich machte bald große Fortschritte darin, weil ich mehr als zu frühe einsahe, wozu man diese Kunst brauchen könnte. Die Geographie machte mir auch einigen Spaß. Französisch lehrte mich eine Demoiselle. Auch dies lernte ich bald und mit dem innigsten Vergnügen. Aber zu nichts fühlte ich weniger Trieb, als zur Religion. Da von wollte ich gar nichts wissen. Ich war viel zu klug, als dass ich das alles hätte für wahr halten können, was mir mit dem eiskaltesten Herzen von der Welt Gänsekiel nach dem alten kirchlichen System, wo er den Landescatechism zum Grunde legen musste, vorradebrechte. Nicht das Mindeste empfand ich bei seinem kalten, trockenen, faden Gewäsche. Ich sah es ihm ganz klar an seinem Gesichte, auf welchem immer der Angstschweiß stand, dass es ihm gar so nicht ums Herz war. Auch schon zu sehr an Zerstreuungen gewöhnt, hatte meine Einbildungskraft zu viel mit andern Gemälden zu schaffen, als dass ich mit Ernst an| [87] Religion in dieser Form hätte denken oder Geschmack daran finden können. Kann ich davor dass es mir ging, wie so vielen tausenden meiner Mitschwestern? Wie viele gibt es denn wohl unter dem aufgeklärten weiblichen Geschlecht, die nach Grundsätzen der Religion denken und handeln? Sehen wir nicht mehr als zu sehr, dass die Menschen überhaupt genommen, mehr heilige Grimasse annehmen, als dass sie wirklich rechtschaffen sind? Glaubt doch der größte Teil, wahre Religion bestehe in der Ausübung äußerlicher Gebräuche. Die Religion der Kirche sei eine ganz andere Sache, als die Religion des Lebens. Wie viele Menschen beten und lesen ihre Sachen ab, nehmen zu gewissen Zeiten die frömmste Maske an, und sind doch in ihrem Innern, im Häuslichen, unter ihren Bekannten, bei der Flasche Wein ⁊c. ganz andere Geschöpfe, oft wahre Bösewichter, die nicht wissen, wie sie die Menschen genug quälen wollen.

Ich hatte auch nun schon, da ich schreiben und lesen konnte, ein kleines Amt im Hause, worauf ich mir nicht wenig zu gute tat. Ich ward zur Einnehmerin aller Steuren und Gefälle gesetzt – und freute mich über nichts mehr, als wenn die Bauern so gutwillig Eier, Hühner, Würste, Schinken u. d. gl. brachten. Das gutwillige| [88] Völklein, dachte ich, hat sich in vorigen Zeiten alles so willig auflegen lassen! Aber das soll mir ganz Bellingen und überhaupt alle unsere zinsbaren Leute zum Ruhme nachsagen: ich schenkte so manchem armen Menschen, von welchem ich sahe, dass er es nicht geben konnte, oder der mich dringend um Erlass dieser drückenden Abgabe bat – nicht allein die Schuld von mehreren Jahren, sondern ich gab ihm oft aus meiner kleinen Sparkasse noch Geld zu. Dafür waren mir die Leute alle recht herzlich gut; aber es hätte nicht viel gefehlt, weil einmal eine Zeit Mangel an Eiern und Hühnern war, und meine Mutter dies bemerkte, ich wäre von meinem Amte entsetzt worden.

Pastors Minchen und Fiekchen waren meine Vertrauten. Diese eröffneten mir denn wieder bei so manchen einsamen Spaziergängen in den Wald, wo uns niemand beobachtete, so vieles – was das Feuer in meinem Busen nur noch zu einer größern Flamme anblies.

Gänsekiel hielt es mit beiden Töchtern des Pastors. Er liebte sie beide, ohne dass sie beide darum wussten. Die eine war funfzehn, die andere siebenzehn Jahr. Jede glaubte allein geliebt zu sein. Jeder hatte er, wenn er zu einer Pfarre gelangen würde, die Ehe versprochen, Und mit| [89] jeder –wer hätte es denken sollen! feierte er in den verschiedenen Stunden, wo er mit jeder allein war: denn der einen lehrte er allein das Klavierspielen und die andere unterrichtete er im Französischen, oder bei nächtlichen Spaziergängen bei dem Schein des lieben Mondes, in den Schäferstunden der Liebe – und Ehren Schwarz hatte mehr als zu viel Vertrauen zu diesen Hauslehrer, als dass er ihm seine Kinder verführen würde.

Mit welchen schlüpfrigen Bildern jede von diesen Kindern mir die sinnliche Liebe schilderten – musste dies nicht Eindruck in mein Herz machen, das ohnehin zum Leichtsinn, zum flüchtigen Blumenleben so sehr gestimmt war?

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Landescatechism: Der Katechismus, ein Handbuch zur Unterweisung in Glaubensfragen, diente den verschiedenen Landesherren nach der Reformation zur Vereinheitlichung der Konfession der Untertanen und damit zur Sozialdisziplinierung.

Am 6. September 1792 wurde der Hannoversche Landeskatechismus eingeführt. Die Stände stimmten der Einführung zu, da seine Milde dem theologischen Zeitgeist entsprach, während Luthers Katechismus als zu orthodox und veraltet angesehen wurde.
Wikipedia

 

Katechismus der Christlichen Lehre : Zum Gebrauch in den Evangelischen Kirchen und Schulen des Königreichs Hannover. Mit Königlichem allergnädigsten Privilegio von 1790. [Johann Benjamin Koppe] Lüneburg

Steuren und Gefälle: Steuern und fälliger Zins

unsere zinsbaren Leute: dem oberherrn tributpflichtig, zur entrichtung auferlegter abgaben gezwungen (DWB)

 

 

 

 

 

Göttinger Taschen Calender für das Jahr 1796

 

 

 

 

 

Göttinger Taschen Calender für das Jahr 1798

 

Man beging meinen vierzehnten Geburtstag so feierlich, dass ich nichts ähnliches sah. Alle jungen Leute der Gegend, alle Bekannte und Freunde meiner Eltern waren dazu eingeladen. So klein ich in meinen ersten Jahren war; so geschwind wuchs ich heran, von der Zeit an, als erst der garstige Fisch aus meinen Eingeweiden war. Ich hatte schon eine ziemliche Größe erreicht, wie es denn allen Mädchen so zu gehen pflegt, die frühe an die Liebe denken. Hier war nun des Lobes kein Ende. Mein schönes neues Kleid, meine Spitzen, mein ganzer Schmuck,| [90] meine goldene Uhr, die ich an diesem Tage vom Vater erhielt – und nun mein Körper, mein Gesicht bis zum Fuß, das Haar, und die schönen blauen Augen – nichts wurde vergessen. Und nun gings über meine Seele her. Witz, Verstand, Scharfsinn, mein naives Wesen, meine komischen Launen – alles musste die Runde passieren. Ich war bescheiden genug, äußerlich wenigstens alles für Komplimente zu nehmen – aber im Innern arbeitete es mir ganz anders. Vater, Mutter, Spiegel, Einbildung – hatten mir dies längst zu laut gepredigt.

Anfangs tat die Gesellschaft sehr sittig. Man saß ein Stündchen steif und pedantisch. Als aber erst die Formalitäten abgemacht waren, alles genug bewundert war, und man wenig Stoff mehr zur Unterhaltung hatte –denn so viel man auch liest; so wird doch der eigentliche Zweck des Bücherlesens meistens verfehlt: der größte Teil der Menschen ist abgestumpft, entnervt, liest nur, um sich zu zerstreuen, und wissen vor aller Zerstreuung nicht, was sie gelesen haben – ward Wein hergegeben. Man handelte hier nun noch die Lehre vom Wetter, von guten und bösen Zeiten, vom Kriege und Frieden, die Nouvellen des Tages ab, und nun gings über den Nachbar, den Bruder, den Freund her. Nachdem man| [91] einem jeden sein Recht oder Unrecht hatte widerfahren lassen und die weiblichen Zungen des Geredes, Geträtsches und Geklatsches müde waren, rangierte sich ein Teil der Alten zu der Herz und Laune erweckenden Flasche, ein anderer zu den Lʼhombre- und Quadrilletischen – wo man den Konversationsgeist weniger anzustrengen braucht. Die jungen Leute entledigten sich des Zwanges und gingen in den Garten. Hier waren sie ganz anders, als in der Gesellschaft. Hatten sie sich da noch bescheiden ausgedrückt, nur zuweilen und ins Ohr, ganz heimlich, mit kleinen Blümchen aus dem Gefilde der Wollust um sich geworfen; so wurden hier beide Geschlechter ganz ausgelassen. Hier flogen ganze Sträußer. Noch nie hatte ich eine so ausschweifende Lustigkeit unter jungen Leuten wahrgenommen. Aber was tut der Wein und die Freude? Bald – ging es vom süßen Taumel übertrunken an ein so unbarmherziges Küssen, dass ich beinahe sinnlos wurde.

Was durch Braut und Bräutigam, durch Hochzeitsspiel begann; was durch Verzärtelung in Essen und Trinken; durch Entziehung der frischen Luft; durch Nährung des Eigensinns, durch den in mir zu früh geweckten Hang zur Eitelkeit fortgeführt wurde; was die hässliche Dirne mir entdeckte; was die Einbildungskraft noch mehr| [92] ausmalte; was Umgang, Beispiel, Unterredung anderer über delikate Gegenstände in mir so früh zur Reife kommen ließ, das vollendeten die Jünglinge durch Küsse, durch zügellose ungezogene Aufführung.

Nach unsern Spaziergängen kamen wir zu Hause und nun wurden Pfänder, Rätsel und Fragespiele gespielt bis zum Aufbruch; wobei es denn zu meinem Vergnügen wieder recht viel zu küssen gab.

Was waren die Früchte davon? Die folgende Nacht hatte ich beinahe keinen Augenblick Ruhe. Mein ganzes Blut war erhitzt. Die feurigsten Bilder der Phantasie umschwebten mich mit den entzückendsten Gaukeleien der Jünglinge, die mich heute so leidenschaftlich geküsst hatten.

Jünglinge! schont die jungen Mädchenseelen, und vergiftet sie nicht durch eure übertriebenen Schmeicheleien, noch weniger durch eure insolente Zudringlichkeit, durch eure Neerströmungen von Liebeserklärungen und Küssen. Die Mädchen sind die schwächsten Geschöpfe. Küsse mögen auch immer erlaubt sein – Küsse, wie sie die Freundschaft gibt, aber nicht wie die heftige leidenschaftliche Liebe; Küsse, die unser Blut in die heißeste Wallung, in eine Art von entzücken der Ohnmacht versetzen. Diese Erschütterung ist zu| [93] stark. Schont der Schwäche eurer Mädchen und seid edeldenkender, bescheidener. Zeigt auf eine andere Art eure Verdienste, eure Würden und – ihr verdient dann höhere Achtung.

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Nouvellen: Neuigkeiten

 

Göttinger Taschen Calender für das Jahr 1799

zu den Lʼhombre- und Quadrilletischen: Kartenspiele und Spieltische

 

 

 

 

Ein Quadrille- Tisch (zusammenklapparer Tisch), Blatt mit der fortlaufenden Nummer 170 (Verlagsnummer 34) aus der Folge „Tischlerarbeiten von Johannes Rumpp etc.“, herausgegeben von M. Engelbrecht. Museum für angewandte Kunst, Wien.

Konversationsgeist: geistreiche Konversation

 

François Boucher: Schäfer und Schäferin, 1760. Kunsthalle Karlsruhe.

 

Meine Mutter brachte mich, wie es in unserm Hause üblich war, nach zwei Uhr einst selbst zu Bette und half mich auskleiden. Sie hatte dies schon oft aus übergroßer Zärtlichkeit gegen mich getan; so dass ich es schon ganz gewohnt war. Aber – wie erschrak ich, als sie mir auch das Hemde so geschwinde vom Leibe zog, dass ich selbst nicht wusste, wie mir geschah. Und nun? welche Schwachheit! war des Bewunderns kein Ende.

„Meine Emilie! welch ein Wuchs! Du Engel in Menschengestalt!“ Denken kann man sich das Entzücken, womit diese Worte ausgesprochen wurden.

„Zum wenigsten muss dir ein Graf, ein Herzog zu Teil werden. Selbst für einen König wärst du schön genug!!!

Ich konnte nicht antworten. Ich schlug die Augen nieder. Soll man einer Mutter nicht glauben?| [94]

Genug bewundert zog sie mich wieder an. Ich legte mich mit diesen schönen Phantasien zu Bette. Man schwatzte von nichts als Grafen und Herzöge, von Fräulein, die Maitressen beim ****n, beim Fürsten von **** wären. Wer nur im Hause Geschichtchen vorzubringen wusste, von Fräulein, die Grafen, Herzöge u. d. gl. geheiratet, der tischte mir diese Schmeicheleien auf, die ich mit der größten Begierde einnahm.

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Maitressen: Maria Antonia von Branconi, geb. von Elsener (1746-1793) war Mätresse des Erbprinzen Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, Freundin von Johann Wolfgang von Goethe und Besitzerin mehrerer Güter, darunter Langenstein. Die Branconi galt zu ihrer Zeit als schönste Frau Deutschlands.

Die Tochter deutsch-italienischer Eltern wuchs in Neapel auf. Im Alter von 12 Jahren wurde sie mit J. J. Francesco Pessina de Branconi verheiratet, einem Beamten der königlich neapolitanischen Generalpachtungen. Im Alter von 20 Jahren war sie bereits Witwe und Mutter eines Sohnes und einer Tochter. Einen Monat später, im November 1766 lernte sie den Braunschweiger Thronfolger Karl Wilhelm Ferdinand (1735–1806) kennen, der sich nach seiner Heirat im Jahre 1764 auf ausgedehnten Studienreisen durch Europa befand.

Sie ging mit dem braunschweigischen Erbprinzen als dessen offizielle Mätresse nach Braunschweig. Der gemeinsame Sohn Karl Anton Ferdinand (1767–1794) wurde am 29. Dezember 1767 geboren und in der Andreaskirche protestantisch getauft. Der als Taufzeuge fungierende Großvater Herzog Karl I. setzte sich für die Erhebung des unehelichen Kindes als Graf Forstenburg in den Reichsgrafenstand ein. Die Erziehung übernahm der Gelehrte Johann Joachim Eschenburg.

Branconi besaß ein Palais in der Braunschweiger Wilhelmstraße, das einen gesellschaftlichen Treffpunkt darstellte. Im Jahre 1776 kaufte sie Gut Langenstein im Kreis Halberstadt. Sie wurde 1774 gemeinsam mit ihren beiden Kindern aus der Ehe mit Branconi durch Kaiser Joseph II. geadelt. Der Bruch mit dem Erbprinzen erfolgte 1777, welcher Luise von Hertefeld zu seiner neuen Mätresse machte.
Wikipedia

 

  

Links: Anna Rosina de Gasc: Portrait of Maria Antonia von Branconi. Öl auf Leinwand, 1770. Herzog Anton Ulrich Museum, Braunschweig.

Rechts: Bildnis Luise (Friederike Henriette) von Hertefeld. Stich von Heinrich Sintzenich nach einer Zeichnung von Johann Hinrich Schröder. Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel.

Mit dieser Mätresse lebte er nahezu 30 Jahre glücklich (und getrennt von seiner eigenen Frau) zusammen. Laut Tochter Karoline war diese „das schönste und geistreichste Geschöpf bei Hof“.

 

Das interessanteste Segment der deutschen Politpornographie bilden zweifelsohne die vielen Schriften über die tief dekolletierte Waldhornistentochter Wilhelmine Enke (1753-1820), pro forma verheiratete Rietz, die über Nacht zur äußerst vermögenden Gräfin Lichtenau aufstieg. Die vom führungsschwachen preußischen König Friedrich Wilhelm II. (alias Saul der Zweyte genannt der Dicke König von Kanonenland)} in jungen Jahren zwecks Ausbildung nach Paris entsandte, später für lange Zeit enorm einflußreiche Favoritin war so etwas wie die deutsche Madame du Barry, mit der sie sich auch selbst verglich.

In Berlin wurden im Winter 1792, drei Monate vor dem Feldzug der Alliierten gegen das revolutionäre Frankreich, an verschiedenen Orten Zettel angeschlagen, in denen angeprangert wurde, daß Friedrich Wilhelm II. einem »wollüstigen Frauenzimmer« verfallen und ein »Weichling« sei; »um Wilhelms Maitressen und Günstlinge zu erhalten«, müßten sich die preußischen Soldaten, »wie dumme Schafe auf fremde Schlachtbänke ausgehungert führen laßen«. Wie viele Romane, Pasquille und Libelle auf die Lichtenau fabriziert wurden, veranschaulicht die Karikatur der von »Pornographen« (oder Broschürenhändlern?) mit diversen Schlüssel(loch)schriften verfolgten und von hämisch unkenden Fröschen aus deren interessanter Perspektive (»Belle Vûe«) beäugten Mätresse, die gerade, erkennbar derangiert, von einer »Parthiee« aus einem »LustWäldgen« kommt und offensichtlich keine Unterwäsche trägt.

Diese und andere Werke über die beim Volk verhaßte Lichtenau, der man sogar nachsagte, für den vorzeitigen Tod ihrer jüngeren Nebenbuhlerin Julie von Voß (1766-1789), der dem König linkshändig angetrauten Gräfin von Ingenheim, gesorgt zu haben, wurden direkt vor dem Cavalierhaus im Neuen Garten, in dem die Lichtenau nach dem Tode von Friedrich Wilhelm II. arretiert worden war, teuer angeboten und trotzdem reißend abgesetzt:

Da ihre Neugier keine Nahrung wurde, fand bald nach der Verhaftung eine Hochflut von Schriften Verbreitung, die von barfüßigen Colporteuren am Neuen Garten feilgeboten wurden; die erbärmlichsten Produkte der Schriftstellerei verbinden sich mit immer neuen Geburten in Prosa und Versen, auch im reputierlichen Handel, alles wurde gehörig gelesen und der Preis stieg in 24 Stunden auf das Doppelte und Dreifache.

Carl Friedrich Benkowitz läßt die Lichtenau selbst in seinem Roman Empfindsame Reise der Prinzessin Ananas nach Gros-Glogau (1798) über den freien Verkauf der ihr geltenden Pamphlete lamentieren: »auf allen Brücken bietet man Schandschriften auf mich feil«.

Als die Gräfin verbannt wurde, verfolgte die Welle der Skandalschriften die geächtete Mätresse bis in die niederschlesische Provinz, wie E. T. A. Hoffmann 1798 in einem Brief aus Glogau, wo die Lichtenau täglich Stadtgespräch war, anschaulich berichtet:

Der Pöbel [...] erhizt sich mit dem WitzFusel, den er aus den elenden schändlichen Broschüren, die über die Gräfin herausgekommen sind, aufsaugt. - Der Schneider legt die Nadel aus der Hand um das Leben der Gr[äfin] L[ichtenau] zu lesen, und sein Junge bringt ihm statt des Zwirns, ihr Bild in neuseeländischer Manier! – In jedem Scheerbeutel stecken die Bekentnisse der Gräfin L[ichtenau], und um 11 Uhr fliegen noch unfrisirte Köpfe ungeduldig durchs Fenster, um den längst erwarteten Friseur zu ersehn, der ein neues unsinniges Ding über die Gr[äfin] L[ichtenau] lesend jezt um die Ecke schleicht, die er sonst mit geflügelter Eile 3 Stunden früher umsprang. - Der Jan Hagel übt wie du weißt Gerechtigkeit – vox populi, vox dei [...].
Dirk Sangmeister: Deutsche Pornographie in der Aufklärung. Streifzüge durch ein vernachlässigtes Feld der Literatur- und Buchgeschichte. In: Sangmeister 2018, S. 70ff.

 

 

Es war einst eine Zeit und ist noch jetzt. So manches junge Frauenzimmer, von düstrer Melancholie oder Spleen gereizt, bricht die Fesseln der Gebundenheit und guter Erziehung, um eine eigene Karriere, die ihr die Phantasie oder Romane in den Kopf setzten, zu betreten.

Oft ist es, und wer kann es dem zartfühlen den mit feinen Nerven begabten schönen Geschlecht zum Argen auslegen – die liebe Liebe, die ein solches Mädchen drückt. Ideale, die ihm ob schweben; Jünglinge, welche Liebe anbieten, Küsse austeilen, die anfangs spröde verschmähet, nachher aber nur noch heftiger und gedoppelt erwidert werden; das viele Lustwandeln im Monden schein bei feuchter und kalter Abendluft u, d. gl.,| [95] das alles sind ja Ursachen genug. Man denke sich noch obendrein, wenn ein Mädchen schon über die Zeit seines jungfräulichen Zustandes hinaus ist. – Wenn der Zahn der Zeit schon die wirklichen Zähne ohne Widerstand zu zernagen anfängt u. d. gl. geschicht das alles nun nicht, was in dem einmal durch Liebe, durch Jünglinge, durch Romane und die vielen tausend andern Ursachen, wovon ich einige der Schonung wegen – um derer willen, die vielleicht ein im Finstern schleichendes entnervendes Laster nicht kennen – nicht nennen will, verschrobenem Hirne des Mädchens wirbelt; so ist alle Ruhe dahin, und so gerät es ganz natürlich auf Torheiten.

Leider! dachte ich mehr als zu sehr, wie meine Leser schon wissen, an alles, was Liebe heißt, kannte fast alles, was damit verwandt war. Brennendheiße Sehnsucht; meinen Trieb befriedigt zu sehen, der schon im Entstehen zur Flamme angefacht war, war mein Taggedanke, mein Traum; begleitete mich überall, wo ich ging und stand.

Voll von geheimer Schwermut verließ ich einst das väterliche Haus. Ich ging, weil ich in entsetzlich tiefen Gedanken war, fort, ohne zu wissen, wohin? Bilder der heftigsten Phantasie jagten eines das andere, Erst mitten in einem Walde,| [96] ohne Weg und Steg, wachte ich auf. Jetzt wusste ich nicht, wo ich war. Ich ging immer fort, traf wieder auf einen mir unbekannten Weg, der zu einer sehr starken Anhöhe führte. Jetzt dachte ich bei mir selbst: möchte doch eine Idee, die ich oft in meiner Kindheit hatte, realisiert werden. Diese war, der Himmel stieße doch dem Anscheine nach auf die Berge, man könne also von diesem bequem in den Himmel oder auf einen Stern kommen. Ich hatte den Berg, der oben ganz kahl war, beinahe bis zu seinem höchsten Gipfel erstiegen. Die Aussicht vor meinen Augen wurde immer lachender. Es wurde schon Abend und die Sterne funkelten in ihrer schönsten Pracht. Schöner kann kein Zachariä, überhaupt kein Dichter den Frühlingsabend besingen. Der Abendstern zeichnete sich vor allen übrigen an Glanz und Schönheit aus. Jetzt hegte ich den Wunsch, auf diesem Sterne zu sein. Ich setzte mich nieder, schlummerte ein – eine Wolke nahm mich auf. Weg war ich.

Nicht eine Sekunde, so kam ich auf diesem - sehenswürdigsten aller Planeten an. Hier schwindelte mir bei allem, was ich sah. Ich eine Sterbliche, Unvollkommene, noch mit menschlicher Hülle bekleidet. Ach! man schämt sich nie mehr, und man erkennt seine Unvollkommenhei-|[97]ten nicht größer – als bis man nichts als hohe, große, schöne Ideale in Wirklichkeit vor sich sieht, womit sich nichts vergleichen lässt – besonders, wenn man vorher so hohe Meinungen von eigener Schönheit, Größe, Vollkommenheit gehabt hat. Alle Wesen, die ich hier erblickte, waren vollkommen im höchsten Grade, vorzüglich die Göttin, welche sich durch einen eigenen hellstrahlenden Stern über der Stirn auszeichnete, der überall das strahlendste Licht um sich warf – das Urbild höchster Vollkommenheit. Alle Maler unserer Welt sind nur Kleckser gegen dies schöne Urbild.

Um meinen Lesern nur einen kleinen Begriff von diesem Planeten zu machen, den besonders die Mädchen mit hoher Wonne des Abends betrachten, und sich himmlischer Empfindung voll mit ihren Geliebten auf denselben hinauf phantasieren, mögen sie folgendes erfahren, welches sie gewiss nur noch mehr für denselben begeistern wird.

Ewige Jugend, ewiger Frühling, ewige Freiheit, ewige Gleichheit, ewige Bruder- und Schwesterliebe stehen hier an der Tagesordnung. Dies ist einzig der Himmel für Jünglinge und Mädchen. Alte Jünglinge und alte Jungfern, die ihre Jungferschaft und Junggesellenschaft be-|[98]wahreten, werden hier, wenn sie auch noch so krüpplicht, unbusigt und zahnlos waren, jung und schön.

Allen gehört alles, weil hier niemand etwas bedarf. Hier kennt man nicht, wie auf unserer Welt, konsequenten Egoism, keine Kabalen, keine Intrigen, keine Eifersucht. Jeder Jüngling ist gleich schön, gleich weise – wie jedes Mädchen.

Beständig blühen hier die Rosen, beständig blühen und grünen hier alle Bäume. Myrten und andere wohlriechende Bäume duften einen steten angenehmen Geruch aus. Überall stetes Licht. Nacht kennt man hier nicht.

Bäche fließen hier in herrlichen Grotten von Alicantenweine. Die Flüsse geben Milch. – Die Bäume Honig, und stets reife Früchte, die einzige Sättigung und Nahrung für Hunger und Durst.

Ehrenämter und Geld, diese Pest der Menschen unseres Erdkörpers – kennt man hier nicht.

Nichts als Adonis – nichts als schöne Mädchen, die genießen und zu genießen wünschen, sieht man überall. Welch ein Trost für alte Jünglinge und für alte Jungfern, wenn sie beide ihre Junggesellen- und Jungferschaft für diesen Planeten, für diesen Wirkungskreis aufsparten. Hier finden sie volle Sättigung ohne Überdruss, ohne| [99] Störung – ohne Folgen. Denn lieben und geliebt werden ist hier einzige höchste Glückseligkeit

Ach! höre ich bei dieser Stelle manchen Jüngling, manches Mädchen seufzen – wäre es doch in unserer Welt auch so. Hier ist alles Vergehen, Verbrechen. Und die Folgen? Hat man sich einmal zu tief in den Honigkelch der Liebe gewagt, dann kommen die Hefen hintennach. – Man geht hier nackend, ohne zu erröten. Hier sieht man erst, was wahre männliche und weibliche Schönheit ist. Den ganzen Umriss des Körpers in seinen äußern Linien sehen, mit allen feinen Nuancen der Muskeln – das gibt den Körper erst sein wahres Ansehen. – Der stets sich gleiche Frühling, die schöne angenehme Zeit, bedarf keiner Kleider, keiner Flittern, keines Putzes. Jeder ist in seiner Natur geputzt genug.

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Melancholie oder Spleen: Gemütskrankheit und leichte Verrücktheit

Romane: Die Begriffsfügung galanter Roman geht zum einen auf Sprachgebrauch des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zurück. Man bezeichnete in Westeuropa Romane als galant, die einen bestimmten Publikumsanspruch zeigten (die „galante Welt“ adressierten), „galante“ Interaktionen boten (vorzugsweise „Liebes-Intriguen“) oder aber in einem „galanten Stil“ geschrieben waren. Mitunter wurde Erotische Literatur als Periphrase „galant“ euphemistisch umschrieben, da Erotik im galanten Roman gern thematisiert wurde. Das Etikett der Galanterie blieb in all diesen Punkten Geschmacksurteilen vorbehalten, die Gesichtspunkte Inhalt, Stil, Umgang mit dem Publikum, bildeten einen engen Zusammenhang.
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Zachariae: Justus Friedrich Wilhelm Zachariae, auch geschrieben Zachariä (1726-1777) war ein deutscher Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber. Bereits im Alter von 18 Jahren veröffentlichte er im Jahre 1744 sein berühmtestes Werk, ein Versepos mit dem Namen Der Renommiste. Ein komisches Heldengedichte, das zusammen mit dem Werk Das Schnupftuch in einem Band erschien. „Der Renommiste“ war ein kraftvolles Sittengemälde des Studentenlebens an den Universitätsstädten Leipzig und Jena, denen damals unterschiedliche Ausprägungen der studentischen Kultur nachgesagt wurden. Zachariae beschreibt in seinem Werk, wie die unterschiedlichen Charaktere aus den beiden Universitäten aufeinanderprallen, und die sich daraus ergebenden Situationen. Das Werk gilt als „unerreicht“ in der Beschreibung der deutschen studentischen Kultur des 18. Jahrhunderts und hatte bis weit ins 19. Jahrhundert viele Nachahmer.
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1756 veröffentlichte er das Versepos Die Tageszeiten.

Der Abend.

Sieh! von sanfteren Himmeln, und rosenfarbenen Gewölken,
Senkt sich der Abend herab. Aus seinen blumichten Haaren,
Und dem frischen Gewand, verbreiten sich stärkre Gerüche
Über die Flur, den grünenden Wald, und duftende Haiden.
Ein balsamischer Thau steigt von den dunkelern Wiesen,
Zart und kühlend empor; und wie ein ruhiges Eden
Lacht die gesammte Natur in ihrer neuen Erfrischung.

[…]

Wenn die Sonne nunmehr die müden schnaubenden Pferde
Nach dem Ocean lenkt, und mildere Stralen herabschießt;
Wenn der Wanderer bestürzt den langen gigantischen Schatten
Vor sich erblickt, und dunkler die Wiesen, und dunkler die Felder
Um das Dorf sich verbreitet: und ferne waldichte Berge
Den verkürzten Prospekt mit blauem Rüden verschliessen:
Alsdann blicket der Abend bereits, mit seinem Gefolge,
An den Himmel hervor. In grauen dichteren Wolken,
Welche sich um den Gesichtskreis setzen, verbirgt er sein Zepter,
Bis die Monarchin des Tags die westlichen Felder des Himmels
Vor ihm verläßt, und eilt, sich in die Fluthen zu tauchen.
Dann er ertönet vom Thurm, den in der Ferne der Wandrer,
Wie von Golde schimmernd, erblickt, die Abendglocke.
Ihrem erfreulichen Schall antworten umliegende Dörfer,
Bis vom hellen Getös die ganze Gegend ertönet.
Plötzlich entsinkt die Hacke, das Beil, die blitzende Sense
Aus der ermüdeten Hand. Im Felde vernimmt es die Dirne,
Sammlet geschwinder den Klee in Haufen und eilet zurücke
Nach dem freundlichen Dorf. Nachläßig sitzet der Landmann
Queer auf seinem stolpernden Roß, das, müde vom Acker,
Vor dem knarrenden Pfluge sich schleppt, er selber vertreibt sich,
So wie er fortzieht, die Zeit mit einem frölichen Liede,
Ober er flötet der Nachtigall nach, und locket den Vogel
Zu dem Wege herzu, und lacht des gelungnen Betruges.
Hurtiger treibet vom Berg der Schäfer auf steinigtes Brachfeld
Seine Heerde zur Hürde, die ihre Schranken verschliesset.
Er lehnt sich ans irrende Haus, durchzehlet die Heerden,
Bis der Abendstern winkt, und er zur Hütte hineinkriecht.
Über die Haide kommen vom Forst die Kühe, versammelt
Um den fleckigten Stier, und folgen dem Hirten, beladen
Mit der süßesten Milch, dem wahren Reichthum des Landmanns.

 

Sammlung der besten deutschen prosaischen Schriftsteller und Dichter. Vier und sechzigster Theil. Carlsruhe, 1777, S. 94ff.

 

Friedrich-Wilhelm Zachariae, Kupferstich von Friedrich Kauke, 1759

Abendstern: Der Abendstern Hesperos ist der Planet Venus: In Unkenntnis der Tatsache, dass der Morgenstern und der Abendstern zeitlich unterschiedliche Erscheinungen desselben Himmelskörpers, nämlich des Planeten Venus, sind, erhielt die Venus im antiken Griechenland zusätzlich als Morgenstern die Namen Phosphoros (Φώσφορος „Lichtträger“, „Lichtbringer“; lateinisch lucifer) und (H)Eosphoros (Ἑωσφόρος „Bringer der Morgendämmerung“).

Den alten Babyloniern war dies bereits um 1700 v. Chr. bekannt, und der Planet wurde als die Liebesgöttin Ischtar angesehen. Nach Übernahme dieses Wissens durch die Griechen wurde der Planet entsprechend Aphrodite benannt, während ihn die Römer Venus nannten.
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Göttin: Venus, die römische Göttin der Liebe, des erotischen Verlangens und der Schönheit.

Alicantenweine: Weine aus Spanien

Adonis: Der Jüngling Adonis ist so schön, dass sich selbst die Liebesgöttin Venus in ihn verliebt. Zum jungen Mann herangewachsen, wird Adonis auf der Jagd von einem Eber getötet (nach anderen Quellen durch den eifersüchtigen Ares bzw. Mars in Gestalt eines Ebers). Über den Verlust ihres Geliebten untröstlich, lässt Venus aus seinem Blut eine Blume sprießen, das Adonisröschen. Einen Teil des Jahres verbringt Adonis von nun an im Reich der Proserpina in der Unterwelt, den anderen Teil des Jahres als Blume im Reich der Lebenden.
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Landschaft mit Venus und Adonis, Kupferstich um 1600

 

Es half nichts. Ich musste also auch hier der gewöhnlichen Sitte nach, meine Kleider ablegen, weil hier alles nackt geht und niemand die mindeste Glosse darüber macht. Man hat zwar in verschiedenen Städten Teutschlands auf Bällen und Redouten diese Mode schon größtenteils einführen wollen, wenigstens machte man den An-|[100]fang dazu durch flohrne Kleider auf den bloßen Körper – allein die Menschen sind noch nicht für diesen Zeitpunkt gestimmt. Das kommende Jahr hundert wird – wahrscheinlich wärmer, und dann wird man von selbst mehr Geschmack daran bekommen. Wer wird nicht an einer beinahe nackten weiblichen Schönheit Geschmack finden? Sie so öffentlich aus dem Redoutensaale zu verweisen, wie einst in einer nahmhaften Residenzstadt geschehen ist, wer kann dies gut heißen?

Kaum war ich, meinem Bedünken nach, zwo Stunden da; so bekam ich ein solches Heimweh, oder was es so eigentlich war, einen Geniedrang, die Fata meiner Reise zu erzählen, dass ich nichts mehr wünschte, als die Rückkehr. Ich äußerte auch kaum den Wunsch; so – eine kleine Strafe für meinen irdischen Sinn – – wurde mir von meinen Kleidungsstücken nichts weiter zu Teile, als meine Strumpfbänder und eine Schere aus meiner Tasche. Eine von den ersten Grazien der Göttin brachte mich an das äußerste Ende dieses Sterns. Man zeigte mir, wie ich die beiden an einander geknüpften Strumpfbänder zuerst an den einen Stachel des Sterns an binden und mich dann so durch Abschneiden und Wiederanknüpfen der Strumpfbänder helfen müsste, bis ich zur Erde herabkäme. Es würde| [101] schon dafür gesorgt werden, dass ich nicht allein nicht zu unsanft zur Erde sänke, sondern dass ich auch auf keine Weise Gefahr laufen sollte – – in unrechte Hände zu geraten.

Ich tat, wie es mich gelehret war, trat meine Reise an, schnitt so lange ab und band so lange an, bis ich beinahe alles rein abgeschnitten und zerbunden hatte. Ein Glück für mich, daß ich nicht in eine Straße von Hamburg, Braunschweig, Lübeck, Wien ⁊c. herabsank, ich geriet gerade in den Garten meines Oncles, wo eben die Frau desselben mich, als sie mich gewahr wurde, in ihre Arme auffing und so ihren Rock und Schürze um mich warf. Andern Falls wäre ich sicher zu Schanden gemacht worden.

 

 

Alles wunderte sich hoch auf, als ich ihnen meine Abenteuer erzählte.

Sehr sonderbar! Ich glaubte nun Wunder, was ich erzählen könnte und – es ging mir wie vielen tausend Reisenden. Es war Blutwenig. Nur das, was meine Leser schon wissen. Doch hat man sich darüber noch nicht sehr zu wundern. Lazarus hatte vier Tage im Himmel zugebracht und uns nichts davon erzählt. Ich war kaum vier und zwanzig Stunden fort gewesen. Auch hier bei meinem Oncle hatte sich, weil meine El-|[102]tern so sehr um mich bekümmert waren, Nachjagd eingefunden und Abends neun Uhr, war ich schon wieder in Bellingen zur größten Freude meiner Eltern, denen ich meine Abenteuer erzählen musste, die sich denn auch nicht wenig darüber verwunderten.

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flohrne Kleider: aus leichtem, durchsichtigem Gewebe

 

William Hogarth: »Glückliche Hochzeit«, Szene: Der Ball. Öl auf Leinwand um 1745. South London Art Gallery.

Redoutensaale: barocker Festsaal

Lazarus: Nach dem Johannesevangelium sind Lazarus und seine Schwestern Martha und Maria mit Jesus befreundet. Nachdem dieser in Abwesenheit von der Erkrankung des Lazarus erfährt, bleibt er noch zwei Tage im Norden Israels in der Nähe des Sees Genezareth und reist dann nach Bethanien, das in der Nähe Jerusalems liegt. Lazarus ist in der Zwischenzeit gestorben und bei der Ankunft Jesu bereits seit vier Tagen in einer Höhle beigesetzt. Jesus lässt den Stein vom Grab wegwälzen. Auf den Zuruf Jesu „Lazarus, komm heraus!“ verlässt dieser – noch mit den Grabtüchern umwickelt – lebendig das Grab.

ES lag aber einer kranck, mit namen Lazarus aus Bethania, in dem Flecken Maria, und ihrer schwester Martha.

2 Maria aber war es, die den HErrn mit gesalbet hatte mit salben, und seine füffe  getrocknet mit ihrem haar, derselbigen bruder, Lazarus, lag kranck.

3 Da sandten seine schwestern zu ihm, und liessen ihm sagen: HErr, sihe, den du lieb hast, liegt kranck.

4 Da Jesus das hörete, sprach er: die Kranckheit ist nicht zum tode, sondern zur ehre GOttes, dass der Sohn GOttes dadurch geehret werde.

5 Jesus aber hatte Martha lieb ,und ihre schwester, und Lazarum.

6 Als er nun hörete, dass er kranck war, blieb er zween tage an dem ort, da er war.

7 Darnach spricht er zu den jüngern: Lasst uns wieder in Judäam ziehen.

8 Die jünger sprachen zu ihm: Meister! jenesmal wolten die Juden dich steinigen, und du wilt wieder dahin ziehen?

 9 Jesus antwortete: Hat nicht der Tag zwölf Stunden? Wer bei Tage umhergeht, der stößt sich nicht; denn er sieht das Licht dieser Welt.

10 Wer aber des nachts wandelt, der stösset sich; denn es ist kein licht in ihm.

11 Solches sagte er, und darnach spricht er zu ihnen: Lazarus unser Freund schläfft, aber ich gehe hin, daß ich ihn auferwecke.

12 Da sprachen seine jünger: HErr, schläfft er, so wird's besser mit ihm werden.

13 Jesus aber sagte von seinem tode; sie meyneten aber, er redeten von leiblichen schlaffe.

14 Da sagte ihnen Jesus frey heraus: Lazarus ist gestorben.

15 Und ich bin froh um euer willen, daß ich nicht da gewesen bin, auf daß ihr glaubt. Aber lasst uns zu ihm ziehen!

16 Da sprach Thomas, der da genennte ist zwilling, zu den jüngern: Lasset uns mit ihm ziehen, daß wir mit ihm sterben.

17 Da kam JEsus, und fand ihn, daß er schon vier tage im grabe gelegen war.

18 Bethanien aber war nahe bey Jerusalem, bey funfzehen selbweges.

19 Und viel Juden waren zu Martha und Maria kommen, sie zu trösten, über iren bruder.

20 Als Martha nun hörete, daß JEsus kommt, gehet sie ihm entgegen: Maria aber blieb daheim sitzen.

21 Da sprach Martha zu JESU: HErr, wärest du hier gewesen, mein bruder wäre nicht gestorben.

22 Aber auch ich weiß auch noch, daß, was du bittest von GOtt, das wird dir GOtt geben.

23 Jesus spricht zu ihr: Dein bruder sol auferstehen.

24 Martha spricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird in der auferstehung am jüngsten tage.

25 Jesus spricht zu ihr: Ich bin die auferstehung und das leben, wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe.

26 Und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubest du das?

27 Sie spricht zu ihm: HErr, ja ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn GOttes, der in die Welt kommen ist.

28 Und da sie das gesagt hatte, ging sie hin, und rieff ihrer schwester Maria heimlich, und sprach: Der meister ist da, und ruffet dir.

29 Dieselbige, als sie das hörete, stund sie eilend auf, und kam zu ihm.

30 Denn JEsus aber war noch nicht in den flecken kommen, sondern war noch an dem ort, da ihm Martha war entgegen kommen.

31 Die Juden, die bei ihr im hause waren, und trösteten sie, da sie sahen Maiam, daß sie eilend aufstund, und hinaus ging, folgeten sie ihr nach, und sprachen: Sie gehet hin zum grabe, daß sie daselbst weine.

32 Als nun Maria kam, da JEsus war, und sahe ihn, fiel sie zu seinen füssen, und sprach zu ihm: HErr, wärest du hie gewesen, mein bruder wäre nicht gestorben.

33 Als JEsus sie sahe weinen, und die Juden auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmete er im geist, und betrübete sich selbst,

34 Und sprach: Wo habt ihr ihn hin gelegt? Sie sprachen zu ihm: HErr, komm und siehe es.

35 Und JEsu gingen die augen über.

36 Da sprachen die Juden: Sihe, wie hat er ihn so lieb gehabt!

37 Etliche aber unter ihnen sprachen: Konte der, der dem blinden die augen aufgethan hat, nicht verschaffen, daß auch dieser nicht stürbe?

38 Jesus aber ergrimmte abermals in ihm selbst, und kam zum grabe, es war aber eine Kluft, und ein stein darauf gelegt.

39 Jesus sprach: Hebt den stein ab. Spricht zu ihm Martha, die schwester des verstorbenen: HErr, er stincket schon, denn er ist vier tage gelegen.

40 Jesus spricht zu ihr: Hab ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du soltest die herrlichkeit Gottes sehen?

41 Da huben sie den Stein ab, da der verstorbene lag. JEsus aber hub seine augen empor, und sprach: Vater! ich dancke dir, daß du mich erhöret hast.

42 Doch ich weiß, daß du mich allezeit erhörest; sondern um des volcks willen, daß umher stehet, sage ichs, daß sie glauben, du habest mich gesandt.

43 Da er das gesagt hatte, rieff er mit lauter stimme: Lazarus, komm heraus!

44 Und der verstorbene kam heraus, gebunden mit grab-tüchern, an füssen und händen, und sein angesicht verhüllet mit einem schweißtuch. JEsus spricht zu ihnen: Löst ihn auf und lasst ihn gehen.

45 Viel nun der Juden, die zu Maria kommen waren, und sahen, was JEsus thät, glaubten an ihn.

Johannes 11, 1-45

 

 

Jetzt wäre ich jeden ersten Tag gern Maitresse bei irgend einem Fürsten geworden. Ich hatte, eben durch diese Reise in einen so schönen Planeten veranlasst, Sinn für eine jede Veränderung meines Zustandes, sie mochte sein, welche sie wollte – wenn nur erst der brennendheiße Durst nach den verbotenen Früchten der Liebe gestillet werden konnte. Die Gelegenheit dazu fand sich nur zu bald. – Und wo findet sich diese nicht überall, besonders bei einem hübschen Mädchen.

Mein Vater hatte einen Kammerdiener. Dieser war ein sehr artiger junger Mann. Ob aus Absicht, oder aus Unvorsichtigkeit, weiß ich selbst nicht – genug er kam mir, wie von ohngefähr, eben als ich aus dem Zimmer ging, und er hin eingehen wollte – mit seiner Hand in die Gegend, wie sie wissen. Seine Blicke, überhaupt sein Betragen gegen mich, hatten sich mir schon oft verraten. Dieser arme Junge war der erste|  [103] Gegenstand einer verbotenen Liebe. Wir sprachen uns von nun an nie anders als – des Nachts. Ich ließ ihm mein Kammerfenster offen: dies war das Signal. Er schlüpfte hinein. – Er musste schon dafür büßen, dass er hübsch war.

„Was mag das heißen, sagte Vater oft des Mittags, besonders, wenn wir Gesellschaft hatten, dass dem armen Jungen die Nase blutet?“

Man gab das auf Vollblütigkeit. Ich wusste es wohl, hatte aber lange schon die Kunst gelernt, mich zu verstellen.

Allein – der Verräter schläft nicht. Es wurde meinem Vater mehr als zu bald zu meinem größten Leidwesen hinterbracht – und Johann musste fort.

Gänsekiel, der Hauslehrer des Pastor Schwarz, hatte sich die Schwindsucht an den Hals geh–rt, und lag in den letzten Zügen. Fiekchen und Minchen waren stets bei ihm auf seinem Zimmer. Sie wollten beide vor Gram sterben. Aber Gänsekiel starb und sie – blieben leben. Und noch obendrein das größte Unglück! beide waren schwanger – mussten fortreisen und so – für ihre Fehltritte büßen. Ehren Schwarz so gut wie die Ehehälfte desselben, die eben nicht aus ihren vier| [105] Wänden kamen, weil sie keine besondere Lebensart hatte, grämten sich eben nicht sonderlich darum, denn sie waren beide sehr phlegmatisch. Die Mutter hatte selbst die meiste Schuld an diesem Unglück, weil diese nur den gar zu vertrauten Umgang wusste; auch selbst dazu Gelegenheit gegeben hatte. Da er noch kleinere Knaben hatte, die des Unterrichts und der Aufsicht bedurften, wenn sie etwas lernen und nicht wie wilde Raben aufwachsen sollten; er auch zu bequem war, als dass er sein Amt mit Leichtigkeit hätte verrichten können schaffte einen andern Hauslehrer an.

Rosenthal, so hieß er, war der artigste Mann von der Welt. Sein erster Besuch und die Art, wie er sich produzierter, verschafften ihm frühen Zutritt in unserm Hause; ja er war fast mehr bei uns als bei dem Pastor – so dass er darüber von seinem Herrn manchen harten Strauß auszustehen hatte. Er war sehr geschickt. Er wusste und verstand alles, wie jetzt gewöhnlich die jungen Kandidaten; auch das, wovon er nie gehört oder gelesen hatte. Er schwatzte über alle Gegenstände von der Zeder auf Libanon bis auf den Ysop, der an der Wand kreucht. Er hatte so außerordentlich viel sanftes und gefälliges, ein so einschmeichelndes Wesen, dass er in kurzer Zeit der Liebling meines Vaters und meiner Mut-|[105]ter wurde – und es ihnen wehe tat, wenn er einmal einen Tag nicht kam. Was tat dieser Mann? Er hatte einen ganzen Kasten voller Romane bei sich, die er mir einen nach dem andern zusteckte, wodurch er meinen Geschmack bilden und mir Lust zum Lesen machen wollte. Er las auch meinen Eltern manche derselben, wovon er wusste, dass sie mit ihren Ideen konform waren, vor. Mir aber er klärte er vorzüglich in einsamen Stunden den Siegwart, Carl von Burgheim, die Canthariden, Gedichte im Geschmack des Grecourt, und wie alle die Liebes- und süßempfindelnden Romane jener Zeit hießen. Ich fing nun beinahe an, ebenso zu süßeln, zu tändeln, zu empfindeln. Ich konnte schon weinen über den Tod eines Würmleins, den ich aus Unvorsichtigkeit zertreten hatte. Bey jedem schönen Mondscheinabende unterließ er nicht, mir etwas von der Sternkunde u. d. gl. beizubringen. Wenigstens bis zwölf Uhr blieben wir oft in unserm Park, oder in der Allee, im Garten, oder wohin uns sonst unsere Gespräche verirrten. Einmal hatten wir uns wirklich im Holze an einem recht heitern Abende verirrt – und mussten die ganze Nacht im Walde zu bringen.| [106]

Meine Eltern sahen es längst ein, dass es, so sehr sie auch Rosenthaln ihr ganzes Vertrauen geschenkt hatten, doch am Ende mit demselben nicht ganz gut gehen könnte. Sie wussten, was mit Johann vorgegangen war; sie konnten leicht erachten, dass, trotz aller Entschuldigungen Rosenthals, und trotz meiner heitersten Stirne es doch wohl im Walde nicht so ganz ohne sinnliche Vergnügungen mochte abgegangen sein – auch mussten sie es mir wohl ansehen, dass mein Hang zur Befriedigung des Geschlechtstriebes äußerst stark war. Sie waren also darauf bedacht, mich möglichst bald zu verheiraten. Ehren Schwarz hatte dieser ärgerlichen Geschichte wegen und weil er ihn fast nie im Hause hatte, Rosenthaln fortgejagt. Ich hätte den Pastor in den Abgrund verwünschen mögen!

 

Schwindsucht an den Hals geh-rt: Fest steht für die Ärzteschaft des späten 19. Jahrhunderts, daß die Schwindsucht weit mehr ist als ein lokaler organischer Befall. Da ihr Ursprung nicht greifbar ist, versteht man sie als Ausdruck einer entscheidenden Abnormität, und es heißt, daß „sie sich im Menschen selbst verbreitet“. Sie ist eine Krankheit des Lebens, das in Ungleichgewicht geraten ist und sich vom ‚normalen‘ Leben ein Stück weit entfernt hat, das von seiner vorbestimmten Bahn abgewichen und dem Tod einen Schritt näher gerückt ist. Im Schwindsüchtigen kündigt sich ein Leben an, das unter anderen Vorzeichen steht und nach einer Entzifferung verlangt. Der suchende Blick des Arztes stößt dabei immer wieder auf die Sexualität, um die das Geheimnis der Schwindsucht zu kreisen scheint: als „Organisation der Ehegatten“, als Rhythmus und Anzahl der Zeugungen, als „Begattungstrieb“, „ausschweifende Lebensweise“, „Unordentlichkeit“ und als sprichwörtlicher „Leichtsinn“ des ‚niedern‘ Volkes. […]

Noch am Ende des 18. Jahrhunderts besitzt die Schwindsucht nur ein unspezifisches Krankheitsbild. Man erkennt sie am Husten, an schleichenden, anhaltenden Fieber, an Schweißausbrüchen, Atemnot und Gewichtsverlust, doch sie hat nichts, was nur ihr eigen wäre.
Günter Landsteiner/ Wolfgang Neurath: Krankheit als Auszeichnung eines geheimen Lebens. Krankheitskonstruktion und Sexualität anhand der Lungentuberkulose um 1900. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 5. 1994, Heft 3, S. 359.

manchen harten Strauß: heftige Auseinandersetzung

von der Zeder auf Libanon bis auf den Ysop: Die Libanon-Zeder ist ein immergrüner Baum, der Wuchshöhen von 30 bis 50 Meter erreicht und über 1.000 Jahre alt werden kann.
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Die Zeder wird im Alten Testament mehrfach erwähnt. In Psalm 92, Ein Lied für den Sabbattag, heißt es: Der Gerechte sprießt wie die Palme, er wächst wie die Zeder des Libanon. Der israelitische König Salomo soll die Zedern literarisch geehrt haben:

Und er redete von bäumen, vom ceder an zu Libanon bis an deb Ysop, der aus der wand wächst.
1 Könige 4,33

Der Ysop ist ein Halbstrauch aus der Familie der Lippenblütler. Der Name Ysop leitet sich über das Griechische vom babylonisch-hebräischen Wort ēzōb ab. Die Pflanze wird als Gewürz- und Heilpflanze seit dem 16. Jahrhundert kultiviert.
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Siegwart: Roman in vier Bänden von Johann Martin Miller

 

Johann Martin Miller (1750-1814) war ein deutscher Theologe und Schriftsteller. Besondere Bekanntheit erlangte er durch seinen Roman Siegwart. Eine Klostergeschichte, mit dem er einen der erfolgreichsten deutschsprachigen Romane des 18. Jahrhunderts verfasste.
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Mit seinem ersten Prosaroman „Siegwart. Eine Klostergeschichte“ gelang Johann Martin Miller 1776 ein derart großer Erfolg, dass sein empfindsam geprägtes Werk nach Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ als zweiter Modeerfolg seiner Epoche bezeichnet werden kann.

Ein zentrales Thema seines Romans ist dabei der Gegensatz zwischen ländlichem und städtischen Leben. Durch intensive Erarbeitung des Primärtextes und unter Bezugnahme auf die zu Millers Werk sehr begrenzte Forschungsliteratur soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden, inwiefern sich die Lebensräume Stadt und Land auf die Charaktere der Protagonisten auswirken. Dabei ist zu beachten, dass diese Einflüsse nicht allein vom jeweils aktuellen Lebensraum der Figuren ausgehen, sondern auch von dem von ihnen bevorzugten Lebensstil.

Myriam Konrad: Die Lebensräume Stadt und Land und ihre Einflüsse auf die Charaktere in Johann Martin Millers „Siegwart. Eine Klostergeschichte“. Hausarbeit, 2007. https://www.hausarbeiten.de/document/87185

 

Siegwart. Eine Klostergeschichte. Erster Theil. Leipzig 1776.

Carl von Burgheim: Roman in vier Bänden von Johann Martin Miller

 

 

Geschichte Karls von Burgheim und Emiliens von Rosenau. In Briefen. Von dem Verfasser des Siegwarts. Erster Band. Hamburg und Altona 1779.

 

  

die Canthariden: [Johann Bernhard Gabriel Büschel]: Kanthariden. Rom [d.i. Berlin] Giovanni Tossoni [d.i. Christian Friedrich Himburg] 1788.

Gedichte im Geschmack des Grecourt:

 

  

Gedichte im Geschmack des Grecourt. [Johann Georg Scheffner] Frankfurt und Leipzig, 1771.

Johann Georg Scheffner (1736-1820) war ein deutscher Jurist, Schriftsteller, Übersetzer, preußischer Beamter, Aufklärer und Freimaurer. Seine Schriften geben Einblick in das Leben Königsbergs zur Zeit der Aufklärung. Er war Immanuel Kants langjähriger und engster Freund und gehörte zu dessen Tafelrunde. Eng befreundet war er außerdem mit Theodor Gottlieb von Hippel und Christian Jakob Kraus. Weiter war er bekannt mit Gotthold Ephraim Lessing, Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Hamann. Er führte als Kenner der deutschsprachigen Literatur, ausgelöst durch einen Rezensentenstreit seit 1766 freundschaftliche Korrespondenz mit Johann Gottfried Herder; beide kannten sich aus Königsberg und waren wie Kant, Hamann und Hippel regelmäßige Gäste am Musenhof der Keyserlings. Scheffners erotisch-frivolen Gedichte sind für die deutsche Literatur der Zeit einmalig. Er gilt als Kantianer, der als einziger Deutscher eine den Franzosen ähnliche erotische Philosophie auszubilden versuchte.
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Sechzehn Sommer war ich bereits alt, als ein Herr von Helmkragen um meine Hand bei meinen Eltern warb. Ich merkte dies schon lange und wich ihm möglichst aus, so oft er Gelegenheit nahm, mit mir allein zu sprechen. Jeden Tag kam er. Seine Zudringlichkeiten waren mir äußerst ekelhaft – und jeden Tag, wenn er uns besuchte, war Saus und Braus im Hause. Sie glauben nicht, wie dieser närrische Mensch gegen meinen Charakter kontrastierte. Er war einer von| [107] jenen stets müßigen Wichten, die sich platterdings mit nichts anders, als mit Zeitvertreiben, zu beschäftigen wissen. Frühe starben ihm seine Eltern, die ein ziemliches Vermögen hinterließen. Aber er hatte sich durchaus von seinen Vormündern nicht wollen leiten lassen. Nachdem er volljährig wurde, verzehrte er seine Güter auf den vielen Reisen in England, in der Schweiz, Lothringen, Elsass und Frankreich. Weil er zuletzt in Paris seine Zeit zugebracht hatte; war er ganz Franzos – und eben so dürre und hager, wie die gewöhnlichen französischen Gerippe. Er trug stets die gebogene Nase sehr hoch, steckte, wenn er die Toilette gemacht hatte – er puderte stets seine fünf übriggebliebenen Haare, denn er hatte schon eine kahle Glatze! mit Puder à la Marechal – alle Finger voll Ringe. Sein seidenes Röckchen saß ihm so knapp, wie einem Mädchen; auch trug er Tag und Nacht eine Schnürbrust, um recht schlank zu sein. Sein Taschentuch war stets mit Eau de millefleurs oder Eau de Cologne begossen; kurz er war ein Geck der ersten Größe, ein alter Mann – denn er hatte schon die funfzig zurückgelegt – im Jünglingsgewande. Sein Mund spie, wenn er nicht feine Zweideutigkeiten sagte, nichts als Gift und Galle über alle diejenigen, die nicht vollbürtig waren. Und – dieser läppische alte Narr glaubte, ich sollte| [108] an seinen Süßigkeiten und zugleich an seinen adlichen Albernheiten Geschmack finden? Er wusste nicht, wie verschieden ich vom Adel dachte, und wie oft ich ihn in meiner Seele bemitleidete. Trotz aller Hoheit und Größe, trotz den gewaltigen Begriffen, die man mir von Jugend auf vom Adel eingepredigt hatte, war ich doch ganz anderer Meinung. Wer mich ganz kannte, wie ich in meinem Innern war, der wusste dies auch. Ich hatte denken, abstrahieren gelernt. Stolz, niedriges Herabsehen auf andere, war mir das entehrendste für den Menschen. Ohngefähr mit dem zehnten Jahre wurden diese Begriffe in mir zur völligen Richtigkeit gebracht. Ich las einst bei dem Pastor Schwarz in einer Hauspostille:

Als Adam noch hackte und Eva spann,

Wo war da der Edelmann?

 Dies fand ich so wahr, dass sich nichts dagegen sagen ließ. Ich sah, dass der Edelmann so gut aß, trank, Naturbedürfnisse befriedigte, als der Bauer und Bürger, dass jeder seine Nase mitten im Gesicht hatte – also schloss ich: ist der Edelmann so gut ein Mensch, wie der Bauer. Rosenthal trug durch seine freie und aufgeklärte Denkungsart noch mehr dazu bei, um diese Ideen zu berichtigen. Ich empfand auch immer mehr,| [109] wie lächerlich es sei, auf seine Geburt oder auf alte Vorfahren groß zu tun, die sich größtenteils vom Raube und Plündern genährt hatten.

Der elterliche Despotism sollte bei meiner Heirat mit dem Herrn von Helmkragen entscheiden. Erst wurde mehrere Tage die Güte versucht. Vater, Mutter, taten mir die möglichsten Vorstellungen: aber ich blieb völlig taub dagegen. Mit Gründen suchte ich es beiden zu demonstrieren, dass dieser Glatzkopf gar nicht der Mann wäre, der mich glücklich machen könnte.

„Heiratet man denn, um glücklich zu sein? Wie viel Ehen gibt es denn wohl in der Welt, wo die Männer mit den Weibern oder die Weiber mir den Männern zufrieden sind? Man heiratet, meine Tochter! sagte mein Vater, um mit Ehren unter die Haube zu kommen.“

Nach einer jeden Lektion war ich zusehends stiller und in mich geschlossener geworden. Jetzt sah man mich oft das Schnupftuch nehmen, um mein Gesicht und meine Tränen zu verbergen, die ich in der Stille einem Manne weinte, der tausendmal mehrere Verdienste, ein unendlich besseres Herz hatte, als Helmkragen, ob er gleich nicht von Adel war.| [110]

Wie langsam vergingen die Stunden, die Tage, ehe ich etwas von Rosenthal hörte. Auch er, dieser gute Junge, hatte viel, sehr viel gelitten. Endlich kam ein kleiner Knabe, der mich des Morgens im Garten gesehen hatte, und brachte mir ein kleines Zettelchen:

„Liebe Emilie! Wie sehr leide ich um Dich. O könnte ich Dich, meinen Engel, nur einmal sprechen nur eine Minute an mein klopfendes Herz drücken – das würde mich entschädigen für alle die trüben Augenblicke, die das Schicksal über mich zu verhängen scheint. Ich wohne eine Stunde von hier in einer Bauerhütte. Morgen frühe um 6 Uhr sehe ich Dich im Park bei der großen Linde. Lebe wohl!“

Das war Balsam in ein liebekrankes Herz. Wie zählte ich die Stunden und Minuten – ach! sie schwanden mir nicht geschwinde genug. Die ganze Nacht kam kein Schlaf in meine Augen.

Mehrere Morgen hatte ich meinen guten Jungen einige Stunden gesprochen, ehe meine Eltern aufgestanden waren: denn diese kamen vor zehn Uhr selten, aus dem Bette.

Nach einer achttägigen Reise, die Helmkragen zu seinen Verwandten getan hatte, um ihnen zu sagen, dass er bald Hochzeit machen würde mit| [111] der schönen Emilie – kam denn dieser Menschenquäler wieder. Seit dieser Zeit hatte ich einige Tage Ruhe gehabt. Aber dies war eine solche Stille, worauf nur ein noch größerer Sturm folgen sollte

Helmkragen drang nun in meine Eltern – meine Eltern in mich. Kein Bitten, kein Flehen, kein Weinen, kein Beschwören, keine Vorstellungen, „ich könne ihn nie lieben,“ half nichts. „Die Liebe wird sich schon finden;“ sagte mein Vater.– Ich gab also mit dem Bedinge mein Wort, wenn die Heirat wenigstens noch ein halbes Jahr aufgeschoben würde, bloß um Zeit zu gewinnen. Denn ihn wirklich zu heiraten? – das hätte ich nie getan, um keinen Preis.

Jetzt war Alloh, Fete, Saus und Braus in unserm Hause. Helmkragen küsste mich. Ich musste es wohl leiden. Ich musste am Tische ihm zur Seite sitzen. War der Mann ehemals ein Narr – jetzt wurde er durch sein Verliebttun gegen mich nur ein Geck in noch höherem Grade.

 

Göttinger Taschen Calender für das Jahr 1789

 

 

Puder à la Marechal: weißer Parücken-Puder

Eau de millefleurs: französisches Parfüm

Eau de Cologne: Parfüm aus Köln

Hauspostille: Mit Hauspostille bezeichnete man ursprünglich eine Sammlung von Predigten oder ein Predigtbuch, das zur häuslichen Erbauung und unter Umständen auch zum Vorlesen in der Kirche bestimmt war. Sie war auch als Hilfe für die Pfarrer zur Vorbereitung eigener Predigten gedacht. Vom Wortsinn her waren Postillen Erklärungen der Texte der Bibel, welche nach den Textesworten folgten.
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Als Adam noch hackte und Eva spann,/ Wo war da der Edelmann?: deutsches Sprichwort aus der Zeit des Bauernkrieges, das die Legitimation des Adels und seiner mittelalterlichen Grundherrschaft über die Bauern auf christlicher Basis in Frage stellt. Es geht auf eine englische Version zurück, die wahrscheinlich im englischen Bauernaufstand von 1381 eine Rolle spielte und von dem Geistlichen John Ball in Predigten verbreitet wurde. Der Zweizeiler ist Bestandteil mehrerer Lieder.
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seine freie und aufgeklärte Denkungsart: Mit Denkungsart bezeichnet man im ausgehenden 18. Jahrhundert die ganze zur Fertigkeit gewordene Art und Weise eines Menschen nicht nur zu denken, sondern auch zu handeln.

 

 

 

 

 

 

Göttinger Taschen Calender für das Jahr 1787

 

 

 

 

 

 

 

Despotism: Die Despotie oder der Despotismus ist eine Herrschaftsform, in der ein Herrscher oder Oberhaupt wie etwa ein Staatsoberhaupt die uneingeschränkte Herrschaft ausübt. Heutzutage wird mit dem Begriff Despotie eine „schrankenlose Gewalt-, Willkürherrschaft“ bezeichnet.
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Alloh: Allotria (altgriechisch allótria, „fremdartige, nicht zur Sache gehörige Dinge“[1]) steht in der griechischen Philosophie der Kyniker und der Stoa für alles, was den Menschen vom Eigenen, Eigentlichen, dem idion, ablenkt und ihn im Grunde nichts angeht, beispielsweise Besitz, Ruhm, Macht, Leid, Krankheit und Leidenschaften.[2] Außerdem bedeutet Allotria so viel wie Spaß oder vergnüglicher Unfug. Im Gegensatz zum Schabernack werden dabei jedoch anderen Personen keine Streiche gespielt.
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Geck: sich übertrieben modisch kleidende männliche Person

 

 

 

 

 

 

Göttinger Taschen Calender für das Jahr 1789

 

 

 

 

 

 

„Ah! lebeau Jupon court!“ Ah, wie ist der schöne Unterrock so kurz! Stich von Robert Brichet nach einer Zeichnung von Joseph Franz von Göz. In: L'Exércices d'imaginationde differens Caractéres et formes humaines. Augsburg 1785, Tafel 43.

 

 

Des andern Tages wurden alle unsere Nachbarn und guten Freunde zu Mittag eingeladen, um an dem großen Glücke der Fräulein Emilie Teil zu nehmen und ihr zu ihrer Verbindung Glück zu wünschen. Die Posaune der Fama war längst| [112] in die kleine Hütte nach Lilienfeld gedrungen, wo Rosenthal schmachtete und in tiefer Verzweiflung saß. Des Abends spät kommt der kleine Hirtenknabe, der mir gewöhnlich Briefe von Rosenthal brachte, drückte mir ein Billet in die Hand und sagt mir zugleich sacht:

„Rosenthal ist draußen!“

Ich sprang auf, lief sogleich hin, ohne erst das Zettelchen zu lesen, draußen in der Allee, und Rosenthal flog mir in die Arme.

„Jetzt komm ich, Dir das letzte Lebewohl zu sagen.“ Ich sank beinahe in Ohnmacht, indem ich kaum so viel Atem behielt, dass ich ihm sagen konnte:

Mein Rosenthal, warum?

„Um Deinetwillen! Du bist meineidig geworden und hast dem elenden Wicht, Herrn von Helmkragen Dein Wort, Deine Hand gegeben.“

Ich habe, leider! müssen. – Mein Herz ist das Deine. Das wird niemand von Dir reißen. Er hat mich ja noch nicht.

„Ach! Weiber! Weiber! wer kennt euch ganz! Wer ist im Stande, euch zu enträtseln? Ihr lebt ewig mit euch selbst im Widerspruch. – Ich bin unglücklich. Ich kann mein Unglück nicht länger ertragen. – Ich erschieße mich,| [113]

Meine schreckliche Lage – wer kann sie denken! – Bei diesen grausenden Worten, die er mit einer Art von Wut aussprach, die an Wahnsinn grenzte. Bald riss er sich von mir los und machte mir die heftigsten Vorwürfe: dann flog er wieder in meine Arme. Ich bat, ich flehete, ich wandte alles an, was ich konnte, um ihn von dieser abscheulichen Tat, die ich noch nicht so, nahe glaubte, abzuhalten. Nichts. Er riss sich zum letztenmale los, nahm Adieu, setzte die unglückliche Pistole, ohne dass ich es wusste, wo er sie hernahm, vor den Kopf und – er hatte richtig genug getroffen.

Ich weiß selbst nicht, was ich tat. Die Kleider die ich eben am Leibe hatte, waren über und über voll Blut. Gleich nach dem Schusse, und weil man mich so lange vermisste, kommt man, schleppt mich von dem toten Leichname weg, und verscharrte ihn an der Stelle, wo sich der Unglückliche erschossen hatte.

Eine Zeitlang wurde ich wahnsinnig. Ich wusste nicht, was ich tat. Man wandte alle Mühe an, mich wieder zurecht zu bringen. Allein meine finstere Melancholie wollte mich erst nicht verlassen. Oft weinte ich Zähren an der Stelle, wohin ich so gern ging, um sie den Manen des armen Unglücklichen zu weihen, Helmkragen rei-|[114]sete weg und – kam nie wieder. Wie sehr meine Eltern über diesen Vorfall betrübt wurden, kann man sich leicht denken. Aber ihre Betrübnis sollte noch vergrößert werden durch neue harte Schicksale.

Ach! Eltern! zwingt nie eure Kinder, solche Personen ihre Hand, ihr Herz zu geben, für die sie gar keine Sympathie fühlen. Tausende wurden schon auf solche Art, unglücklich und die Eltern selbst bereiteten sich frühe dadurch ihr Grab.

 

William Hogarth Marriage A-la-Mode, The Marriage Settlement, ca. 1743, Öl auf Leinwand.

Posaune der Fama: Fama ist in der römischen Mythologie die Gottheit des Ruhmes wie auch des Gerüchts. In der Neuzeit erscheint Fama vor allem als Personifikation des Ruhmes. Ihr Attribut ist eine Posaune, mit der sie die ruhmreiche Tat entsprechend lautstark verbreitet.
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Manen: gute Geister eines Toten

 

 

 

 

Gobelin, um 1800

 

 

 

 

Die Selbsttötung Rosenthals ist dem Selbstmord Werthers (Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Leipzig 1774.) nachempfunden, die einzige Freiheit, die Rosenthal noch über sein Leben geblieben ist. Er zeigt damit wie Werther seine ganze Abneigung gegen die Gesellschaft.

 

Viele zeitgenössische bürgerliche Leser empfanden Werther als Störer des Ehefriedens, als Rebellen und Freigeist, der ihren moralischen und religiösen Wertvorstellungen widersprach. Sie warfen dem Buch außerdem vor, die Jugend zum Selbstmord zu verführen, und glaubten sich durch die nach seinem Erscheinen einsetzende „Selbstmordwelle“ bestätigt. Neuere Studien bestätigen ein knappes Dutzend solcher Suizide. Rüdiger Safranski beschreibt die Suizide in seinem Buch „Goethe – Kunstwerk des Lebens“ als Gerücht, welches sich seit Erscheinen des Werkes hält.

Dieselbe Kritik kam vor allem von kirchlicher Seite und von einigen zeitgenössischen Dichtern. Der konservative Theologe Lavater beispielsweise (der in dem Roman selbst zweimal erwähnt wird) bezeichnete den Werther als „unchristlich“ und „jeglichem Anstand zuwider“. Am heftigsten bekämpfte der Hamburger Hauptpastor Goeze das Buch: es gereiche „unserer Religion zur Schande und allen unbefestigten Lesern zum Verderben“. In einigen Regionen (z. B. in Sachsen, Dänemark oder dem Habsburgerreich) wurde das Buch wegen seiner angeblichen Verherrlichung des Suizids sogar verboten. Goethe verwahrte sich gegen derlei Unterstellungen und argumentierte, er selbst sei durch sein eigenes Überleben das beste Beispiel dafür, dass man sich seinen Kummer vom Herzen schreiben müsse, was aber die Frage offen lässt, wieso für das Verarbeiten des Kummers die Veröffentlichung dieses vom Herzen Geschriebenen denn wichtig sei.

Allerdings stellte er bei der zweiten Ausgabe von 1775 vor den ersten und den zweiten Teil jeweils einen Leitspruch, wobei der zweite wie folgt endete: „Sei ein Mann, und folge mir nicht nach.“ Und der Suizid seiner 17 Jahre alten guten Bekannten Christiane von Laßberg im Januar 1778, vier Jahre nach Erscheinen des Werthers, brachte Goethe in große seelische Not, zumal die Tote ein Exemplar des Romans in ihrer Tasche gehabt haben soll. Johann Wilke (1998) führt auf diese Erfahrung zurück, dass Goethe den Werther tatsächlich überarbeitete. In der neuen, 1787 veröffentlichten Fassung, ging er stärker auf Distanz zum Helden und machte damit das Suizidmodell weniger attraktiv. [...]

Die überwiegende Zahl der Leser waren jedoch begeisterte Anhänger des Romans. Vor allem unter den Jugendlichen brach ein regelrechtes Werther-Fieber aus, das den Protagonisten zu einer Kultfigur werden ließ, deren blauen Frack mit Messingknöpfen, gelbe Weste, braune Stulpenstiefel und runden Filzhut man als Werther-Mode imitierte. Es gab die berühmte Werther-Tasse[27] und sogar ein Eau de Werther. Szenen aus „Werthers Leiden“ (dargestellt zum Beispiel von Daniel Chodowiecki) schmückten Tee- und Kaffeekannen, Keksschalen und Teedosen.
Anhänger fand der Roman verständlicherweise unter denjenigen, die glaubten, sich in einer ähnlichen Situation wie Werther zu befinden, und in dem schmalen Bändchen Verständnis und Trost für ihre eigenen Leiden suchten. Hierauf zielt auch der Hinweis des fiktiven Herausgebers im Prolog des Briefromans:
„Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt, und lege es euch hier vor, und weiß, daß ihr mir’s danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe und seinem Schicksale eure Tränen nicht versagen. Und du, gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst!“

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Nach einigen Tagen, wo es schien, als ob die vorige Heiterkeit wieder zurückkehren würde, fand sich doch die düstere Melancholie eines Morgens wieder heftiger als sonst ein. Ohnerachtet alles auf mich achten musste, war ich doch ganz frühe der Achtsamkeit meiner Wächter entschlüpft und – fort war ich. Erst ging ich durch den Garten, von da aufs Feld, und so wie ich den Rhein erblickte; so war auch gleich der heroische Entschluss gefasst und ausgeführt, meinen Leiden ein Ende zu machen:

Ich stürzte mich, so wie ich war, in den Fluss.

Als ich nun halb eilf Uhr nicht, wie ich sonst tat, beim Frühstück erschien; so schöpfte man| [115] gleich Argwohn. Man rief überall, man schickte nach mir. Man fand mich nirgends.

Mein Vater war beinahe untröstlich. Anfangs versunken in tiefen Schmerz stand er wie eine Säule. Dann schlug er in seine Hände, sah gen Himmel und seufzte: „Arme Emilie!“

Die Mutter weinte, rang die Hände wund und blutig – als sie Mittags zwölf Uhr einen Brief von Amtmann Burrmann erhielt folgenden Inhalts:

„Unglückliche Eltern! Eure Emilie ist nicht mehr. Der Flussgott fordert alle Jahr sein Opfer. Emilie ward es. Sie stürzte nicht hundert Schritt von mir ins Wasser. Ich werde alle Mühe anwenden, sie aufzufinden. Mein treuer Johann, ein guter braver Kerl, den ich erst vor drei Tagen in den Dienst nahm, soll mir Hülfe dabei leisten. Es ist der beste Rat, dass wir uns in den Willen des Schicksals ergeben. Selbst dies Nachsuchen und überhaupt ihren Tod werde ich vor jedermann zu verbergen suchen. Sie ist dahin. Mit Millionen können wir sie nicht wieder ins Leben zurückrufen. Wir wollen sie, wenn wir sie wiederfinden, diesen Abend in aller Stille der Erde wiedergeben. Gott tröste Euch! Gott tröste ihre arme Seele!“| 116

Die gute Mutter bekam eine Ohnmacht über die andere. So oft sic die Augen wieder auf schlug, war Emilie, ihr erstes Wort. „Ach! meine arme Emilie, warum hast du uns das getan?“ Und dann sank sie wieder in Ohnmacht. Sie bekam ein heftiges Fieber und – starb wenige Tage nachher unter den schrecklichsten Krämpfen und Verzuckungen, nachdem sie noch fünf und zwanzig Jahre nach ihrem ersten Tode und Begräbnis gelebt hatte. Dies war aber der andere Tod aus dem sie nicht wieder erwachte.

Es war gerade gegen sechs Uhr Abends, als ich gefunden und aufs Trockne unter ein dickes Gebüsch gebracht wurde. Der Amtmann Burrmann gab seinem Johann den Befehl nach Hause zu gehen, und für einen hölzernen Kasten zu sorgen. Johann tat alles, wie ihm befohlen war – Er kam, brachte den Kasten, auch zugleich Hacken und Spaden, um ein Loch zu machen, und mich zu verscharren. Sein Herz war aber zu weich, ein so schönes Geschöpf, das in der schönsten Blüte der Jahre ein Opfer unglücklicher Liebe, dieser heftigsten Leidenschaft der Sterblichen geworden war, begraben zu sehen. Burrmann ging zu Hause mit Tränen in den Augen und Johann schluchzte noch mehr.| [117]

In der ganzen Gegend wurde die gute Emilie allgemein bedauert. Noch lange weihete der Vater sowohl als die Tante und so manche gute Freunde, die sie kannten, ihr Tränen des Andenkens an ihrer Todesurne, die sie ihr im Garten zwischen zwei Zypressen gesetzt hatten.

Melancholie: Die Melancholie (lateinisch melancholia, melancolia, von altgriechisch μελαγχολία melancholía „Schwarzgalligkeit“, aus μέλας melas „schwarz“ und χολή cholḗ „Galle“; „Schwarze Galle“: entsprechend der bis in das 19. Jahrhundert in der europäischen Medizin vorherrschenden Humoralpathologie der kalt-trockene Leibessaft) bezeichnet eine durch Schwermut bzw. Schwermütigkeit, Schmerz, Traurigkeit oder Nachdenklichkeit geprägte Gemütsstimmung, die in der Regel auf keinen bestimmten Auslöser oder Anlass zurückgeht. In Bezug auf eine psychische Disposition oder ein Krankheitsbild ist der Begriff Melancholie im 20. Jahrhundert weitgehend durch den Begriff der Depression ersetzt worden. Der Melancholiker ist ein Mensch, bei dem das melancholische Temperament überwiegt. Der Begriff Melancholie wird in Philosophie, Medizin, Psychologie, Theologie und Kunst behandelt. Eine ähnliche Bedeutung haben der romantische Weltschmerz und der Trübsinn.
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in den Fluss: Die berühmteste Wasserleiche der Literatur ist Ophelia in Shakespeares Drama Hamlet. Auch später taucht sie immer wieder in der Literatur auf.

Die ertrunkene Frau (franz. La Femme noyée) ist die sechzehnte Fabel aus dem dritten Buch der Fabelsammlung von Jean de La Fontaine, die 1668 zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Der Fabulist greift hier auf einen seit dem Mittelalter bekannten antifeministischen Scherz über die Widerspenstigkeit der Frau zurück, den er aber dazu verwendet, um sich ausdrücklich von dieser Haltung zu distanzieren. Das älteste bekannte Analogon ist Marie de Frances Fabel D'un Hume qui aveit une Fame tencheresse (altfranzösisch; deutsch: Von einem Mann, der eine launische Frau hatte).
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eilf: alte Form von elf

hölzernen Kasten: Sarg.

 

Auferstehung einer Scheintoten. Kupferstich 1684.

Spaden: alte Form von Spaten

 

 

 

 

 

 

 

Daniel Nikolaus Chodowieckis »Totentanz«. Königl. Grosbritannischen Historischen Genealogischen Calender für 1792

 

Kaum war Amtmann Burrmann fort; so wandte Johann alle nur ersinnliche Mühe an – er musste etwas gehört oder gelesen haben: dass es möglich sei, Ertrunkene wieder ins Leben zu rück zu bringen – mich wieder lebendig zu machen. Er rieb meine empfindlichsten Theile, über strömte mich mit Küssen, wiegte sich mit seinem Leibe auf dem Meinigen, indem er meine beiden Hände fasste. Durch diese allmählige Erwärmung meiner innern Teile brachte er es dahin und zugleich auch durch die Bewegung, dass mir eine große Menge Wasser aus dem Munde strömte. Und – ich schlug die Augen auf und wieder zu – und erwachte so allmählig zu einem neuen Leben.

„Wie glücklich bin ich, waren Johanns erste Worte. Ach wende dein Auge nicht weg, schöne Unglückliche! Liebe Emilie! kennst du mich nicht?“

Ich dich nicht kennen, Johann!

„Ich bete dich an, schöne Göttin!“| [118]

Also dir habe ich mein Leben, meine Rettung zu danken! Ach! du hast nicht wohl getan. Hattest du mich doch nur immer begraben mögen! Wie kommst du hieher? Du wolltest ja in die weite Welt gehen.

Ich wünschte nichts mehr als in deiner Nähe zu sein. Ich war im vorigen Jahre in *** , bei dem Minister von ***; und jetzt bin ich seit einiger Zeit bei dem Amtmann Burrmann.

„Wie führt der Herr seine Heiligen so wunlich!

Unsere Liebenden hatten auf einige Augenblicke ihre Sprache verloren. Sie wollten sprechen: allein ein jedes Wort starb ihnen auf ihrer Zunge. In ihren Augen wankten Tränen. Johann – es war derselbe , dem die Nase so oft geblutet hatte, als er noch bei ihrem Vater war – legte Emiliens Hand in die Seinige, drückte sie gegen sein Herz, verschlang sie mit Küssen. Seine Hand war so kühn, wie sie vorher oft gewesen war, sich in dem Busen seiner Geliebten zu stehlen. Er fand, dass sie schwer atmete. In einem Feuerkuss stürzte sich seine ganze Seele auf sie. Seine Lippen hafteten fest an den Ihrigen und er küsste sie bald in einen zweiten Tod, und dann wieder in ein neues Leben zurück.| [119]

Nach dieser Szene, in einem sehr dicken Busche, wo niemand die Liebenden belauschen konnte, begann der Geliebte, wie folget:

Höre, liebe Emilie! einen Plan, vielleicht den sonderbarsten, aber den gründlichsten für mich – was willst du zu Hause machen – ich weiß deine Gedichte – wo du Doch keine Freuden hast? du bist doch nun einmal das Märchen der Gegend. Jetzt er zog eine Flasche Wein und andere Erfrischungen aus seiner Tasche – nehmen wir ein kleines Mahl: dann teilen wir unser Schicksal und – gehen in die Welt.

Ich willigte ein und fand in diesem Plane so viel Anmut , dass ich von Stunde an meine melancholische Laune ganz aufgab und mit dem größten Leichtsinn von der Welt den Augenblick erwartete , wo wir unsere Reise antreten würden.

Wir besiegelten nochmals auf das Feierlichste unsern Bund, und mein Johann verscharrte den Kasten, und ging hin, um noch einige Sachen von Wert und besonders seine Börse zu holen: denn er hatte sich in seiner Dienstzeit ein schönes Stück Geld gesammlet.

Froh und vergnügt zog ich den Jagdhabit an, den mir Johann mitgebracht hatte – und wusste mich mit Gewehr und Schießtasche so ar-|[120]tig zu benehmen, drückte meinen runden Hut so wacker ins Gesicht, als ob ich schon zwanzig Jahr damit umgegangen wäre.

So traten wir unsere Reise an. Von einem Tage zum andern kamen wir immer weiter und machten zwischendurch unsere Rasttage. Anfangs hatten wir uns in ***, einem ***schen Städtchen eingemietet, wo es uns sehr gefiel. Ich hatte mein Jagdzeug abgelegt, weil ich es jetzt nicht mehr denken konnte, dass, wenn uns auch irgend jemand im Busche wahrgenommen hätte, wir Nachjagd bekommen würden. Man war viel zu gut überzeugt, dass ich in dem Rheine ertrunken wäre, dass mich Amtmann Burrmann habe begraben lassen, und Johann hatte eine kleine Reise zu seinen Anverwandten vorgegeben.

Wir lebten da als Privatleute, und waren ganz vergnügt. So lange mein Johann etwas zu verzehren hatte, ging es gut. Aber das dauerte nicht gar lange; so waren einhundert Taler beinahe aufgezehrt. Ein brillanterer Ring, ein Andenken von meiner Mutter, ein Souvenir und andere Kleinigkeiten wurden auch bald ein Raub der Gauner, die an allen Ecken, auf Verzehrer der Art lauren und nur das halbe Geld für solche Preziosen bezahlen.| [121]

Johann hatte nichts gelernt, wodurch er sich hätte ehrlich nähren können. Und ich – armes Geschöpf! was vermochte ich? Unsere Habseligkeiten waren größtenteils aufgezehrt. Was war nun zu tun! Not lehrt beten. Wir begaben uns jetzt nach Frankfurt, wo sich Johann als Soldat anwerben ließ, weil eben zu der Zeit viele Truppen gegen die Franzosen angeworben wurden. Ich ging mit ihm. Hier suchte ich – anfangs wurde es mir sauer, aber es ging doch immer besser – durch fein Nähen und Waschen für die Offiziere und andere Herrn und durch, – wenn mein Johann exerzieren musste, einigen Unterhalt zu verdienen. Wir schränkten uns ein und behalfen uns sehr kümmerlich. Und doch – hätte ich dies gern noch länger ertragen aus Liebe zu meinem Johann – denn er war gar zu ein guter nachsichtsvoller Junge. – Aber mein größtes Leiden! Bei der ersten Attacke gegen die Franzosen – er musste gleich ins erste Feuer – wurde er erschossen, und ich – war nun ganz verlassen.

Der gute Junge! Noch muss ich ihm für seine Treue, die er mir bewies, und für die Sorgfalt, die er anwandte, mir keinen Kummer zu machen, eine Träne der Dankbarkeit weihen, und zugleich eine Träne der Reue, für die Nach.|[122]sicht, die er hatte, wegen meinen öftern Austritten aus dem Gebiete der ehelichen Keuschheit. Doch damit nehmen es ja unsere gutherzigen Männer heut zu Tage so genau nicht mehr. – Und wir waren ja nicht kopuliert.*)

–––

*) Als wenn das heutiges Tages noch ein Zaum wäre! denkt her so manches Frauenzimmer beim Lesen dieser Stelle. Ja wo ist es ein Zaum – aber ein Zaum, wo so viele hinüberspringen. Wenn es alle tun; soll man denn eine Ausnahme machen? – Emilie redet hier im Tone der Satire.

wunlich:  gelegenheitsbildung von der verbindung wunn und weh her, eine eigenartige, in der nähe eines angenehmen grausens liegende empfindung kennzeichnend. (DWB)

Unsere Liebenden: Schnorr verlässt kurz die Ich-Form der Erzählung

Jagdhabit: Jagdkleidung

in einen zweiten Tod: Vorstellungen zu Tod oder Sterben und zum Orgasmus weisen Ähnlichkeiten auf. Nicht selten werden sie weltanschaulich oder künstlerisch miteinander in Zusammenhang gebracht. Die französische Umschreibung für den Orgasmus La petite mort, „der kleine Tod“, spiegelt die Assoziation Orgasmus und Tod sprachlich wider. Derartige Entsprechungen finden sich in philosophischen und religiösen Zusammenhängen, in der Malerei sowie in der Dichtkunst und in der Literatur,
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unsere Reise: Im Gegensatz zu den Reisen des Freiherrn von Münchhausen sind die Handlungsorte der Liebesabenteuer des Fräuleins Emilie von Bornau bescheiden. Auch sie reist zu Wasser und zu Lande und erlebt Abenteuer mit verschiedenen Männern, sie bewegt sich aber nur auf dem Landwege vom Oberrhein über Frankfurt am Main bis nach Hamburg, von wo sie der englische Kapitän mit nach London nimmt.

Die Zahl ihrer Liebhaber ist groß; das beginnt mit dem Kammerdiener des Vaters namens Johann, der fortgeschickt wird, und geht weiter mit den Candiaten Rosenthal, der sein Amt als Hauslehrer missbraucht und sich in Wertherscher Manier das Leben nimmt, als Emilie mit dem sehr viel älteren Herrn von Helmkragen verheiratet werden soll.

Johann, der nun in Diensten des Amtmanns steht, belebt Emilien nach ihrem Selbstmordversuch durch sexuelle Stimulation und flieht mit ihr nach Frankfurt am Main, wo er sich zum Soldaten anwerben lässt. Emilie verdient sich etwas als Soldatenhure hinzu. Nach dem Tod Johanns, der in einem Gefecht mit französischen Revolutionstruppen fällt, geht sie nach Hamburg, um sich dort in einem Bordell zu verdingen.

Ein englischer Schiffskapitän lässt sich mit ihr trauen und nimmt sie mit nach London. Da sie sich dort mit anderen Männern einlässt, verstößt sie der Kapitän, stattet sie aber mit dem nötigen Geld aus, so dass sie über Hamburg wieder in ihre Heimat zurückkehren kann.

Preziosen: Kostbarkeiten, Geschmeide

Frankfurt: Frankfurt am Main war freie Reichstadt, deshalb war hier kein Hessisches Militär stationiert.

als Soldat anwerben ließ: Der Erste Koalitionskrieg war der erste Krieg einer großen Koalition zunächst aus Preußen, Österreich und kleineren deutschen Staaten gegen das revolutionäre Frankreich zwischen 1792 und 1797 zur Verteidigung der Monarchie. Der Krieg begann mit Erfolgen der Alliierten, bis die Kanonade von Valmy ihren Vormarsch auf Paris beendete. Die Revolutionsarmee ging zur Gegenoffensive über und besetzte verschiedene Gebiete, darunter die Österreichischen Niederlande und Teile des Rheinlandes.

Am 23. Oktober 1792, zwei Tage nach der Besetzung des benachbarten Mainz, erschienen französische Truppen unter General Victor Neuwinger vor den Toren Frankfurts und erzwangen nach kurzen Verhandlungen die Öffnung der Tore. Mit 3000 Mann rückte die französische Revolutionsarmee durch das Sachsenhäuser Affentor in die Stadt ein. Ihr Befehlshaber General Adam-Philippe de Custine belegte die Stadt mit einer Kontribution von 2 Millionen Gulden und ließ sieben angesehene Bürger als Geiseln arretieren.

Eine städtische Deputation reiste nach Paris, um über die Repressalien zu verhandeln. Sie geriet jedoch alsbald in eine missliche Lage: Am 2. Dezember 1792 stürmten preußische und hessische Soldaten, die aus der Champagne zurückgekehrt waren, das Friedberger Tor. Zunächst erlitten sie schwere Verluste, da die Wälle von französischen Scharfschützen bemannt waren. Von dort konnten sie aus sicherer Deckung auf die Angreifer feuern, die in klassischer Linienformation vorrückten.

Erst als Frankfurter Handwerksburschen in das Gefecht eingriffen und die Zugbrücke am Friedberger Tor öffneten, konnten die verbündeten Truppen in die Stadt gelangen und die französische Besatzungsarmee vertreiben. Als die Nachricht in Paris eintraf, wurden die Frankfurter Geiseln sofort verhaftet. Zur großen Erleichterung des Rates konnten sie aber bald darauf wohlbehalten in die Stadt zurückkehren.

 

Georg Karl Urlaub: Die Einnahme des Friedberger Tores in Frankfurt durch hessische Truppen. Öl auf Eichenholz nach 1792. Gemäldegalien Kassel.

Zur Erinnerung an das erfolgreiche Gefecht und die 55 dabei gefallenen hessischen Grenadiere stiftete der preußische König Friedrich Wilhelm II. im Jahr darauf das Hessendenkmal. Es steht heute, nachdem es für den Bau der U-Bahn und eines Straßendurchbruches 1970 versetzt werden musste, einige Meter außerhalb der Innenstadt am Beginn der Friedberger Landstraße.
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Aus dieser Zeitangabe kann auf das Geburtsjahr der fiktiven Emilie geschlossen werden. Sie wurde im sechzehnten Lebensjahr von ihren Eltern einem Edelmann versprochen; demnach wurde sie um 1775 geboren. Das Bestätigt die Vermutung, Schnorr habe als Vorbild Hieronymus Munchhausens zweiter Frau
Bernhardine Brunsig von Brunn (1773-1839) im Sinn gehabt.

Truppen gegen die Franzosen: Die Hessen-kasselsche Armee waren die Streitkräfte der Landgrafschaft Hessen-Kassel und des aus dieser hervorgegangenen nachmaligen Kurfürstentums Hessen.

nicht kopuliert: unverheiratet

 

 

 

Vielen unter meinen Freunden, die ich mir unter den Herren Offizieren erworben hatte, dauerte mein trauriges Schicksal. Sie boten mir Stellen an, die manches Frauenzimmer in meiner Lage nicht ausgeschlagen haben würde. Aber ich hatte mir nun einmal eine andere Karriere gezeichnet, die mir viel angenehmer schien. Ich genoss noch vierzehn Tage Gunstbezeugungen dieser Herren, ließ mir blank bezahlen und suchte vorzüglich, meine Garderobe dadurch in die schönste Ordnung zu bringen. Dies gelang mir äußerst gut.

Mein größtes Glück, ich blieb bei meinen größten Ausschweifungen frei von allen damit sonst verbundenen Unannehmlichkeiten. Ich bekam auch oft nach mehrmaligen Genuss in einem Tage, keinen Ekel, keine Üblichkeiten, selbst nie| [123] die Franzosen, oder andere Krankheiten. Meine Gestalt verschönerte sich vielmehr, mein Reiz wurde immer größer. Ich beschloss also nach Hamburg zu gehen, um daselbst auf allen Fall mein Glück zu machen.

Bei meiner Ankunft meldete ich mich sogleich, nachdem ich mich in einem der schönsten Wirtshäuser so sauber als möglich angekleidet hatte. – In Kleidung suchte ich mich vorzüglich sehr nett zu halten: dies ist auch das einzige Kunststück, welches eine schöne weibliche Person nur anzuwenden braucht, um zu gefallen oder um Anbeter zu bekommen – bei der bekannten Madame ***. Ich wurde hier äußerst wohl aufgenommen, gut unterhalten und bekam das Zimmer No. I. Meine Larve wurde sogleich von dem feinsten Maler weiblicher Kunstbilder in der schönsten Attitüde von der Welt*) neben meinem Zimmer aufgehangen.

–––

*) Man sehe das Frontispize.

Der erste nächtliche Besuch war der Fürst von –. Die scheußlichste Kreatur von der Welt. Es wurde mir hier äußerst beschwerlich, meine Rolle so zu spielen, wie ich sollte. Jetzt dachte ich: wärest du doch in Frankfurt geblieben. Sonst konnt ich wählen, jetzt hing ich von Madam***| [124] ab. Ich blieb lange Zeit hart. Mit Tränen in den Augen beschwor mich Madam – mich ihm zu überlassen. Ich gab ihr meine Besorgnis zu erkennen, weil ich an seinem Geruche nichts Gutes witterte. Allein – das alles half nichts. Der Fürst wandte alle mögliche Überredungskunst an. Da er sahe, dass süße Worte, Schmeicheleien, Liebkosungen nichts ausrichteten, drückte er mir seine volle Börse in die Hand und gab mir eine goldene Tabatiere nebst Uhr in den Kauf und ich – gab nach. Was ich befürchtete, geschah. Ich hatte, wofür ich mich so lange hütete, die Franzosen am Halse.

Meine gute blühende Natur half mir nebst dem Gebrauch aller möglichst geschwinden Arznei mittel in den ersten vierzehn Tagen auf. So dass ich schon wieder Besuche annehmen konnte.

Jetzt ging die Türe auf. Ein großer sehr starker Mann bis an die Tür von zwei reich galonierten Dienern begleitet, die sogleich ihren Abtritt nahmen: denn an solchen Orten haben selbst die höchsten Häupter nicht gerne Zeugen – trat herein. Er war in einen großen weiten Mantel eingehüllt. Als er den Mantel ablegte, sah ich eine – – Uniform, und einen großen Stern an seiner Brust. Schon oft erinnerte ich mich, ihn im Kupferstich, auch auf den neuesten Goldstü-|[125]cken sehr ähnlich gesehen zu haben. Es war der Fürst ***, unter dem angenommenen Nahmen des Grafen von ***. Meine Gestalt nahm ihn sehr ein. Er machte mir nicht allein in deutscher, sondern auch in französischer Sprache die feinsten, Komplimente, die ich ihm mit eben der Fertigkeit in beiden Sprachen erwiderte. Mein Dienst gefiel ihm so sehr, dass er mir nicht allein ansehnliche Geschenke machte; sondern auch des andern Abends wiederkam und mir die Stelle einer Maitresse antrug, die ich aber – ich weiß selbst nicht warum! Denn eigentliche Gründe hatte ich nicht – ausschlug.

Mehrere andere eben nicht interessante Partien besuchten mich die folgenden Abende – die ihr Vergnügen hatten, und nicht einmal so artig waren, mich zu beschenken. Aber es waren auch keine Fürsten, und ***. Sie hatten wohl nicht viel mehr übrig, als was sie an Madame *** gaben. Oder hatten auch das wohl vielleicht geborgt!

die Franzosen: Syphilis, oder die französische Krankheit

Hamburg: Im Stadtteil Sankt Pauli etablierten sich seit dem 17. Jahrhundert Kneipen und Amüsierbetriebe, darunter Bordelle.

 

Hamburg, Stadtzentrum um 1735, Kupferstich von Christian Fritzsch

Larve: erscheinung des menschlichen antlitzes (DWB)

Frontispiz: in keinem der eingesehenen Bücher vorhanden.

golonierten Diener: die Diener tragen reich verzierte Livreen.

Tabatiere: Schnupftabakdose

 

Szene im Bordell. Französischer Kupferstich um 1780

 

  

 

Fürst***: Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) aus dem Haus Hohenzollern war ab 1797 König von Preußen und Kurfürst von Brandenburg.

Am 24. Dezember 1793 heiratete Friedrich Wilhelm Luise zu Mecklenburg-[Strelitz]. Im Kronprinzenpalais Unter den Linden in Berlin, wo er auch als König wohnen blieb, und im bescheidenen Sommersitz Schloss Paretz bei Potsdam führte Friedrich Wilhelm ein fast schon bürgerliches Leben und eine vorbildhafte Ehe.

Angewidert vom moralischen Zerfall am Hofe seines Vaters (Intrigen einer kleinen Hofclique, Affären des königlichen Vaters, der am Ende mit drei Frauen zugleich verheiratet war), war er bemüht, die Sittlichkeit im Königshaus wiederherzustellen. Bereits kurz vor dem Tod seines Vaters hatte er diese Maßnahme in der Schrift Gedanken über die Regierungskunst begründet:

„Ein fürstlicher Hof ist gewöhnlich mit trotzigen, eingebildeten, hochmüthigen und impertinenten Subjekten versehen. Eben daher kömmt es denn, dass die meisten Höfe gewöhnlich als Sitze des Lasters und der Üppigkeit von dem Land verabscheut werden.“
Friedrich Wilhelm III.

Die Gräfin von Lichtenau, die von ihm gehasste Mätresse seines Vaters, ließ Friedrich Wilhelm unter Arrest stellen, ihre Wohnung wurde durchsucht und ihr Besitz beschlagnahmt. Der König warf ihr in einer Kabinettsorder vom 13. März 1798 vor, „die wichtigsten wie die geringsten Regierungsangelegenheiten von ihren landesverderblichen Einfluss abhängig gemacht (zu) haben“. Allerdings fanden die königlichen Untersuchungen keinen Beweis dafür, dass sie in die Politik Friedrich Wilhelms II. eingegriffen habe.

Auch als Königspaar lebten Friedrich Wilhelm III. und Luise mit ihren Kindern im Kronprinzenpalais. Das Berliner Stadtschloss diente der Monarchie zu seltenen, repräsentativen Staatsakten wie der Huldigungsfestlichkeit und ansonsten als Behördensitz. Anders als seine Vorgänger zog Friedrich Wilhelm eine klare Trennlinie zwischen Privatleben und öffentlicher Funktion. Sein relativ schlichter, fast bürgerlicher Lebensstil fand in der Öffentlichkeit positiven Anklang. So pries der Theaterdichter Karl Alexander Herklots in einem Lobgedicht aus dem Jahr 1798 seinen König mit den Versen:

Nicht dem Purpur, nicht der Krone
räumt er eitlen Vorrang ein.
Er ist der Bürger auf dem Throne,
und sein Stolz ist’s Mensch zu sein.
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Und nun – erschien ein englischer Schiffskapitän, der sich unter den Nahmen und Charakter Lord Clairville ankündigte. Dieser setzte sich neben mir auf mein seidenes Sofa. Ließ mich jemand herrlich bewirten, so war es dieser Lord. Die schönste Chocolate, und nachher der| [126] herrlichste Portwein, Punsch und was ich wünschte – auch ein schönes Stück Rostbeef war nebst andern köstlichen Esswaren unser Abendessen.

Das war ein Mann. Die Fülle der Gesundheit. Ein kraftvoller Blick, große schmachtende blaue Augen, starken Körperbau, breite Schultern, Muskeln, Lenden, wie sie Herkules – von dem ich einst las, dass er – ein schönes Kunst stück! funfzig Mädchen in einer Nacht geschwängert – gehabt haben mag, und Waden zum Entzücken. Dieser Mann war das nicht, was andere in solchen Augenblicken sind. Jene, die mich vorhin besuchten, wenige ausgenommen, wollten bloß ihren Sinnenkitzel befriedigen, dieser zugleich seine höheren Seelenkräfte. Er suchte mich so angenehm zu unterhalten, gar nicht mit dem gewöhnlichen Ungestüm, nein! mit einer Artigkeit, die ich nicht zu zeichnen vermögend bin. Die Stunden schwanden mir wie Minuten. Es deuchte mir kaum Mitternacht, wenn er mit Anbruch des Tages schon wieder ging. Er besuchte mich mehrere Male, unterhielt sich mit mir, forschte mein Temperament, meine Kenntnisse, meine feine Welt, alles aus und nun sagte er, als er mich acht Tage besucht hatte.

„Mein Gott! sagen sie mir: wie kommen sie in dies Haus?“| [127]

Die Not! lieber Clairville!

„Die Not? Ein Frauenzimmer, wie sie? Ein Mädchen wie die schöne Rose? Welch ein Unstern muss ihre Wangen trüben?“

Ich – weinte.

Er – küsste meine Tränen auf. „Weinen sie nicht, liebenswürdige Emilie! Sie verdienen ein solches hartes Schicksal nicht, hier aus einer Hand in die andere geworfen zu werden, bis alle ihre Reize und sie selbst dahin sterben. Ich werde ihnen auch gerne die Mühe und den Kummer ersparen, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Aber – sie sind von Familie. Das ist offenbar aus ihrem ganzen Wesen, aus ihrer Grazie, womit sie gehen, stehen, reden; aus ihrem Teint; aus ihren was er da alles nannte, zu sehen. Wollen sie meine Hand; so sein sie auf immer die Meinige.“

Gern willigte ich ein. Ein solcher Antrag durfte nicht zum zweitenmale kommen. Im Grunde war ich es auch bei Madame – herzlich müde. – Und nun erkaufte mich dieser Lord Clairville für eine große Summe. Ich dankte meiner Wohltäterin, und ward nun aus diesem Hause, wohinein so viele unglückliche weibliche Seelen flüchten, teils aus Befriedigung| [128] ihrer tierischen unersättlichen Triebe, teils aus Not, um sich Unterhalt zu verschaffen, worin ich nur vier Wochen gewesen war, auf einmal wieder in die große Welt versetzt. Ich ging wie eine Göttin am Arme des Capitain Lord Clairville in sein Hotel – ein englischer Schiffsprediger trauete uns und ich war die glücklichste Person unter der Sonne. Wir setzten uns nach einigen Wochen, nachdem wir alle nur mögliche Festins, Bälle und Lustbarkeiten beigewohnt, und er alle seine Geschäfte vollendet hatte, zu Schiffe und so ging es nach London.

Allein wie ein großes Glück selten lange dauert; so ging es mir auch hier. Der sinstere Charakter der Engländer war mir höchst zuwider. Leider – mein unsäglicher Hang zur Spielerei, zur Koketterie und meine schöne Larve brachten mich wieder beinahe dahin, wo ich vorher war. Ein Paar schöne Engländer, die mir die Cour machten, mit denen ich so manche angenehme Stunde zubrachte, setzten mich in Misskredit bei Lord Clairville. Und man weiß ja wohl, wie misstrauisch ohnehin die Engländer sind. Ist der Same der Eifersucht erst ausgestreuet; so keimt er immer mehr, und reift endlich zu großen schrecklichen Szenen.

Aber ich hatte auch Schuld.| [129]

Eines Morgens als ich glaubte, Capitain Clairville würde von seiner Reise noch nicht zu Hause kommen, traf er mich, als er spornstreichs auf mein Zimmer trat, nicht in der schicklichsten Lage mit dem jungen Lord Germain auf den Sofa. Er erstach ihn auf der Stelle und befahl, den Augenblick mich von ihm zu entfernen.

Ich bat, ich flehte. Nichts konnte seine Stirn heitern, nichts ihn erweichen. Ich weinte, ich beschwur ihn, mich nicht unglücklich zu machen. Ich wäre das elendeste Geschöpf unter der Sonne, ganz verlassen, hülflos, in einem fremden Lande. Ich gelobte ihm Besserung. – Nichts half. Ich umfasste seine Knie, indem ich zur Er den niederfiel. – Nichts konnte ihn bewegen. Da ich sah, dass es nicht möglich war, ihn zu erweichen, so bat ich ihn nur um das Einzige, mich wenigstens aus England fortzuschaffen.

„Gut, Madame! sagte er: wo wollen sie hin?“

Lassen sie mich nach Frankfurt bringen.

„Diese Bitte sei ihnen gewährt.“

Ein Schiff wurde also bestimmt, welches so eben die Themse verlassen wollte. Er erlaubte mir alle meine Sachen einzupacken, und mitzu-|[130]nehmen und schenkte mir dazu einen Beutel mit 100 Stück Guineen. Ich nahm möglichst geschwinde Abschied, dankte meinem Kapitän, für die Großmut, die er gegen mich bewiesen, und – in wenigen Tagen brachte mich die Fregatte nach Hamburg. Von hier, wo ich mich nicht lange aufhielt, ging ich mit Extrapost nach Frankfurt.

Lord Clairville: Name eines Akteurs der Komödie The sister von Charlotte Lennox. Deutsche Fassung: Was seyn soll, schickt sich wohl. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. In: Hamburgische Theater. Erster Band. Hamburg 1776.

Herkules: Vom achtzehnjährigen Herakles berichtet Apollodor folgendes Abenteuer:

Auf dem Kithairon, an welchem die Herden des Amphitryon und die des Thespios weideten, hauste ein Löwe, den Herakles zu bekämpfen unternahm.

Thespios war der König von Thespiai. Zu ihm kam Herakles, als er den Löwen erlegen wollte. (2,66) Der bewirtete ihn 50 Tage. Solange er auf die Jagd ging, ließ er ihn jede Nacht bei einer Tochter schlafen [Megamede, die Tochter des Arneos hatte ihm 50 Töchter geboren]. Es ging ihm darum, dass jede von Herakles ein Kind bekam. Herakles verkehrte im Glauben, es sei immer dieselbe, mit der er schlief, mit allen.
(2,65)

https://www.gottwein.de/Grie/apollod/apollod20404.php#Apollod.2,4,9

Festins: franz. Festessen

 

  

William Hogarth: Folge »Vorher und Nachher«, Kupferstiche 1736.

 

William Hogarth Captain Thomas Coram, Stahlstich um 1860 nach dem Originalgemälde von 1740.

William Hogarth: The Tavern Scene, Kupferstich 1735

Guineen: britische Goldmünze

Extrapost: Extraposten waren bis 1919 Fahrten auf Poststraßen, die vom Posthalter auf besonderes Verlangen zur Beförderung von Reisenden oder Gütern zu stellen waren und gegen besondere Gebühren gefahren wurden.
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Lord Germain: Möglicherweise ist George Sackville (geb. 1770) gemeint, Sohn des 1. Viscount Sackville (geborener Sackville, 1716-1785), britischer Soldat und Politiker.

 

Gefährliche Vertrautheit, französischer Kupferstich von Nerbe, 18. Jahrhundert

 

Postkutsche, Radierung um 1800

 

Hier hatte ich noch einen Großoncle, den Baron von Unvermögen, der unverheiratet war. Ich hoffte von ihm gut aufgenommen zu werden. Denn ich erschien bei ihm in einem Aufzuge, dessen er sich gewiss nicht Ursache hatte zu schämen.

Aber, da er nie ein Menschenfreund gewesen, auch sich wenig um seine Familie bekümmerte und in einer eigenen besondern Sauçe lebte; so war seine Aufnahme anfangs sehr kalt, und sein Rat? Wieder hinzugehen zu meiner Heimat. Mein Vater würde mich gewiss mit Vergnügen wieder zu sich nehmen.

Mein Vater ? sagte ich: der weiß nicht anders, als dass ich mich in den Rhein gestürzt habe – dass Amtmann Burrmann mich wieder herausgefischt, und mich am Ufer durch seinen Johann begraben lassen.| [131]

Um des Himmels willen! rief er: sind Sie die Person?

Und nun musste ich ihm haarklein alle Schicksale erzählen, die ich bis dahin gehabt hatte. Ich war auch närrisch genug, ihm alles aufs genauste im schönsten Detail zu erzählen – worauf er denn gleich ersahe, welches Geistes Kind ich war. Er konnte sich nicht enthalten, einmal über das andere zu lachen und auszurufen:

„Ein sauberes Vögelchen!“

Mit dem zweiten Abende wurden wir schon bekannter. Er bot mir sogar eine Stelle in seinem Bette an, die ich zur Probe annahm. Aber dieser alte Sünder stank dermaßen, und hatte überdies so sonderbare Maximen an sich, dass ich mich gleich des folgenden Morgens aufmachte, und nach Bellingen zu meinem väterlichen Hause eilte, um zu sehen, was ich hier für eine Aufnahme fände. Dass ich alles überraschen würde, war wohl natürlich genug.

Um recht galant vor meinem Vater zu er scheinen, nahm ich in Frankfurt einen recht schönen Mietwagen, den schönsten, den ich habhaft werden konnte, zog mich wie eine Göttin an, und richtete es so ein, dass ich ohne einzukehren bei hellem Tage im Schloss Bellingen sein konnte.| [132]

Es war einer der heitersten Tage im Julius. Als ich durch das eine Ende des Dorfes fuhr, sah alles hoch auf. Dicht an den Schlag – ich ließ mit allen Fleiß recht langsam fahren – traf ein altes achtzigjähriges Mütterchen, das aber so gleich sich kreuzte und segnete und

„Herr Jesus – ist das unser Fräulein!“ rief. Sie wurde ohnmächtig nach ihrem Hause getragen. Sie behauptete nun völlig und gewiss: man hätte geglaubt, dass es in vorigen Zeiten Wunder gegeben – die jetzigen hätten auch der gleichen aufzuweisen: denn Fräulein Emilie, die wirklich in dem Rheine ertrunken und am Ufer desselben begraben wäre, sei leibhaftig erschienen: das könne nicht mit rechten Dingen zugehen. Sie starb des dritten Tages an den heftigsten Schmerzen, eine Folge der heftigen Erschütterung und zugleich an der in solchem Alter gewöhnlichen Entkräftung.

 

 

Ich fuhr aufs Schloss Bellingen – etwas geschwinder als durchs Dorf, und ließ den Kutscher vor der Entree halten. Aber wie groß war mein Erstaunen, als ich anstatt meinen Vater – den Oncle, den bekannten Major von Bornau, und in den Zimmern die ganze Familie desselben, mit Sack und Pack, mit Weib und Kindern sahe. Das war mir unerwartet und alles so fremd; so| [133] ganz anders, als ich es sonst in meinem väterlichen Hause gewohnt war. „Mein Gott! Sagte dieser: sehe ich recht oder nicht – Sie sind –“

Wie sie sehen, mein guter Oncle, Emilie von Bornau, ihre Nichte.

„Unmöglich. Sie müßten denn von den Toten auferstanden sein. Und heut zu Tage gibt es keine Wunder mehr. Sie sind ja im Rhein ertrunken, und Amtmann Burrmann hat sie begraben lassen. Im Garten steht ihre Todesurne zum Andenken zwischen zwei Zypressen. Das ist so. Sehen sie. (Er holte die Handschrift.) Hier ist das Schreiben des Amtmanns. Oder – es kann nicht mit rechten Dingen zugehen.

Alles staunte hoch auf und besah mich von der Scheitel bis zur Fußzehe, von welcher man freilich fürerst nicht viel zu sehen bekam, weil die Kleider schon damals so lang getragen wurden. Kinder, alles sah mich freundlich an und – bewunderte meinen Putz, meine Taille, meinen Anstand ⁊c.

Ich nahm den Oncle beim letzten Worte. „Mit rechten Dingen? Ich kann ihnen Beweise geben, liebes Onclechen! Ich bin es gewiss.| I34] Sie sollen es sehen. Aber erst eine Frage, mir die wichtigste von allen: wo ist mein Vater?

Er ist vor drei Tagen gestorben. Es tut mir leid, dass ich ihnen die traurige Nachricht sagen muss. Er ist gestern Abend zu seinen Vätern beigesetzt und hat mich zum völligen Erben seiner Güter eingesetzt.“

Eingesetzt? Dann müsste es keine Emilie von Bornau geben, die seine leibliche Tochter war. Ich bin die einzige Erbin. Wo ist der Verwalter Zahlmann?

„Auch tot.“ Ist denn niemand mehr hier? Lassen sie mich auf das Zimmer meiner seligen Mutter gehen. Oder besser, kommen sie mit. Da steht gewiss noch eine Schatulle. Zu derselben habe ich den Schlüssel. Diese Schatulle schließe ich auf. Ich zeige ihnen ein Paket Schriften von meiner Mutter Handschrift: dann erzähle ich ihnen alles:

Dass ich acht Jahr nach dem Tode meiner Mutter als Ei zur Welt kam; dass ich nicht mehr als ein Pfund weniger ein Lot wog; dass mich Zahlmanns Badine säugte; da – – alles| [135] muss mit der Schrift aufs genaueste überein stimmen.

„Ja, sie sind es. Ich sehʼ jetzt leibhaftig Nichte Emilie vor mir.“

Alles embrassirte mich; alles erstickte mich fast mit Küssen. Alles war bereit, mir Erfrischungen anzubieten. Man ließ meine Sachen vom Wagen hereinnehmen und auf meiner seligen Mutter Zimmer bringen, welches mir zu meinem Wohnsitz fürerst angewiesen wurde.

Hier warf ich mich, so geschwind ich konnte, in ein musselines Negligé und nun – als ich die vorigen Zeiten überdachte – meinen Vater nicht mehr fand –– geriet ich in eine Schwermut, in eine Traurigkeit, der ich nicht anders Luft machen konnte, als durch Weinen. Mein schreckliches Schluchzen brachte bald alles zu mir herauf, um mich zu trösten – auch war Pastor Schwarz der die Mär von meiner Wiederkunft aus dem Reiche der Toten vernommen, sogleich da, um diese sonderbare Erscheinung mit höchsteigenen Augen zu sehen.

Dieser bekräftigte es denn durch mit folgende Zeichen und Ausdrücke – dass es Emilie sei – nur dass sie hier unendlich schöner erschienen. Sie wäre zwar in ihren jüngeren Jahren| [136] ein wahrer Engel von Schönheit gewesen: aber jetzt übertreffe sie alles, was er bisher Schönes gesehen. Sie lasse alle ihre Gespielinnen, mit denen sie aufgewachsen an Schönheit, Grazie, Wuchs, Anmut, weit hinter sich zurück.

Ich schob das auf das Echaufement der Reise, auf die gewöhnlichen Komplimente, worin es der Herr Pastor schon ehemals weit gebracht hätten und was ich sonst für Ursachen angab.

Sauçe: franz. Drumherum

Alles embrassirte mich: umarmte mich

ein musselines Negligé: Der Musselin (auch der Mousselin; franz. la mousseline) ist ein lockerer, feinfädiger und glatter Stoff aus Baumwolle oder Wolle.

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts verbreitete sich in Frankreich der Begriff des „negligé“; er bezeichnete den Zustand einer Dame, die nicht bereit war, Besuch zu empfangen, die also nicht angekleidet und frisiert war. Parallel dazu kam zunehmend der Begriff „deshabillé“ für Männer und Frauen in Gebrauch, der die Kleidung bezeichnete, die man in diesem Zustand trug (insbesondere das sogenannte Hauskleid, „robe de chambre“).[2] Im 18. Jahrhundert wurde es von Frankreich ausgehend in ganz Europa für aristokratische Damen üblich, sich in ihrem Hauskleid im Boudoir aufzuhalten, ihr Frühstück einzunehmen und im Bett Besuch zu empfangen.[3] Über dem Hemd trugen die Damen daher einen weit fallenden Morgenmantel: zunächst der Manteau, später die Contouche. Da beide Kleidungsstücke später auch auf der Straße getragen wurden, entwickelte sich die weiter gefasste Bedeutung des Worts Negligé: Jede nicht-formelle, nicht-höfische Kleidung wurde als Negligé (oder Déshabillé) bezeichnet. Heute wäre das am ehesten mit der Kleidung am so genannten Casual Friday zu vergleichen.

Der Marquise de Pompadour wird nachgesagt, sie habe ein Hauskleid erfunden, das unter dem Namen der „Robe à la Pompadour“ bekannt wurde: Es handelte sich um einen Umhang in der Form einer türkischen Jacke, enganliegend am Kragen und geknöpft an den Handgelenken. Indem er sich der Erhebung der Brust anpasste und an den Hüften eng anlag, betonte er die Schönheit der Taille und schien sie zugleich verdecken zu wollen, wie Marianne-Agnès Pillement Fauques 1759 schrieb.[4] Indem dieses „Negligé“ die körperlichen Vorzüge der Mätresse betonte um ihrem königlichen Liebhaber zu gefallen, weist es bereits in die Richtung seiner heutigen Wortbedeutung.
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Anna Dorothea Therbusch: Junge Frau im Negligé .Öl auf Leinwand 1769. Berlin, Gemäldegalerie.

Echaufement: franz. Erhitzung

 

 

 

 

Jetzt ging aber, wie aus dem Traume – denn der Oncle hatte mich lange in einem Punkt angesehen – der Oncle an zu perorieren. Und nun musste es ja wohl so sein. Ich kannte ja meine Größe. „Aber ums Himmelswillen, wie ist es ihnen gegangen? Was haben sie für sonderbare Schicksale gehabt? Wie sind sie aus dem Grabe herausgekommen? Sie sind ja begraben worden? Wo sind sie hernach hingegangen? Wie haben sie ihre blühende Schönheit erhalten? Sie müssen höchst sonderbare Abenteuer gehabt haben.“

Offenherzigkeit von Jugend auf gewohnt, er zählte ich, doch so fein und geschickt als möglich, damit selbst die Kinder, die zugegen waren, nicht das mindeste bemerkten – von dem Johann, bis zur Bordelszene und Lord Clairville – alles, wie es die Leser wissen. | [137] Oncle und Tante konnten sich nicht satthören an allen abenteuerlichen Begebenheiten, und fanden es äußerst seltsam: dass ich davon gekommen war, ohne bei lebendigem Leibe zu verfaulen.

Er machte mich nun auch mit den Umständen des Schlosses Bellingen bekannt. Er sagte: „Es steht ihnen das ganze Wesen zu Dienste. Aber, sagen sie, Fräulein! was wollen sie damit anfangen? Es ist ganz entsetzlich verschuldet. Da sich ihr Vater, mein Bruder, Gott schenke ihm Ruhe im Grabe und eine fröhliche Auferstehung! in seinen schwachen Umständen, denn er hat das letzte halbe Jahr so sehr am Podagra gelitten, dass er überall hingetragen werden musste, selbst nicht zu helfen im Stande war; so vermachte er mir die Güter, mit dem Beding, ihn bis an seinen Tod zu verpflegen, und mit Weib und Kindern herzuziehen. Es ist so sehr verschuldet, dass ich mit meinem Vermögen nicht im Stande bin, den zehnten Teil der Gläubiger zu Einzehntel zu bezahlen.“ – Er bat mich, ihn in den Besitz desselben zu lassen. Er würde alles mögliche dazu beizutragen suchen, mich nicht allein standesgemäß zu ernähren, sondern auch, sobald sich eine günstige Gelegenheit fände, mich an einen guten Mann zu verheiraten. Was wollte –| [138] was durfte ich mehr verlangen? Oncle, Tante und Kinder gehörten überhaupt zu jener Klasse von Menschen, die gerne mehr tun, als sie können. Sie suchten mir auch in der Folge mein Leben möglichst angenehm zu machen.

Alles in der ganzen Gegend wollte nun das Wunder der Schöpfung und das Wunder der Geschichte – Emilie sehen. Da kam alles, was noch am Leben war und mich in meiner Jugend gekannt hatte, und staunte meine Schönheit an.

Nur Ehren Schwarz zuckte oft die Achseln über mich, wenn ich eins oder das andere aus meiner Lebensgeschichte erzählte. Er nannte mich dann einmal über das andere, indem er den Kopf schüttelte: „Weltkind Weltkind!“

Die Holländer haben ein Sprichwort, welches sich auch auf uns Deutsche anwenden lässt, weil es auch bei uns unter Jungen und Alten unter beiden Geschlechtern sich rechtfertiget. De Söhns mötet rasen – rasen se in der Jugend nich; so rasen se im Older. Gerade jene Zeit meines Lebens mochte es sein, wo ich so recht aus Herzensgrunde rasen musste. Jetzt fing ich an, eine Lebensart zu führen, wogegen selbst der strengste Kritiker, der ehrenfesteste und schärfste Gewissensrat nichts zu sagen hatte. Es ging| [139] auch jetzt auf Schloss Bellingen, bei meinem Oncle ein klein wenig anders her, als ehemals bei Lebzeiten meiner Eltern. Wir gaben und nahmen Besuche: aber dies waren alles ausgesuchte, wackere Menschen. Nicht solche Sausewinde und Brausewetter, als die Herrn von Ohnehosen und von Plundermilch. Die Herrn von Schafkopf waren tot, der alte sowohl als der junge. Die Witwen waren beide recht brave Seelen. Wir freueten uns recht herzlich, so oft sie uns besuchten.

Ich war kaum acht Tage in Schloss Bellingen, als sich Anbeter aller Art einfanden. Sie hatten meine Geschichte gehört und dachten: sie fänden auch jetzt noch bei mir Nahrung für ihre Schnäbel. Allein diese Vögel irrten sich sehr. Ich bemerkte es bald, dass sie für ein festes Eheband keinen Sinn hatten, und sich nur den Kitzel bei mir vertreiben wollten. Ich wusste ihnen, teils durch meine bessere Maxime, die ich jetzt angenommen hatte, und der ich nun einmal getreu bleiben wollte; – es heißt gewöhnlich: Jung eine Hure, alt eine Betschwester – das war aber, wie meine Leser in der Folge noch sehen werden, gar nicht bei mir der Fall – teils durch meine sehr anständige Kleidung und überhaupt durch mein großes Wesen, welches ich vor-|[140]züglich als Lady Clairville angenommen hatte, den jungen Herrn sowohl als denen Alten Ehr furcht, Achtung einzuflößen. So freundlich, sanft und liebreich ich war; so ernst konnte ich sein; so dass sich Oncle, Tante, alles recht innig darüber freueten. Mit einem Worte: ich lebte hier sehr zufrieden – und ich rechne noch das Jahr, welches ich in diesem Zustande verlebte, zwar nicht unter das glänzenste, aber doch vergnügteste meines ganzen Lebens.

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perorieren: laut und mit Nachdruck sprechen

mit dem Beding: unter dem Vorbehalt

William Hogarth Marriage A-la-Mode, The Toilette, ca. 1743, Öl auf Leinwand.

Maxime: Leitspruch, oberste Lebensregel

 

 

 

 

 

 

Giuseppe Piattoli: Der Tanz (Il Ballo). Kolorierter Kupferstich, 1790.

 

 

 

 

 

 

Étienne Jeaurat: Recovering. Öl auf Leinwand. 1744. Hermitage Museum-

 

 

Der Zeitpunkt nahete heran, wo ich auf die schrecklichste Probe von der Welt gestellt werden sollte. O dass ich nicht Herrschaft genug über mich selbst besaß. Mir selbst – mir selbst bin ich die größten Vorwürfe schuldig. Warum kann sich der Mensch in manchen Augenblicken seines Lebens so wenig selbst raten, helfen! Warum geht er mit allen Fleiß in Schlingen, die er vermeiden konnte? ins Unglück, das er vor Augen sieht? Ja! der Mensch, das bleibt ewig wahr, ist sich selbst ein Rätsel. Er weiß oft nicht, was er will. Immer mit seinem Zustande, wenn es auch der beste ist, unzufrieden, will er ein anderes Verhältnis. Er ist der Schöpfer seines Glücks und Unglücks, und weiß immer seine eigene Schuld| [141] von sich abzuwälzen. Er kennt die wahre Ursache, aber er will sie nicht wissen. So zeigen wir uns noch jetzt als Kinder unsres ersten Stammvaters.

Ein gewisser Edelmann, nicht ganz weit von Bellingen, ein Herr von Schmerbauch schrieb an mich. Hier ist der Brief:

„Sie sind das schönste Frauenzimmer von der Welt, und ich der angesehenste und berühmteste Kavalier in Europa. Ja, ich möchte sagen: es gibt keinen Fleck in der Welt vom Nordpol bis zum Südpol; von der Mittagslinie bis zum Polarstern, wo man nicht meinen Namen kennt und weiß. Ich habe meine Frau verloren, die artigste, die es gab. Ich bin Witwer. Freilich keine ganz interessante Partie für ein schönes und artiges Frauenzimmer. Allein was tut das? Ich habe noch Kräfte und andere Talente genug, die Ihnen alles ersetzen werden. Gestern ging ich in meinen Lustpark spazieren. Mein seliger Engel erschien mir in azurnen Gewölk mit Golde verbrämt. Sie sah, wie gebeugt ich ging, wie sehr ich litte! Mein Liebster! sie leiden, waren ihre Worte. Heiraten sie Emilie von Bornau. Sie wird ihnen alles sein. Sie ist schön. Sie kennt die Welt. Sie hat feine Lebensart, einen Teint, Busen, Haar, Zähne,| [142] Wuchs, mehr noch, als sie an mir vermissten. Gott segne ihren Bund. Vielleicht bekommen sie durch diese liebenswürdige Person noch einen Stammerben.“ – Sie können denken, wie sehr diese Rede in mir altem Manne Mark und Knochen von Neuem beleben machen musste. „Die Worte meiner seligen Frau sind mir Befehl. Ich trage ihnen hiedurch mein Herz und meine Hand an. Sie dürfen nur Ja sagen und in vierzehn Tagen sind Sie die Meinige. Ihren Entschluss erwarte ich mit dem Boten. Weil ich dies als eine besondere Schickung oder Fügung des Himmels ansehe; so nenne ich mich schon im Geiste mit innigem Entzücken ganz und ewig

den Ihrigen.“

Ich nahm das in Überlegung – was ich nie hätte tun sollen. Mein Oncle riet selbst dazu. „Ein Mann vom Stande. Ein Kavalier vom ersten Range. Emilie! Nichtchen! Was wollen sie mehr?“ hieß es. „Der Mann ist brav!“ sagte Tante. „Ich kenne ihn.“ „Er ist mein alter Freund, mein Kriegskamerad“ sagte Oncle. Was sollte ich tun? Ich entgegnete, wenn ich ihn erst gesehen und gesprochen, er mir dann nicht ganz missfiele und er besondere Ehepakten| [143] aufrichten wollte; so könnte es vielleicht geschehen. Denn das würde ich nie zugeben, auch könne das ein alter Mann unmöglich verlangen: ein junges Frauenzimmer in den Zwinger zu setzen. Dies waren ohngefähr freilich nur in feinern Ausdrücken, die Ideen, die ich ihm auf seinen Brief erwiderte.

Onclechen reisete mit mir hin – denn einer Bürde, die für ihn und seine Familie ein wenig drückend war, los zu sein, wandte er alle mögliche Künste an. – Er missfiel mir gleich im ersten Anblicke. Denn seine Physiognomie hatte so etwas eigenes, was sich nur empfinden, nicht beschreiben lässt. Das Alter hatte schon solche Furchen in sein grämliches Gesicht gezogen, dass ein Frauenzimmer wie ich, sich unmöglich gute Tage bei ihm selbst versprechen konnte.

„Was sagen sie, liebes Nichtchen! zu der Partie?“ frug mich der Oncle; des andern Morgens, als ich mit ihm allein war.

Ach! ich weiß nicht. Ein siebzigjähriger Alter sollte doch nicht mehr ans Heiraten denken; sollte doch nicht mehr den verliebten Jüngling spielen wollen. Es sieht so geckenhaft aus.

„Er ist allein! Er kann sich nicht anders helfen, Er hat das Podagra. Er wünscht in| [144] ihnen eine Verpflegerin, eine Teilnehmerin seiner Leiden.“

Das ist gut genug. Aber da verlangt er ein zu großes Opfer. Was ist einem jungen weiblichen Geschöpf mit einem armen Sünder gedient?

„Aber, Nichtchen! er ist schwach, alt – wie wäre es, wenn er in einem Jahre stürbe? Sie bekämen denn die Güter, die unter Brüdern hunderttausend Taler wert sind. – Und sie könnten dann den besten jungen Cavalier wählen.“

So wenig ich sonst Güter und dergleichen achtete; so schien doch diesmal dem Oncle sein Kunstgriff gelungen zu sein. Ich gab dem Oncle mein Wort und sehr geschwind war der Verlobungsakt geschlossen, indem der Herr von Schmerbauch in der Nähe war, Oncle ihn zu mir führte, meine Hand in seine legte und uns mit Freudentränen in den Augen Glück wünschte.

Welch eine Törin war ich! Ich hatte freilich keine Güter, kein Vermögen. Ich bekam einen Mann mit Gütern, mit Vermögen. Das war es aber auch alles. Ein Notar wurde geholt. Die Ehepakten wurden aufgesetzt. Die Hauptpunkte, die ich mir ausbedung, und die er mit Vergnügen bewilligte,| [145] waren: dass ich völlige Freiheit hätte, ganz nach meinem Gefallen zu leben – und dass ich jeden Monat zwei hundert Taler bloß zu meinem Vergnügen anwenden dürfte.

Und nun wollte es der Alte durchaus nicht zugeben, dass ich erst wieder nach Bellingen reisen sollte, um meine Sachen in Ordnung zu bringen. Nein! sagte er: der böse Feind pflegt immer Unkraut zwischen dem Weizen zu säen, und er ist nie geschäftiger als gerade dann, wenn Ehen sollen geschlossen werden. Sie lassen ihre Sachen abholen, die Tante und lieben Kinder kommen gleich mit, und innerhalb drei Tagen haben wir – Hochzeit.

Gesagt? getan. Ein Schneider wurde so gleich ins Haus geschafft, der mir in größter Geschwindigkeit den schönsten Brautschmuck in Ordnung bringen musste. Die nächsten Nachbaren, gute Freunde, die Herren von Oberndorf und Biedosen, wurden zur Hochzeit gebeten. Sie kamen zur gehörigen Zeit an. Der Kastellan des Herrn von Schmerbauch hatte alles Erforderliche in Ordnung gebracht und der Pastor Loci trat in das Zimmer, worin das Brautpaar, die nächsten Freunde und Angehörigen zur Trauung versammlet waren.| [146]

Was dem Alten nicht gefiel, war das nagelneue Formular, welches der sehr biedere und fürtrefliche Prediger zu diesem Akte besonders entworfen hatte. Wie natürlich konnte er das alte Formular einer Liturgie, die in den finstern Zeiten verfasset war, und eigentlich nur ein Notknecht für dumme Prediger sein sollte, bei einer so auf geklärten Versammlung nicht zu Tage bringen. – Insbesondere machte er es ihm zum Vorwurfe, dass er vorzüglich den patriarchalischen Segen:

„Der Gott Abrahams, der Gott Isaacs und der Gott Jacobs sei mit Euch, der füge Euch zusammen und gebe seinen Segen reichlich über Euch“

ganz weggelassen hatte. Die Folgen davon, nämlich kein Vertrag im Ehestande oder sonst Missverhältnisse, die sich ereignen könnten, wären also bloß diesen Neuerungen zuzuschreiben – und er der Prediger habe sie denn einzig verschuldet und auf seinem Gewissen.

Jeder vernünftige gerade und recht denkende Mann jedes Weib, welches nur einige Begriffe hatte, bemitleidete diese Äußerungen eines verbrannten Gehirns. Ich selbst musste in Gedanken über diese Einfälle lachen. Der vernünftige Prediger betrug sich sehr edel und anständig, indem| [147] er ihn mit den besten Gründen und mit der größten Bescheidenheit zurückzuweisen suchte.

Unterdessen diese beiden Herren, die sich übrigens sehr wohl verstanden, weil sie schon so lange mit einander umgegangen waren und sich also nicht so leicht etwas übel nahmen, mit einander ihren liturgischen Streit durchsetzten, und ihn doch am Ende ohne Blutvergießen oder eigentlichen Zank abmachten, begann die hochansehnliche Hochzeitsversammlung unter einander im Stillen und auch mitunter laut ihre Kritik über die beiden Neuvermählten, die dahin auslief, dass sie den Bräutigam einen alten Geck nannten, dass er ein so junges schönes Frauenzimmer zu seiner Bettgenossin erkieset, und die Braut bemitleideten, dass sie das Opfer eines grämlichen Alten werden wollte. Doch freueten sie sich des festlichen Mahles, wo sie den schon so lange bellenden Hund befriedigen würden.

Der Kastellan hatte indes die hochzeitliche Tafel geordnet und führte die Gäste samt und sonders als Marschall in den bereiteten Saal – das hochadeliche Brautpaar Arm in Arm voran, und so alles hinterdrein. Ehe man sich setzte, bewunderte man den Geschmack desselben in einer minutenlangen Stille und – faltete dabei die| [148] Hände. Schimmernder Wein in vergoldeten Caravinen blinkte durch den geruchvollen Dampf der teuren Gerichte, wie das Abendrot unter dem aufsteigenden Nebel hervor. Alles setzte sich, wo jeder seinen Zettel fand. Immer die beste Art, wo man am wenigsten gegen das Etikette verstößt welches so leicht beleidiget werden kann.

Der Schmaus ging an. Ein köstliches Gericht verdrängte das andere und Bachus und Ceres tanzten um den Tisch her. Der freimütige Scherz, die feine Spötterei, und das fröhliche Lächeln vertrieben unbemerkt die taumeln den Stunden des Nachmittags und der Geist Emiliens und des Champagners durchbrausete die fühlbaren Herzen der Gäste. Alles war munter und fröhlichen Muts. Nur auf dem Gesichte des alten Bräutigams und zuweilen auf der Stirne der Braut erblickte man kleine Wölkchen, die aber der Wein bei dem ersten und die feine Politesse bei der letztern verdrängten. Die Braut dachte an die Forderungen, wozu sie doch wohl als Braut und als Frau berechtigt wäre, und der künftige Gemahl an die Schulden, die er wohl schwerlich so bezahlen könnte wie er es wohl wünschte. Jetzt hätte er mögen den Zeiger seiner Lebensjahre auf zwanzig zurückstellen. Ihm ward angst, sein Herz sank ihm um einige Spannen tiefer, wenn er an die kommende Nacht gedachte.| [149]

Zur Erholung der gesättigten Gäste, deren immer sich anstrengender Witz schlaff zu werden anfing, rief der Kastellan den Verstand des sinnreichen Konditors, dem er selbst mit zur Hand gegangen war, zu Hilfe, der so oft seine Wirkung zeigt, wenn die Gäste anfangen, stumm zu werden. Und – auf einmal reizte eine übers zuckerte Welt die weiten Augen der Gäste. Faunen und Liebesgötter und nackende Mädchen, in einem poetischen Brennofen gebildet, scherzten ohne Aufhören im funkelnden Grase. In der Mitte entdeckte sich eine lachende Szene unter einer arkadischen Laube, von ewigem Wintergrün: Ganz in der natürlichsten Attitüde lagen Zephalus und Procris und feierten die Minnestunden der Grazien. Aber was die Gäste noch mehr belustigte, waren zwei große – große Schüsseln voll Abenteuer des alten Herrn von Schmerbauch in buntem Kraftmehle gebacken. Da sah man ihn in den mannigfaltigsten Gestalten von der Welt: Als Knabe auf einen Stock reitend ganze Armeen kommandierend – mit einem Fidibus eine große Kanone anzündend – als Jüngling u. s. w. Nachdem man dies genug bewundert und die mancherlei Verse die in demselben waren, gelesen, manchen närrischen Einfall belacht und beklatscht hatte, machte eine Truppe von sechs Pragern, so wie die Saltür aufging mit ei-|[150]nem Strich – dieser Unterhaltung ein Ende. Aller Ohren waren auf die herrliche Musik gerichtet. Es war schon gegen sieben Uhr Abends – als die Gäste mit einem Nu die Stühle rückten, und so wurde die Tafel aufgehoben und wer Lust hatte, brachte noch ferner jeder nach seiner Art dem Bacchus oder der Ceres, oder der Terpsichore Opfer.

Mein alter Greis hatte heute mehr als jemals gegessen, getrunken; so dass mir für die Nacht, die nun freilich in meinen Gedanken wohl vor 6 Uhr des Morgens nicht anbrechen konnte, weil die Gesellschaft zu froh und die Musik zu schön war – etwas bang wurde. Kaum war ich in meinem größten Vergnügen; es war 11 Uhr – so eröffnete er den Gästen, dass es eine Stunde über die Bürgerzeit sei. Die guten Leute wussten nun, was die Klocke geschlagen hatte, machten den letzten Tanz nahmen ihre Hüte und gingen. Der Alte fasste darauf meine Hand und so ging es in die Kammer. Das war ein Donnerschlag für mich! – Der Oncle ging mit mir – verließ mich unter freundlichen Liebkosungen und – wünschte mir und uns beiden, was er meinem Alten nicht zu geben vermogte. Alles wünschen hilft nichts, wenn nichts da ist – das bleibt eine ewige Wahrheit.| [151]

Es kostete mir entsetzliche Überwindung, mich zu dem Alten ins Bette hinzustrecken. Als er bemerkte, dass ich etwas zögerte – schien er eine ernsthafte Miene anzunehmen. Was sollte ich tun? Er legte sich erst – ich musste wohl folgen. Ich war ihm ja angetraut. Und dann kennt der Mann in der ganzen Welt sein Recht.

Das war mir eine Nacht! O, wenn ich noch daran denke – wird es mir so ganz sonderbar um die Augen; ein Schauder ergreift mich, der mir durch alle meine Nerven dringt. Die erste Attacke wollte ihm nicht gelingen. Ich ward halb unwillig. Die zwote – und ich lag in einem Meere von – Wonne? glauben vielleicht meine Leser? Wo wollte ein so alter Ehekrüppel noch Wonne hernehmen? Nein! er hatte mich, über und über be –

Ich schonte ihn demohnerachtet, zog frische Wäsche an und erwartete zürnend über meinen Unstern, indem ich ins Fenster mich legte, den Morgen. Allein die Bedienten, die des andern Tages die Betten durchsuchten, und den Wäscherinnen die Tücher übergaben, hatten entsetzlichen Spott über mich sowohl als über den alten Griesgram.

unseres ersten Stammvaters: Adam

Schmerbauch: dicker, stark vorgewölbter Bauch. Herkunft: Das Wort ist seit dem 16. Jahrhundert belegt.

 

Georg Emanuel Opiz: Der Völler. Gouache auf Papier, um 1800.

Mittagslinie: Eine Mittagslinie (lat. meridianus) ist der von einem senkrechten Stab oder Gnomon beim höchsten Tagessonnenstand auf ebener Erde geworfene Schatten, der in Nord-Süd-Richtung verläuft. Exakter ist es, die Verbindung der Endpunkte dieses Schattens (d. h. der Mittagspunkte) darzustellen, die im Lauf eines Jahres mit dem Sonnenhöchststand wandern.
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Mein seliger Engel: Ein Selbstzitat Schnorrs. Herr von Schmerbauch ist nach der Satire auf den  Freiherrn von Münchhausen in Schnorrs Dritten Bändchen seiner Münchhausiade (1794) gestaltet, wo die nun folgende Ehegeschichte im Abschnitt Heiratsgeschichten vorgebildet ist.

Ehepakten: Ein Ehepakt ist ein entgeltlicher oder unentgeltlicher Vertrag, welcher in der Absicht auf die eheliche Verbindung über das Vermögen geschlossen wird. 
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William Hogarth Marriage A-la-Mode, The Tête à Tête, ca. 1743, Öl auf Leinwand.

das nagelneue Formular: Rechtsformel, hier für die evangelische Trauung, die nur die geistliche Feier einer vorherigen Eheschließung ist. Wie Schnorr in seinem Pfarramte Trauungen vollzog, wird in einem zeitenössischen Korrepodenten-Bericht erkennbar.

Aus dem Korweyischen. Je seltner jetzt gute Dienstboten sind, desto mehr ist es Pflicht, die bessern zu ehren. Ein Beyspiel dieser Art sahe man am 7. Jun. Zu Amelunxen einem beträchtlichen Pfarrdorfe in der ehemaligen Abtey Corwey. Eine Dienstmagd des Herrn Geheimraths von Porbeck zu Höxter, Anna Maria Elisabeth Lingemann, die sich in ihren Diensten durch gute Eigenschaften empfohlen hatte, hielt an diesem Tage zu Amelunxen Hochzeit. Braut und Bräutigam hatten die Herrschaft, der Gewohnheit gemäß, zu dieser Feyerlichkeit eingeladen, und, was man nicht erwarten konnte, geschah als Auszeichnung und Belohnung des treuen Eifers der vormaligen Dienstmagd. Die ganze Familie erschien, war zugegen bey dem Trauungsakt in der Kirche, folgte dann den Brautleuten ins Hochzeitshaus, wo die liebenswürdigen Kinder mit Braut und Bräutigam tanzten, während ihre Eltern sich freundlich mit allen Anwesenden unterhielten, und kehrten erst nach einigen eingenommenen Erfrischungen wieder zurück. Ausserdem trug aber auch die rührende und herzerhebende Art, mit der der ehrwürdige Prediger zu Amelunxen, Herr Schnorr, die Trauung vollzog, sehr viel zur Auszeichnung dieser Feyerlichkeit bey. Er schilderte zuerst mit aller Kraft der Beredsamkeit und eindringender Wärme des Herzens, die Reise durchs menschliche Leben zu einer höheren Bestimmung; zeigte, wie wir anfangs von Eltern und Lehrern; nachher in den Jahren der Selbständigkeit von Freunden und zuletzt von Weib und Kind begleitet würden; und nahm davon Gelegenheit, die Wichtigkeit des Ehestandes, und den seligen Einfluß einer überlegten und glücklichen Wahl des Gatten auf die Zufriedenheit unseres Lebens zu würdigen. Hierauf führte er das neue Ehepaar auf dessen allgemeine und besondere Pflichten. Liebe zur Religion und Gottesfurcht und Vertrauen auf Gott in jeder Lage des Lebens machte er demselben zur Hauptpflicht, woraus er alle übrigen Pflichten ihres Standes und Berufes herleitete. Insbesondere ermahnte er dann die Brautleute zur gegenseitigen Nachsicht, als der Quelle der Eintracht und des ehelichen Friedens, und zur kindlichen Liebe ihres alten, siebzigjährigen Pflegevaters, der ihnen die Güter übertragen hatte. Sie sollten, rief er ihnen in rührenden Ton herzlicher Liebe zu, sie sollten ihm nicht bloß in den ersten Tagen freundlich begegnen, sondern ihm bis zum letzten Augenblick seines Lebens die schuldige Liebe, Achtung und Dankbarkeit beweisen. Nach dieser Rede traten die Brautleute zum Altar, wo der würdigen Prediger den Trauungsakt auf die feyerlichste Weise verrichtete. – Die Kirche war voll von Menschen, die zu verschiedenen Religionspartheyen gehören; gleichwohl herrschte einen solche Stille und Ordnung, die den deutlichsten Beweis von der innigen Rührung gab, die alle ergriffen hatte.

Anmerkung: Schon seit 16 Jahren bekleidet dieser Mann, der sich eben so sehr durch seinen tadellosen Wandel als durch seine Gelehrsamkeit und Redetalente empfiehlt, eine kleine Pfarrstelle von etwa 350 Thl. Einkünfte! – Möchte er bald in einen größern Wirkungskreis versetzt werden, wo er mehreren nützen und ein sorgenfreyeres Leben führen könnte!
National-Zeitung der Deutschen. Gotha, 30tes Stück, den 23sten July 1807, Sp. 629-631.

Herausgeber dieser Zeitung war der Volksaufklärer Rudolph Zacharias Becker. Dementsprechend war ein Schwerpunkt dieser Publikationen die praktische Volksaufklärung und Nachrichten darüber, wo zum Beispiel ländliche Lesegesellschaften und ökonomische Gemeinschaften irgendwo gegründet wurden und Ähnliches. Sie können somit als Beispiel eines „positiven Journalismus“ gelten, der sich nicht auf die Verbreitung von Unglücksmeldungen und Schreckensnachrichten konzentriert, sondern darauf, schöne Beispiele praktischen Fortschritts und praktizierter Vernunft mitzuteilen. […]

Die Geschichte der Deutschen Zeitung bzw. der National-Zeitung begann mit der Dessauische Zeitung für die Jugend und ihre Freunde, die Becker noch zu der Zeit herausgab, als er Lehrer am Dessauer Philanthropinum war. […]

Vor allem in den ersten Jahren übernahm Becker bei politischen Nachrichten und Meldungen aus dem Ausland Inhalte anderer Periodika, hauptsächlich sollten die Beiträge jedoch aus der unmittelbaren Erfahrung der Korrespondenten der Zeitschrift stammen. Es sollten also der Stand der Aufklärung anhand von Fakten und Beispielen authentisch dokumentiert werden, wobei im Sinn eines aufklärerischen Optimismus die positiven Beispiel bevorzugt mitgeteilt wurden, und er ersucht seine „sämmtlichen Herrn Correspondenten nochmals inständigst, [ihm] nichts als die Wahrheit, und lieber lobenswerthe als tadelnswürdige Facta zu berichten.“[ Deutsche Zeitung 17. September 1785, S. 306] Den Grundstock für seinen Korrespondentenkreis bildeten dabei die Kontakte, die Becker noch am Dessauer Philanthropin geknüpft hatte und in der Folge war er beständig bemüht, diesen Kreis durch briefliche Ansprache geeigneter Personen oder in der Zeitung abgedruckte Aufrufe zu erweitern. Zu dieser Arbeitsweise gehört eine heute etwas ungewöhnlich wirkende, sehr herzliche und persönliche Ausdrucksweise im Verkehr mit den unentgeltlich arbeitenden Korrespondenten, die nicht als Mitarbeiter oder Zuträger gesehen wurden, sondern als Brüder und Schwestern, geeint in der gemeinsamen Bemühung um Besserung und Aufklärung des Menschengeschlechtes. Problematisch war dabei, dass auch zahlreiche Zuschriften an die Zeitung anonym erfolgten und der Wahrheitsgehalt oft nicht nachgeprüft werden konnte.
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Der böse Feind: Jesus erzählt das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen im Matthäus-Evangelium:

Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. Als nun die Halme wuchsen und Frucht brachten, da fand sich auch das Unkraut. Er sprach zu ihnen: Das hat ein Feind getan. Da sprachen die Knechte: Willst du also, dass wir hingehen und es ausjäten? Er sprach: Nein, auf dass ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet. Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte; und um die Erntezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne; aber den Weizen sammelt in meine Scheune.
Matthäus 13,24-30

Caravinen: kleine Karaffen

Bachus: Gott des Weines, des Rausches

Ceres: römische Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit

Politesse: franz. Höflichkeit, Artigkeit

Faunen: dem Satyr ähnliches Fabelwesen aus der griechischen Mythologie

 

Barberinischer Faun, Kupferstich 1745; Kupferstich-Kabinett, Berlin

arkadischen Laube: Gartenlaube, Laubengang

Zephalus und Procris: Kephalos („der mit dem schönen Haupt“), Herrscher von Thorikos, war ein Sohn des Hermes und der Herse und Gemahl der Prokris. Als Geliebter der Eos soll er Vater des Phaëthon gewesen sein. Als Kephalos seine Gemahlin Prokris bei der Untreue mit Pteleon ertappte, blieb er ihrem Lager hernach acht Jahre lang fern. Es hieß aber auch, er selbst habe sich in Gestalt des Fremden genähert, um ihre Treue auf die Probe zu stellen; die Gabe, sich beliebig verwandeln zu können, sei ihm von Eos verliehen worden, die in ihn verliebt war.

Prokris jedenfalls floh beleidigt nach Kreta. Von dort kehrte sie mit einem unfehlbaren Jagdspeer und einem Hund zurück, dem kein Wild entgehen konnte. Sei es, dass sie diese Gaben von König Minos – für die Heilung von dessen Fluch – erhalten hatte, oder von der Jagdgöttin Artemis: Sie versöhnte sich mit ihrem gleichermaßen jagdbegeisterten Gemahl und machte ihm die beiden Wunderdinge zum Geschenk. Allerdings soll sie Kephalos zuvor selbst beschämt haben, indem sie ihn ihrerseits in Gestalt einer schönen Fremden verführte. Später lieh Kephalos den unermüdlichen Hund dem Amphitryon, um den Teumessischen Fuchs zu stellen.
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Johann Liss: Cephalus und Procris; Radierung, 18. Jahrhundert

Grazien: Töchter des Zeus und der Eurynome und heißen Euphrosyne (die „Frohsinnige“), Thalia (die „Blühende“) und Aglaia (die „Strahlende“). Sie brachten den Menschen und den Göttern Anmut, Schönheit und Festesfreude. Die drei Chariten bzw. Grazien waren ein beliebter Gegenstand der bildenden Kunst und wurden meist unbekleidet, sich gegenseitig berührend oder umarmend dargestellt.
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Sandro Botticelli: Frühling Detail: Drei Grazien. Tempera auf Holz, ca. 1485-1487. Florenz, Uffizien.

Truppe von sechs Pragern: Musikanten aus Böhmen

Terpsichore: Muse des Tanzes

 

 

 

 

 

Johann Heinrich Tischbein der Ältere: Die Muse Terpsichore (Die neun Musen) Öl auf Leinwand (1782). Museum Kassel, Neue Galerie

Bürgerzeit: Um zehn Uhr wurden die Stadttore geschlossen. Die Bürger mussten sich nach Hause begeben.

 

 

 

so ging es in die Kammer: Die folgende Schilderung folgt dem Abschnitt Meine Heiratsgeschichten, Ehestandsleben u. d. gl., vom Anfange bis zu Ende. aus Schnorrs dritter Münchhausiade (Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Bodenwerder 1800, S. 56ff.)  Was er dort über die zweite Ehe von Hieronymus von Münchhausen mit Bernardine von Brun erzählt, überträgt er nun auf Emiliens zweite Ehe. Herr von Schmerbauch ist also ein Wiedergänger von Schnorrs erster Münchhausen-Satire.

Über die Hochzeitsnacht erzählt der Freiherr von Münchhausen dort:

Die Hochzeit ward dann, weil ich nicht gut Mehr reisen konnte, sehr solenn in meinem Hause vollzogen, alle gute Freunde dazu eingeladen und gezecht und geschmauset bis Mitternacht, wo ein Jeder seines Weges reisete.

Man sagt es wohl, aber es ist auch wahr: es ist wohl nichts Lächerlicheres und Unausstehlicheres, als ein alter Kerl, der verliebt ist. Warum sollte ich es nicht sagen, da es die Wahrheit ist? Kein Hahn kann wohl so verliebt um seine liebste Henne herum gehen, als ich um dies schöne junge Mädchen. Die Blüte der Gesundheit lachte aus ihren Rosenwangen, strahlte aus ihrem holden blauen Augenpaar.

Schon in der ersten Nacht äußerte sich nicht sowohl meine Besorgnis, ihr ein Genüge leisten, zu können.

Ich konnte nicht umhin, ihr bei ihren zu heftigen Zudringlichkeiten es geradezu zu gestehen, dass ich ein alter Mann sei, dem sie nicht allein diese, sondern auch manche andere Schwächen zu gute halten müsse. Amor sei nicht mehr so geschäftig, indem er nur die Kohlen im Kamine der ehelichen Liebe zusammen zu schüren und im Glimmen zu erhalten suche: die eigentliche Flamme sei längst erloschen.

„Sie werden, hub ich an, gewiss zufrieden sein, wenn ich ihnen alle Quatember meine Pflicht leiste.“

 Quatember! das Wort verstehe ich nicht. Wie viele Quatember giebt's denn in einer Nacht?

Bei dieser Frage musste ich laut auflachen. –

„Ein sehr naiver Scherz!“ sagte ich, schlug die lose Schäkerin auf die Wangen. „Sie werden es schon sehen.“

Sie seufzte – wandte sich herum und schlief ein. (S. 75f.)

 

 

 

Doch muss ich es gestehen, war er in den ersten Wochen noch einigermaßen erträglich. Er| [152] brummte wohl, wenn ihm eins oder das andere nicht so recht war; er winselte wie ein Wurm, wenn ihm sein eines Bein, woran er das Podagra hatte, heftig zusetzte – doch wurde er wieder gut, wenn ich zuweilen die erste Nacht vergas und ihn um den grauen Bart strich.

Als er sahe, dass er völlig untauglich wäre, noch einen Erben, wie er fälschlich gemutmaßet hatte, zu erzielen, ließ er mir, wie das gar nicht unbillig war, ziemlich meinen Willen. Denn er siebenzig und ich – dreißig. – Man kann da leicht denken!

Wer nicht mit diesem Vorgange zufrieden war? Seine Anverwandten. Sie konnten ihm beinahe diesen Streich nicht vergeben. Schon waren sie bis eine Meile an den Ort hingefahren, wo wir jetzt lebten, als sie wieder umkehrten und ihrer Wege gingen. So etwas hatten sie nicht vermutet. Die Überraschung war zu groß, Verlobung, Hochzeit, Beilager, alles war voll zogen, noch ehe die Fama über die Gebirge drin gen konnte. Noch traueten sie ihren Ohren kaum: denn es entgingen ihnen dadurch große Güter – besonders, wenn ich einen männlichen Erben bekam.

Ohne mich viel um meinen stinkenden Alten zu bekümmern lebte ich völlig nach meinem frei-|[153]en Willen, wie das auch in dem Ehekontrakte bestimmt war, den ich nach Belieben so weit ausdehnen oder so eng zusammenziehen konnte, wie ich wollte. Ich schlief seit jener fatalen Nacht fast immer auf meinem Zimmer, wo ich Anbeter genug um mich hatte, so viele schöne junge Herren, die mir überall ihre Person und ihren Arm, ihren Schutz antrugen für die kleine Erkenntlichkeit, die ich ihnen mit dem freiwilligsten Herzen von der Welt erwies. Auch machte ich zum öftern mit der Equipage meines Herrn Gemahls und in Begleitung dieser jungen Herren allerlei Reisen, die mich denn einigermaßen wegen meines Schicksals entschädigten.

Einst das vergess ich nie – war zugleich, ohne dass wir von einander wussten, ganz von ohngefähr, mein Oncle von Bellingen mit auf einem öffentlichen Festin und Ball zu Frankfurt. Es war gerade an dem Tage entsetzlich schwül, Mein Cousin; so nannte sich der Lieutenant von ***, und der junge Herr von ***, begleiteten mich zu Wagen dahin. Versteht sich, dass ich diese Schmetterlinge vom Militär, die fast nichts weiter haben als den Staub auf ihren Flügeln – frei hielt. Und das ging ja auch, wohl an.| [154]

Es war, wie schon gesagt, ein äußerst schwüler Tag. Wir speiseten sämtlich auf dem großen Saale im Römer. Jetzt beliebte es mir im Busen zu eng zu werden. Ich so wenig als mehrere andere Damen konnten die ganz unbeschreibliche Hitze des Tages nicht ertragen. Einige junge Herren – denn wer hätte nicht gern einen liebevollen Blick von mir gehabt, und was hätte nicht mancher um dieses Blickes willen getan: alles buhlte ja um meine Gunst! – machten Zugluft, und diese konnten mehrere Damen, die zugegen waren, wo schon das Liebesfeuer nicht mehr den Busen durchglühte, oder am letzten Endchen brannte, nicht ertragen. Auch ich bezeigte meinen Widerwillen dagegen, bloß aus Gunst für jene Frauenzimmer. Sogleich waren zwanzig und mehrere Hände beschäftigt, die Fenster zuzumachen. Aber mein Oncle, der sonst nie so launig oder wie soll ich sagen, so schelmisch war denn es war doch eigentlich ein Schelmstück, ich vergesse es ihm nie – hub an:

„Sie, liebes Nichtchen! können keinen Wind vertragen und haben doch den ärgsten Windb–t–l von der Welt?“ Nur wenige lächelten zu dieser Sottise. Der größte Teil sah einander an und – schwieg – aus Schonung für mich. [155]

Jetzt war es mir aus mancherlei Gründen sehr darum zu tun, einen Erben zu bekommen. Überall musste jeder hübsche Junge das Seine tun, um zu sehen: ob es nicht vielleicht möglich wäre, meine zerrütteten Nerven so zu erschüttern, dass wirklich noch etwas dabei herauskäme. Man denke: ich hatte so sehr mitgemacht; so manches Tête à Tête bestanden vom Johann bis zum Clairville, und von diesem bis zu meiner jetzigen Heirat und noch nach derselben. Da nichts hatte anschlagen wollen; so war mir in der Tat bange, ob ich dies bewirken würde.

Bei meinem alten Griesgram, den stinkenden und podagrischen Kavalier ward es mir je länger, je unerträglicher. Seine Caressen taugten doch zu nichts und waren entsetzlich hölzern und altmodisch. Er hatte es mit allen seinen Anstrengungen, mit täglichem Genusse von Chocolate und Selleriesalat, doch zu nichts weiter gebracht, als dass er sein Nervensystem so sehr geschwächt hatte, dass er – nichts mehr zu halten vermochte. Überall gings: rrrrrrrrr! Selbst in Gesellschaften konnte er sich dessen nicht enthalten. „Nehmen’s nicht übel, meine Herren! ich bin ein alter Mann!“ waren seine Worte, womit er wegging und ein anderes Beinkleid anzog, welches vielleicht noch nicht einmal völlig wieder trocken war.| [156]

Meine Reisen nach Spaa, nach Frankfurt, nach Mainz, nach Carlsbad, und andere Orte hatten doch wirklich bei dem Gebrauch der Bäder, welche mir verordnet waren, und den Gesundbrunnen, welchen ich trank, so viel bewirkt, dass ich – schwanger wurde. Wie groß war die Freude aller. Selbst mein alter stinkender Gemahl saß oft Viertelstunden lang bei mir, strich meinen Bauch und – bewunderte, was nicht sein war. Ich genoss überhaupt durch mein leutseliges Wesen, durch die Achtung, die ich jedem bewies, wie schon bekannt, die Freundschaft und Teilnahme aller Menschen. Ich war überall sehr – sehr gelitten.

Aber ich wusste wie immer die Mittelstraße nicht zu halten. Alle diese Rollen hätte ich können sehr verdeckt spielen: aber ich war zu frei, zu offen. Ich schweifte selbst während meiner Schwangerschaft so sehr aus, dass es, wenn ich jetzt darüber nachdenke, unverzeihlich war. Anstatt in zwei Monaten vierhundert Taler auszugeben, wie es der Ehekontrakt anwies, hatte ich achthundert gebraucht. Darüber wurde der Alte sehr – zornig; – er hatte es auch Ursach, weil ich mich zu wenig um ihn bekümmerte.

Was war natürlicher, da ihm so viel zu Ohren gebracht wurde, als dass das kein gutes Ende| [157] nehmen konnte. Er machte mir die gegründesten Vorstellungen. Ich drehte mich auf einem Hacken dreimal herum und lief zur Tür hinaus. Jetzt wollte ich wieder eine Reise nach Spaa machen und – der Alte beschloss in seinem Sinne, wozu ihm von so vielen Menschen geraten wurde, mir einen Ehescheidungsprozess an den Hals zu hängen.

Tausendmal sagte er gerade in dieser Zeit, wo die Hauptfehde anging: „des hat der Pastor Schuld, der hat uns nicht recht kopuliert.“

Ich reisete fort. Aber sagte er: „Sie kommen nicht wieder.“ Er hatte gleich nach meiner Abreise alle Sachen einpacken und nach Bellingen transportieren lassen, auch dem Kutscher Befehl gegeben, mich nicht wieder hieher, sondern nach Bellingen zu bringen.

Weil ich es bei dem alten grämlichen Stinker so sehr müde war; so kam mir es um desto an genehmer. Ich reisete mit getrostem Mute zu meinem Oncle, der mich aber auch nicht gar zu sanft aufnahm. Er hatte lange von meiner Lebensart gehört, und mich nicht allein schriftlich, sondern auch mündlich oft genug gewarnt. Aber – es hatte nichts geholfen. Warum verheiratete man mich; oder warum heiratete ich einen | [158] solchen alten Mann, der wohl gut genug war, aber – kein Vermögen hatte, einer raschen jungen Frau, ein Genüge zu leisten.

Die Stunde kam heran, wo es mir ging, wie allen Weibern in der Welt. Man hatte schon dafür gesorgt, dass ich keinen Bastart unterschieben konnte, der einst als Prätendent der Schmerbauchschen Güter erschiene. Unter dem Beisein eines Notarien und zween Zeugen gebar ich – das Schlimmste, was mir begegnen konnte – eine Tochter, die nicht lange darnach – das beste, was ich wünschen konnte, starb.

Der Ehescheidungsprozess wurde sobald als möglich dahin abgeurtelt: dass mir der Alte lebenslang jährlich eine ansehnliche Pension aus setzen musste. –

Jetzt lebe ich wieder wie vorher, entfernt von meinem Oncle, weil mir aller Zwang lästig ist, in Mainz. Ich bin frei, los, ledig. Genieße, so gut es gehen will, mein Leben; über denke meine Schicksale, die ich von Anbeginn meines Daseins hatte – vom Eie an, bis auf diese letztere Szene, die mir auch begegnen musste, und die für ein jedes Frauenzimmer, das auf Schönheit Ansprüche machen darf, so sehr ris-|[159]kant ist, und suche daraus Betrachtungen meiner Torheiten zu entwerfen.

Mein aufrichtigstes Geständnis ist das: ich schäme mich vor mir selbst, wenn ich in den Spiegel meiner Vergehungen blicke. Ach! wie bleibt es doch so war, was Haller sagt:

Tugend ist kein leerer Name!

Tugend dies hohe Gefühl unserer Sittlichkeit, dieser Adel unserer Seele, erhebt uns über alles – Laster erniedrigt den Menschen, würdigt ihn unter das Vieh hinab. Wie teuer musste ich nicht so manche Vergehungen bezahlen! Wie glücklich könnte ich vielleicht jetzt in den Armen eines Biedermanns sein, wenn ich gelernt hätte, meine Leidenschaften zu mäßigen; wenn ich nicht selbst unter den Zerstreuungen und Torheiten der Welt alle Religion und also auch mein Herz vernachlässigt hätte. Zu tief unter mir selbst gebeugt bin ich nicht im Stande, das hohe Gefühl der Unschuld wieder in meine Seele zurückzuführen.

Wenn ich in einsamer Stille meine Lebensgeschichte überdenke; so schlage ich die Augen nieder, und wenn ich in der Gesellschaft der Menschen bin; so suche ich Fröhlichkeit zu erzwingen, die ich selbst nicht habe. Mein Leichtsinn war| [160] unverzeihlich – aber, so wie der Mensch gern seine Fehler zu überschleiern sucht: er hatte sich einmal meiner Seele bemächtigt – ein böser Dämon waltete über meine Schicksale; ich ward verdorben, frühe hingerissen in den Strom der Sinnlichkeit – und jetzt, was ist, was bleibt für mich noch übrig. Ich sage mit dem Weisen von Sion, der auch genossen, im Übermaße genossen hatte. – Und wenn wir auch hier noch so viele Vergnügungen in der Welt genossen, wenn wir alles mitgemacht, den süßen Kelch der Wollust bis auf seine letzten bittern Hefen aus geschlürft haben: Es ist alles eitel! Es ist alles ganz eitel!|

Podagra: Gicht

lebte ich völlig nach meinem freien Willen: Auch ie folgende Schilderung folgt dem Abschnitt Meine Heiratsgeschichten, Ehestandsleben u. d. gl., vom Anfange bis zu Ende. aus Schnorrs dritter Münchhausiade (Bodenwerder 1800), S. 56ff.

im Römer: Rathaus der Stadt Frankfurt.

Sottise: Dummheit, Grobheit

Tête à Tête: Stelldichein, Rendezvous,

Caressen: Zärtlichkeiten

Spaa: Heilbad in der Provinz Lüttich

 

 

Carlsbad: Kurort in Böhmen

 

Carlsbad, kolorierter Stich um 1800

 

 

 

 

Ehescheidungsprozess: Die folgende Darstellung zeigt, welche intime Kenntnisse Schnorr von der zweiten Ehe Münchhausens besaß; die im Kommentar zu seiner Münchhausiade von 1800 dokumentierten Ereignisse werden hier gekürzt noch einmal zitiert:

M. hatte in seiner Zurückgezogenheit nichts davon gehört, daß Bährne mit dem jungen Amtsschreiber Ch. Zu Polle sich in einem so straßenkundigen Liebesverhältniß herumzog, daß sie mehrfach die beschönigende Äußerung nöthig gefunden hatte: sie sei mit ihm heimlich verlobt.

Nun ging es Schlag auf Schlag. Gleich in den ersten Monaten schaffte sie sich zwanzig Kleider an, darunter ein gesticktes für 30 Reichsthaler. Ein heimlich ins Haus genommener Schneider mußte diese Stoffe kunstgerecht verarbeiten. Die von Hannover darüber eingehenden Rechnungen öffneten M. schrecklich die Augen. Sie ließ Champagner kommen, um damit u. a. einen Mann zu beschenken, in dessen Hause sie nach wie vor der Ehe, die Zusammenkünfte hielt mit dem Charmant. Sie sprach den Geldvorräthen derartig zu, daß M. ihr schon nach wenigen Wochen die Cassenschlüssel abnehmen mußte. Sie half sich mittelst heimlicher Verkäufe aus dem Haushalt. Fast offen sprach sie gegen verschiedene Personen aus: ihr Streben müsse auf die Schaffung eines Erben gehen, das werde ihr aus Bodenwerder die Mittel liefern zu demnächstiger Heirath mit ihrem verlobten Amtsschreiber. Mehrere Anzeichen machten das Gerücht auftauchen: daß sie sich mit jener Schaffung bereits stark verfrühet habe, im Vergleich mit dem Hochzeitstage, was fatal werden konnte. Doch Bährne war nicht verlegen. Sie machte Freundschaft mit dem Apotheker, der sich durch zugetragene Mittel, Rath schläge und hülfreiche Hand gefällig zeigte und wonach dann auch jenes Gerücht wieder verflog. Übrigens fehlte sie bei keiner erreichbaren Lustbarkeit, was sie in ihrer ersten Proceßschrift, als etwas durchaus harmloses, auch vollständig zugiebt. – Daß aus dem Haushalte auch tüchtig nach ihren Eltern verschleppt wurde, versteht sich von selbst.

Von einem Besuche in Cassel zurückkehrend, hatte sie M.ʼs Wagen bis Forst bestellt, wo mit ihr zugleich, von Polle her, auch ihr Vater und der Amtsschreiber eintraf. Sie ging sofort mit diesem in ein oberes Zimmer des Wirthshauses, und ihr Vater so lange vor dem Hause auf und ab. — Details über dieses rendezvous sind zu übergehen.

Nicht lange nachher ward dieser handgreifliche Vorfall, sowie: daß sie für schwanger gehalten werde, zwar anonym, aber von kennbarer Freundeshand, Münchhausens Neffen und Lehnfolger, dem hessischen Hauptmann angezeigt, der Bährne sofort darüber zur Rede stellt und unterm 21. April 1794 ein motivirtes schriftliches Zeugniß bekommt, des Inhalts: Ein Kind von ihrem Manne sei unmöglich. Würde sie schwanger, so könne es nur die Frucht schlechter Aufführung sein, der sie fälschlich beschuldiget werde. Sollte es dennoch geschehen, so autorisire sie den Vetter zu jedem beliebigen Gebrauch von diesem Atteste. Das Zeugniß schließt mit den Worten: „So geschehen, meine Unschuld zu beweisen. Bodenwerder am 21. April 1794.“

Im July 1794 stellt sie sich leidend, um nach Pyrmont zu kommen, schreibt von dort über ihre stille Zurückgezogenheit, ihre Beinschwäche u. dergl., legt einen Brief bei, der vom Brunnenarzt Geh. Rath Trempel sein soll und volle Genesung verspricht, wenn sie noch 10 Tage dort bleibe und schließt mit den Worten: „ich bin, wie immer, Ihre treue (!! ) Frau.“ Zugleich kommen aber mündlich und schriftlich Nachrichten über ihr dortiges Treiben. Mit ihr fast a tempo traf der Hauptmann B. ein, (von der Hamelnschen Garnison,) fragt gleich den Kutscher nach ihrem Zimmer, nimmt in demselben Hause Quartier und ist fast den ganzen Tag mit ihr, selbst frei am offenen Fenster vor aller Augen. Sie versäumt keine Tanznacht. Ihre Kammerjungfer bezeugt, daß sie täglich mehrfach neu das Bett machen müsse. – Schon früher kommt eine Wallfahrt vor, die sie, in Begleitung des Hauptmanns zum Liboriusfest nach Paderborn gemacht, sowie, daß der Hauptmann die ersten süßen Früchte aus dem Gutsgarten als souvenir heimlich von ihr erhielt.

Überhaupt trat immer mehr ans Licht, wie liebreich (nur nicht eben gegen dieselbe Person, wie bei dem ersten vierzehntägigen Bodenwerderschen Besuch) – sie in großer Allgemeinheit war, wie freigebig sie ihre vertraulichen Brief- und Geschenkbeförderer und andere Freundesdienste belohnte.

Das Maaß war voll. In Hieronimus Auftrage schrieb ihr der Hauptmann nach Pyrmont: Sie solle sich in Bodenwerder nicht wieder sehen lassen, ihre Kleider sollten ihr nach Polle geschickt und die Scheidungsklage solle sofort eingereicht werden.
A. F. von Münchhausen 1876, S. 69ff.

Bastart: nicht eheliches Kind aus der Verbindung einer Adligen mit einem nicht standesgemäßen Partner. In den Dokumenten über die Münchhausen-Prozesse heißt es dazu:

Das erste Dokument das sich über die Sache ausspricht stammt erst vom 8. Januar 1795. An diesem Tag wies das Konsistorium in Hannover in einem Brief an den Rittmeister von Münchhausen zu Bodenwerder Urteil über Alimentenzahlungen und Nebenkosten an Bernhardine. Der gewährte Betrag wurde jetzt auf 12 Taler pro Monat festgelegt. Außerdem wurde Hieronymus befohlen Alimentenrückstände über das vergangene Halbjahr, i.e. 75 Taler, sofort zu bezahlen. Die Kosten und sonstige Kosten wurden festgestellt auf 46 Taler. Münchhausen bezahlte jedoch nichts. Er war auch kaum imstande mit Bargeld zu zahlen. Sein Einkommen bestand zum größten Teil aus Agrarprodukten seiner Pächter.
Der Gerichtshof entschied:

1. Daß die Rittmeisterin von Münchhausen in einem anständigen Hause bei einer unbescholtener Frau ihre Wochen halte, und in diesem Hause alles zu ihrer Bequemlichkeit und Obsorge für ihre und des Kindes Gesund heit angeordnet werde,

2. Daß derselben, zwei Frauen von unbescholtenen Sitten, allenfalls die vorgeschlagene Ehefrau des Licent Schreibers Zumpe, und die Ehefrau des Gastwirts Bürstedt, zugegeben werden, welche darauf zu vereiden sind, daß sie nicht von ihr weichen wollen, und daß sie die Interessenten oder ihre zu diesem Behuf zu bestellenden Vollmächtigte, bei sich herbei rufen lassen sollen, [...].

Hannover, 17. Januar 1795
Nachlass Borries von Münchhausen. SUB Göttingen, zit. nach Deurvorst 2015

Prätendent: jemand, der einen Anspruch hat

eine Tochter: Dem 22. Februar ließ der Rittmeisterin Bemhardine Luise Friderique von Münchhausen, Tochter des Majors von Brun, ein den 12. Februar hier geborenes Töchterchen taufen, [...].
Taufregister der Evangelisch Luther'schen Kirche in Polle; zit. nach Deurvorst 2015

Geehrter bester Freund,

Ich eile, Ihnen die gestern deres Freund A. wichtiger Nachricht mitzuteilen, daß das Kind der liebe Frau Tante zu Polle mit Todte abgegangen ist. Ein äußerst wichtiges Ereignis für uns. Der Oncle soll auch schwer krank liegen. [...]
Advokat Müldener an Wilhelm von Münchhausen; Nachlass Borries von Münchhausen. SUB Göttingen, zit. nach Deurvorst

Haller: Albrecht Viktor Haller, ab 1749 von Haller (auch Albert von Haller oder Albert de Haller; 1708-1777) war ein Schweizer Mediziner, Arzt und Naturforscher (insbesondere Botaniker), Dichter und Wissenschaftspublizist in der Zeit der Aufklärung. Hallers botanisches Autorenkürzel lautet „Haller“, es ist aber auch „Hall.“ in Gebrauch.

Die Tugend.

Ode an den Herrn Hofrath Drollinger.
1729.

–––

Ich habe bei diesem kleinen Gedichte nicht viel zu sagen. Damals war dieses Silbenmaß etwas ungewöhnlicheres als itzt. Ich rathe aber niemandem es nachzuahmen, da es die Gedanken so sehr einschränkt, und überhaupt die vielen einsilbigen Wörter die deutsche Sprache bequemer zu den Jamben machen.

 

Freund! die Tugend ist kein leerer Namen,
Aus dem Herzen keimt des Guten Samen,
Und ein Gott ists, der der Berge Spitzen
Röthet mit Blitzen.

Laß den Freygeist mit dem Himmel scherzen,
Falsche Lehre fließt aus bösen Herzen,
Und Verachtung allzustrenger Pflichten
Dient für verrichten.

Nicht der Hochmuth, nicht die Eigenliebe,
Nein, vom Himmel eingepflanzte Triebe
Lehren Tugend und daß ihre Krone
Selbst sie belohne.

Ists Verstellung, die uns selbst bekämpfet,
Die des Gähzorns Feuer-Ströme dämpfet
Und der Liebe doch so sanfte Flammen
Zwingt zu verdammen?

Ist es Tummheit oder List des Weisen,
Der die Tugend rühmet in den Eisen,
Dessen Wangen, mitten in dem Sterben,
Nie sich entfärben?

Ist es Thorheit, die die Herzen bindet,
Daß ein jeder sich im andern findet
Und zum Lösgeld seinem wahren Freunde
Stürzt in die Feinde?

Füllt den Titus Ehrsucht mit erbarmen?
Der das Unglück hebt mit milden Armen,
Weint mit andern und von fremden Ruthen
Würdigt zu bluten?

Selbst die Bosheit ungezäumter Jugend
Kennt der Gottheit Bildniß in der Tugend,
Haßt das Gute und muß wahre Weisen
Heimlich doch preisen.

Zwar die Laster blühen und vermehren,
Geiz bringt Güter, Ehrsucht führt zu Ehren,
Bosheit herrschet, Schmeichler betteln Gnaden,
Tugenden schaden.

Doch der Himmel hat noch seine Kinder,
Fromme leben, kennt man sie schon minder,
Gold und Perlen findt man bei den Mohren,
Weise bei Thoren.

Aus der Tugend fließt der wahre Friede,
Wollust eckelt, Reichthum macht uns müde,
Kronen drücken, Ehre blendt nicht immer,
Tugend fehlt nimmer.

Drum, o Damon! gehts mir nicht nach Willen,
So will ich mich ganz in mich verhüllen,
Einen Weisen kleidet Leid wie Freude,
Tugend ziert beide.

Zwar der Weise wählt nicht sein Geschicke,
Doch er wendet Elend selbst zum Glücke;
Fällt der Himmel, er kann Weise decken;*
Aber nicht schrecken.

–––

* Fractus illabatur orbis
Impavidum ferient ruinæ.   Horat

 

Albrecht von Haller, Versuch Schweizerischer Gedichte. Eilfte vermehrte und verbesserte Auflage. Carlsruhe, 1778 S. 108ff.

Weisen von Sion: König Salomo

 

Emiliens letzter Ausruf mit Salomo: Es ist alles eitel!
Inhalt, S. 174.

Das 7. Kapitel der Sprüche Salomonis überschreibt Luther mit: Arzeney wieder den ehebruch, und dessen beschreibung.

MEin kind, behalte meine rede, und verbirge meine gebot bey dir.

2 Behalte mein gebot, so wirst du leben, und mein gesetz, wie deinen augapffel.

3. Binde sie an deinen finger, schreibe sie auf die taffel deines hertzens.

4. Sprich zur weisheit: Du bist meine Schwester, und nenne die klugheit deine freundin.

5. Daß du behütet werdest für dem fremden weibe, für einer andern, die glatte worte gibt.

6. Denn am fenster meines hauses guckete ich durchs gitter, und sahe unter die albern.

7. Und ward gewahr unter den kindern eines närrischen jünglings,

8. Der ging auf der gassen an einer ecken, und trat daher auf dem wege an ihrem hause,

9. In der demmerung am abend des tages, da es nacht ward, und dunckel war.

10. Und sihe, da begegnete ihm ein weib, im huren-schmuck, listig,

11. Wild und unbändig, daß ihre füsse in ihrem hause nicht bleiben können.

12. Jetzt ist sie haussen, jetzt auf der gassen, und lauret an allen ecken.

13. Und erwischte ihn, und küssete ihn unverschämt, und sprach zu ihm:

14. Ich habe danck-opffer für nich heute bezahlet, für meine gelübbte,

15. Darum bin ich heraus gegangen dir zu begegnen, den angesicht früh zu suchen, und habe dich funden.

16. Ich habe mein bette schön geschmücket mit bunten teppichen aus Egypten,

17. Ich habe mein lager mit myrrhen, aloes und cynnamen besprenget.

18. Komm, laß uns genug bulen, bis an den morgen, u. laß uns der liebe pflegen.
Biblia [...] Nach der Teutschen Ubersetzung/ D. Martin Luthers,/ […] Büdingen 1747, S. 551.

Es ist alles eitel!: Gedicht von Andreas Gyphius.

Es ist alles eitel.

DV sihst/ wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden.

     Was dieser heute baut/ reist jener morgen ein:

     Wo itzund Städte stehn/ wird eine Wiesen seyn/

Auff der ein Schäfers-Kind wird spielen mit den Herden.

Was itzund prächtig blüht/ sol bald zutretten werden.

     Was itzt so pocht vnd trotzt ist morgen Asch vnd Bein/

     Nichts ist/ das ewig sey/ kein Ertz/ kein Marmorstein.

Itzt lacht das Glück vns an/ bald donnern die Beschwerden.

     Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.

     Soll denn das Spiel der Zeit/ der leichte Mensch bestehn?

Ach! was ist alles diß/ was wir vor köstlich achten/

     Als schlechte Nichtigkeit/ als Schatten/ Staub vnd Wind;

     Als eine Wiesen-Blum/ die man nicht wider find’t.

Noch wil was ewig ist kein einig Mensch betrachten!

 

ANDREÆ GRYPHII Freuden vnd Trauer-Spiele auch Oden vnd Sonnette sampt Herr Peter Squentz Schimpff-Spiel. Breßlau M. DC. LVIII, S. 4.

Andreas Gryphius (1616-1664) war ein deutscher Dichter und Dramatiker des Barocks. Mit seinen sprachgewaltigen Sonetten, welche „das Leiden, Gebrechlichkeit des Lebens und der Welt“ beinhalten, gilt Gryphius als der bedeutendste Lyriker des deutschen Barocks.
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