Gottfried August Bürger Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande London 1788
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Erstes See-Abenteuer
Ein Handelsschiff der Niederländischen Ostindien-Kompanie umsegelt das Kap der Guten Hoffnung; Öl auf Leinwand, England um 1780
[60] Des Freiherrn von Münchhausen See-Abenteuer. ––––––
Erstes See-Abenteuer.
Gleich die erste Reise, die ich in meinem Leben machte, geraume Zeit vor der russischen, von der ich eben einige Merkwürdigkeiten erzählt habe, war eine Reise zur See. |
Raspes fünfte Ausgabe enthielt 10 neue Kapitel (Chapter X—XX). Von diesen hatte Bürger zwei Kapitel nicht übernommen. Das 12. Kapitel hatte nur für die Londoner lokales Interesse, und das 16. Kapitel zielte auf den Patriotismus der Engländer. Vier Kapitel, das 10., 11., 15. und 19. hat Bürger zusammengefasst und als Fortgesetzte Erzählung des Freyherrn angehängt; darauf folgen Raspes Kapitel 13, 17 und 18 als 8. bis 10. See-Abentheuer mit dem Untertitel: Eine zweyte Reise nach dem Monde. Zum Schluss bringt Bürger Raspes Kapitel XX als selbständigen Abschnitt: Reise durch die Welt nebst ändern merkwürdigen Abentheuern. Rudolf Erich Raspe: Inhalt von Gulliver revived, Fifth Edition. London 1786: See-Abenteuer: Nach Münchhausens Reisen zu Lande folgen nun die Wunderbaren Reisen zu Wasser, unter Wasser, durch die Erde und in die Luft. Gleich zu Anfang gibt Bürger einen Hinweis (s. Bürgers Inhaltsverzeichnis), dass diese Reisen nicht nur an geographisch identifizierbare Orte führen, sondern dass es sich auch um Reisen in die Fantasie handelt. Quelle: Rudolf Erich Raspe: Gulliver revived, London 1786: Gleich die erste Reise, […] kränkt und beleidigt.] Nicht in B1 und B2 die erste Reise: Angesichts dieses weiten Problemhorizonts sind ein so harmlos erscheinender Text wie die „kleinen“ Lügengeschichten des Barons von Münchhausen aus dem niedersächsischen Städtchen Bodenwerder über große fiktive Reiseerlebnisse von Rußland, Polen, der Türkei über Ceylon, Nordamerika, Ägypten, Gibraltar, Holland, Ostindien, ja zum Mond und zurück ins „Old England“ nur die Spitze eines Eisbergs. Herausragend sind sie im Feld der Darstellung und Übersetzung von Fremdem und Neuem im späten 18. Jahrhundert. Gerade durch die Form der Lüge im fiktionalen Rahmen, durch die Übertreibungen und Brechungen von zeitgenössischer Wirklichkeit sowie von literarischem und wissenschaftlichem Diskurs haben die Lügengeschichten die Poetik und Rhetorik des Fremden selbst zum Thema. Durch ihre Überspitzungen vermitteln sie Einsichten in die spezifischen „Repräsentationspraktiken“ (Greenblatt 1994, S. 17), mit denen in der europäischen Geschichte immer wieder die Übersetzung fremder Kulturen in Angriff genommen wurde. Schließlich – so Stephen Greenblatt – stellt die (Lügen-)Anekdote „das wichtigste Medium zur Aufzeichnung des Unerwarteten und daher auch zur Beschreibung der Begegnung mit der Differenz dar.“ (Greenblatt 1994, S. 11) Im Blick auf die Reiseliteratur spielen die Lügengeschichten mit den Darstellungs- und Überzeugungsmöglichkeiten erfundener fremdartiger, ja fremdkultureller Erlebnisse für ein europäisches Publikum. […]
Sehen und Beschreiben, d.h. visuelles Paradigma und Repräsentation –
Hauptprobleme der gegenwärtigen Ethnographie –, werden schon hier als
problematische Schlüsselkategorien für die Vermittlung von Fremderfahrung
erkannt. Wieweit dabei Wissenschaft und Literatur Hand in Hand arbeiten
(oder auch nicht), ist aus dem Vergleich zwischen englischem und deutschem
Münchhausen ablesbar. Der englische „Original“-Münchhausen bezieht durch
eine aus der Naturforschung entlehnte Metaphorik die zeitgenössische
Wissenschaft – mit ihrem Objektivitätsanspruch wie ihren ökonomischen
Interessen – ausdrücklich in die Welt der Literatur und Volksdichtung ein.
In Bürgers deutscher Übersetzung freilich werden solche Spuren der (Natur-)Wissenschaft
wieder aus der Dichtung verdrängt – nicht die Zirkulation zwischen
Wissenschaft und Literatur, sondern der spezifische Literatur-, ja
Volksliteraturcharakter der Lügengeschichten kommt hier zur Entfaltung. Anmerkung des Herausgebers: Die Untersuchung von Bachmann-Medick ist der Tradition der Analyse so genannter volkstümlicher Erzähltexte verpflichtet, auch wenn sie Aspekte der unterschiedlichen kulturellen Kontexte in Großbritannien und Deutschland einbezieht. Meine Recherchen zeigen, dass sowohl Raspes als auch Bürgers Münchhausen nicht bloß als Schnurren- und Witzsammlung verstanden werden können, sondern als Satire auf literarische, historische und wissenschaftliche Themen des 18. Jahrhunderts. Vergl. dazu auch Kämmerer 1999, Beese 2014 und Beese 2020. |
Wie ging nun Bürger an die technische Seite der Übersetzung heran?
Er ist um eine Auswahl des mannigfaltigen Stoffes bemüht; so übersetzt er nur Kapitel I bis XXI. Er übernimmt nicht alles der Reihe nach so, wie es im Englischen steht; er stellt die Anordnung der Episoden um. Wir wollen das an drei Beispielen darstellen: Er nimmt die Geschichte von Papst Ganganellis Austern-Bankett aus Kapitel XIV und bringt sie knapp vor der Belagerung Gibraltars. Diese Geschichte erscheint in Kapitel X in der englischen Vorlage. Aber es ist nicht Baron de Tott, in der Bürgerschen Übersetzung, der dem Austern-Bankett seine Geburt verdankt, sondern einer von Baron Münchhausens Freunden.
Bürger vereint die zwei Hälften der Erzählung von dem Seepferd, die in der
englischen Fassung in den Kapiteln XI und XV erzählt werden. Es ist unklar,
warum hier drei Kapitel dazwischen geschoben sind. Diese Episode gewinnt
sicherlich in Bürgers Übersetzung. Die Geschichte, die uns berichtet, wie der
Baron Münchhausen sich aus einer Kanone über die Häuser Londons geschossen
hatte, um auf einem Heubüschel zu landen, wird in der englischen Fassung im
Kapitel XIX berichtet; es folgt Münchhausens Abenteuer im Aetna. (Kap. XX.) Bei
Bürger wird die Geschichte von Münchhausens Reise mit Captain Phipps an das
Abenteuer mit dem Bären angeknüpft. Dieses gehörte ursprünglich in das Kapitel
XIII. An diese Episode schließt er das „Neunte See-Abenteuer“ seiner Seereise
mit Captains Hamilton und dem begabten Hühnerhund an; den Stoff nimmt er aus
Kapitel XVIII.
Penelope E. A. L. Scott: Gottfried August Bürgers Übersetzungen aus dem
Englischen, (Scott 1969), S. 82.
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Anzahl und Reihenfolge der Abenteuer in Bürgers erster Ausgabe B1 und B2: Des Freiherrn von Münchhausen See-Abenteuer. Im Jahr 1766 schiffte ich mich zu Portsmouth auf einem englischen Kriegsschiffe erster Ordnung, mit hundert Kanonen und vierzehnhundert Mann, nach Nord-Amerika ein. […] Meine Situation, so lange ich auf der Brille saß, war zwar ein wenig kühl, indessen ward ich doch bald durch die Kunst des Zimmermannes erlöset. Zweites See-Abenteuer. Einst war ich in großer Gefahr im mittelländischen Meere umzukommen. […] So viel ich rechnen konnte, war ich ohngefähr drittehalb Stunden in dem Magen dieser Bestie eingekerkert gewesen. Drittes See-Abenteuer. Als ich noch in türkischen Diensten war, belustigte ich mich öfters in einer Lust-Barke auf dem Mare di Marmora, von wo aus man die herrlichste Aussicht auf ganz Konstantinopel, das Seraglio des Groß-Sultans mit eingeschlossen, beherrschet. […] Was aber den Luftball anlangte, so war der von dem Schaden, welchen ich ihm zugefügt hatte, im herunterfallen vollends ganz und gar zu Stücken zerrissen. Viertes See-Abenteuer.
Da wir noch Zeit haben, meine Herren, eine frische Flasche auszutrinken, so
will ich Ihnen noch eine andere sehr seltsame Begebenheit erzählen, die mir
wenige Monate vor meiner letzten Rückreise nach Europa begegnete. […] Ich
wurde von dem Großherrn überaus gnädig empfangen, und hatte die Ehre seinen
Harem zu sehen, wo seine Hoheit selbst mich hineinzuführen und so viele
Damen, selbst die Weiber nicht ausgenommen, anzubieten geruheten, als ich
mir nur immer zu meinem Vergnügen auslesen wollte. Fünftes See-Abenteuer.
Nach Endigung der ägyptischen Reisegeschichte wollte der Baron aufbrechen
und zu Bette gehen, gerade als die erschlaffende Aufmerksamkeit jedes
Zuhörers bei Erwähnung des Großherrlichen Harems in neue Spannung geriet.
[…] Das Gewissen wird diese Herrn nicht sehr darüber beunruhigt haben. Denn
ihr Fang war noch immer so ansehnlich, dass um den tausendsten Theil die
ganze honette Gesellschaft sowohl für sich, als ihre Erben und Erbnehmen,
auf alle vergangene und zukünftige Sünden, vollkommenen Ablaß selbst aus der
ersten und besten Hand in Rom dafür erkaufen konnte. — Sechstes und letztes See-Abenteuer. Nach Endigung des vorigen Abenteuers, ließ sich der Baron nicht länger halten, sondern brach wirklich auf, und verließ die Gesellschaft in der besten Laune. Als sich nun Jedermann nach seiner Weise über die Unterhaltung herausließ, die er so eben verschafft hatte, so bemerkte einer von der Gesellschaft, ein Partisan des Barons, der ihn auf seiner letzten Reise in die Türkei begleitet hatte, dass ohnweit Konstantinopel ein ungeheuer großes Geschütz befindlich sei, dessen der Baron Tott in seinen neulich herausgekommenen Denkwürdigkeiten ganz besonders erwähnet. […] Nun, meine Herren, habe ich darauf das Ehrenwort meiner Mutter — und wer könnte wohl eine solche Ehre bezweifeln? — dass ich die Frucht jener Austernacht bin.
Des Herrn von
Münchhausen See-Abenteuer Der Ausdruck „Erfahrungs-Seelenkunde“ ist erst in der zweiten Bürgerschen Auflage von 1788, noch nicht in der ersten aus dem Jahr 1786 enthalten. Mit dem Begriff Neigung verweist Bürger damit auf den Aufsatz von des philanthropischen Pädagogen Carl Friedrich Pockels (1757-1814): Über die Neigung der Menschen zum Wunderbaren. In: Gnōthi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, herausgegeben von Karl Philipp Moritz. Dritter Band, Drittes Stück. Berlin 1785, S. 81-99. Es handelt sich eine frühe psychologische Studie aus der Zeit der Aufklärung, in der Pockels zeigt, wie „unsere Seele in eine heftige Bewegung geräth, wenn uns eine wunderbare Begebenheit erzählt wird“. Das Wunderbare meint übernatürliche, mythisch und phantastische Erscheinungen, also Vorstellungs-Phänomene, die in als Bestandteile obsoleter Weltanschauungen verstanden und in Opposition zu Erkenntnissen der Naturwissenschaften gesetzt werden. In der Kunst erscheint das Wunderbare als ein Ergebnis der Phantasietätigkeit, in dem oft eine Erscheinung oder ein Ereignis mit seinem Gegenteil verknüpft wird. „Die Neigung der Menschen zum Wunderbaren, und, ich kann hinzusetzen, zum Fabelhaften, hängt lediglich von dem so mächtigen Triebe der menschlichen Seele ab, neue Vorstellungen, und zwar solche zu empfangen, wodurch ungewöhnlich lebhafte angenehme Empfindungen in uns hervorgebracht, und erhalten werden. Jene neuen Vorstellungen, wonach wir vermöge eines uns natürlichen Erweiterungstriebes unserer Geistesthätigkeit streben, sind uns allemal um so viel willkommener, je mehr sie den Reiz der Neuheit an sich haben; je weniger sie also an eine uns schon geläufige Menge bekannter Vorstellungen gränzen, und je lebhafter die Eindrücke sind, welche sie in dem Gebiete unserer Empfindungen zurücklassen. Das Wunderbare ist aber vornehmlich geschickt, lebhafte Eindrücke auf uns zu machen und unsere Leidenschaften zu erschüttern. Wir fühlen es sehr deutlich, daß unsere Seele in eine heftige Bewegung geräth, wenn uns eine wunderbare Begebenheit erzählt wird; oder wenn wir sie selbst zu sehen Gelegenheit haben.“ (Pockels 1785, S. 84f.) In der Literatur begegnen wir ihm als einem besonderen ästhetisch-künstlerischen Phänomen, das Affekte auslösen kann. Pockels untersucht „Furcht und Erschrecken“ sowie das „Erstaunen“, die durch eine „wunderbare Begebenheit“ in unserem Empfinden erzeugt werden. "Die lebhafte Bewegung, in welche unsere Phantasie allemahl durch ausserordentliche Begebenheiten versetzt wird, theilt sich zugleich einer Menge unserer Leidenschaften mit, die sich bald mit Schrecken und Furcht, bald mit einer überwiegenden Freude, bald in beiden, oder gemischten Empfindungen äußern, je nachdem das Wunderbare einer Begebenheit bald so, bald anders auf unser Herz würkt, und auf dieses würkt es allemal, daher wir auch gemeiniglich einen so lebhaften Antheil an den Schicksalen sogenannter Wunderthäter nehmen, und nicht selten noch eine Hochachtung für sie fühlen, wenn auch ihre Betrügereien schon entdeckt sind." (S. 93) Pockels Ausführungen könne als Folie gelesen werden, vor der sich einzelne Episoden der „Wunderbare(n) Reisen zu Wasser und Lande, Feldzüge und lustige Abentheuer des/ Freyherrn von Münchhausen“ entfalten. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die immer noch verwendeten Kategorien der Erzähltextanalyse und die Bestimmung der Münchhausen-Erzählungen als „lügenhafte Geschichten“ (Erwin Wackermann) oder „Spielwitze“ (Werner R. Schweizer) zu kurz greifen.
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Holland mit Kolonialreich. Homann, Johann Baptist [Hrsg.]: Atlas novus terrarum orbis imperia regna et status exactis tabulis geographice demonstrans. Nürnberg, [ca. 1729].
Ich stand, wie mein Oncle, der schwarzbartigste Husarenoberste, den ich je gesehen habe, mir oft zuzuschnurren pflegte, noch mit den Gänsen im Prozesse, und man hielt es noch für unentschieden, ob der weiße Flaum an meinem Kinne Keim von Dunen oder von einem Barte wäre, als schon Reisen das einzige Dichten und Trachten meines Herzens war. Da mein Vater teils selbst ein ehrliches Teil seiner früheren Jahre mit Reisen|[61] zugebracht hatte, teils manchen Winterabend durch die aufrichtige und ungeschminkte Erzählung seiner Abenteuer verkürzte, von denen ich Ihnen vielleicht in der Folge noch einige zum Besten gebe, so kann man jene Neigung bei mir wohl mit ebenso gutem Grunde für angeboren, als für eingeflößet halten. Genug, ich ergriff jede Gelegenheit, die sich anbot, oder nicht anbot, meiner unüberwindlichen Begierde, die Welt zu sehen, Befriedigung zu erbetteln oder zu ertrotzen; allein vergebens. Gelang es mir auch einmal, bei meinem Vater eine kleine Bresche zu machen, so taten Mama und Tante desto heftigeren Widerstand, und in wenigen Augenblicken war alles was ich durch die überlegtesten Angriffe gewonnen hatte, wieder verloren. Endlich fügte sichʼs, dass einer meiner mütterlichen Verwandten uns besuchte. Ich wurde bald sein Liebling: er sagte mir oft, ich wäre ein hübscher munterer Junge, und er wolle alles mögliche tun, mir zur Erfüllung meines sehnlichsten Wunsches behülflich zu sein. Seine Beredsamkeit war wirksamer als die meinige, und nach vielen Vorstellungen und Gegenvorstellungen, Einwendungen und Widerlegungen wurde endlich zu meiner unaussprechlichen Freude beschlossen,|[62] dass ich ihn auf einer Reise nach Ceylon, wo sein Onkel viele Jahre Gouverneur gewesen war, begleiten sollte. |
mein Oncle: oncle, fr. Onkel Ceylon: Ceylon (heute: Sri Lanka) ist ein Inselstaat im Indischen Ozean, 237 km (Westküste der Insel) östlich der Südspitze des Indischen Subkontinents. Die lokalen Königreiche wurden im 16. Jahrhundert von den Portugiesen und danach von den Niederländern kolonisiert.
sein Onkel:
Es ist interessant darüber zu spekulieren, woher Raspe die Anregung bekam,
eine Geschichte aus Ceylon zu erzählen. Es mag sein, dass er nur nach einem
exotischen, wenig bekannten Land suchte, das ein interessante Plot zu
erfinden, aber selbst das hätte einige Hintergrundinformationen über den Ort
erfordert. Eine historische Tatsache, die sich aus den Motiven und Hinweisen
der Geschichte ergibt, war die Existenz eines niederländischen Gouverneurs
im Land während des relevanten Zeitraums. Der einzige ehemalige
niederländische Gouverneur, mit dem Raspe möglicherweise Kontakt hätte haben
können, war Joan Gideon Loten (Gouverneur 1752-1757). Mehrere gemeinsame
Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Vereinigungen, machen einen solchen
Kontakt plausibel. […] Es gab Gemeinsamkeiten zwischen Raspe und Loten, da
beide Naturforscher und Fellows der Royal Society in London waren. Joan Gideon Loten (1710-1789) war ein holländischer Kolonial-Beamter in Diensten der Niederländischen Ostindien-Kompanie. Im Juni 1752 wurde er zum 29. Gouverneur von Ceylon ernannt und reiste zusammen mit seiner Frau, seiner Tochter Arnoldina Deliana Cornelia und seinem Schwiegersohn (Dirk Willem Van Der Brugghen) nach Colombo. Während der fünfwöchigen Reise berechnete Loten eine Sonnenfinsternis, die für den 6. November 1752 vorhergesagt und in Batavia sichtbar war. Während seiner Zeit in den Kolonien sammelte er Objekte aus Flora und Fauna. Nach seiner Rückkehr aus Niederländisch-Ostindien lebte er in London, wo er als Mitglied der Royal Society naturkundliche Forschungen betrieb. Eine nähere Bekanntschaft mit Raspe ist sehr wahrscheinlich.
Joan Gideon Loten (1710-1789) |
Nieuwe Pascaert van Oost Indien 1680-1735. In: De Nieuwe Groote Lichtende Zee-Fakkel, ʼt Derde Deel. Verthoonende de Kusten van Granaden, Catalonien, Provence, Italien, Dalmatien, Grieken, Thracien, Natolien, Lyrien, Egypten, en de geheele Noordkust van Barbaryen, met alle haer onderbehoorende en tusschen leggende Eylanden. […] Door Claas Jansz. Vooght. Amsterdam 1682. |
Homann, Johann Baptist [Hrsg.]: Atlas novus terrarum orbis imperia regna et status exactis tabulis geographice demonstrans. Nürnberg, [ca. 1729]. |
Wir segelten mit wichtigen Aufträgen Ihrer Hochmögenden, der Staaten von Holland, von Amsterdam ab. Unsere Reise hatte, wenn ich einen außerordentlichen Sturm abrechne, nichts Besonderes. Dieses Sturmes aber muss ich seiner wunderbaren Folgen wegen, mit ein paar Worten gedenken. Er nahm sich auf, gerade als wir bei einer Insel vor Anker lagen, um uns mit Holz und Wasser zu versorgen, und tobte mit solcher Heftigkeit, dass er eine große Menge Bäume von ungeheuerer Dicke und Höhe mit der Wurzel aus der Erde riss und durch die Luft schleuderte. Ungeachtet einige dieser Bäume mehrere hundert Zentner schwer waren, so sahen sie doch wegen der unermesslichen Höhe – denn sie waren wenigstens fünf Meilen über der Erde – nicht größer aus als kleine Vogelfederchen, die bisweilen in der Luft umherfliegen. Indes sowie der Orkan sich legte, fiel jeder Baum senkrecht in seine Stelle, und schlug sogleich wieder Wurzel, so dass kaum eine Spur der Verwüstung zu sehen war. Nur der größte machte hievon eine Aus-|[63]nahme. Als er durch die plötzliche Gewalt des Sturmes aus der Erde ausgerissen wurde, saß gerade ein Mann mit seinem Weibe auf den Ästen desselben, und pflückte Gurken; denn in diesem Teile der Welt wächset diese herrliche Frucht auf Bäumen. Das ehrliche Paar machte so geduldig als Blanchardʼs Hammel die Luftreise mit, veranlasste aber durch seine Schwere, dass der Baum sowohl von seiner Richtung gegen seinen vorigen Platz abwich, als auch in einer horizontalen Lage herunterkam. Nun hatte, so wie die meisten Einwohner dieser Insel, auch ihr allergnädigster Kazike während des Sturms seine Wohnung verlassen, aus Furcht unter den Trümmern derselben begraben zu werden, und wollte gerade wieder durch seinen Garten zurückgehen, als dieser Baum hernieder sausete, und ihn, glücklicher Weise, auf der Stelle tot schlug. – „Glücklicher Weise?“ – Ja, ja, glücklicher Weise. Denn, meine Herren, der Kazike war, mit Erlaubnis zu melden, der abscheulichste Tyrann, und die Einwohner der Insel, selbst seine Günstlinge und Mätressen nicht ausgenommen, die elendesten Geschöpfe unterʼm Monde. In sei-|[64]nen Vorratshäusern verfaulten die Lebensmittel, während seine Untertanen, denen sie abgepresst waren, vor Hunger verschmachteten. Seine Insel hatte keinen auswärtigen Feind zu fürchten; dessen ungeachtet nahm er jeden jungen Kerl weg, prügelte ihn höchsteigenhändig zum Helden und verkaufte von Zeit zu Zeit seine Kollektion dem meistbietenden benachbarten Fürsten, um zu den Millionen Muscheln, die er von seinem Vater geerbt hatte, neue Millionen zu legen. – Man sagte uns, er habe diese unerhörten Grundsätze von einer Reise, die er nach dem Norden gemacht habe, mitgebracht; eine Behauptung, auf deren Widerlegung wir uns, alles Patriotismus ungeachtet, schon deswegen nicht einlassen konnten, weil bei diesen Insulanern eine Reise nach dem Norden eben so wohl eine Reise nach den kanarischen Inseln als eine Spazierfahrt nach Grönland bedeutet; und eine bestimmtere Erklärung mochten wir aus mehreren Gründen nicht verlangen. |
Quelle: Rudolf Erich Raspe: Gulliver revived, London 1786: Staaten von Holland: Die Staaten Holland und Westfriesland bildeten zunächst einen Beirat des Grafen von Holland und wurden durch den Aufstand des rebellischen Teils der niederländischen Provinzen gegen ihren spanischen Herrscher, den Habsburger Philipp II, zum höchsten Verwaltungsorgan der Provinz Holland und Westfriesland. Die sechs größten Städte waren Dordrecht, Haarlem, Delft, Leiden., Amsterdam und Gouda.
wunderbaren Folgen: Das Wunderbare ist
zu allen Zeiten und bei allen Völkern, bei den rohesten und unwissendsten
sowohl, als bei den kultivirtesten und aufgeklärtesten ein Gegenstand ihrer
besondern Aufmerksamkeit und Hochachtung gewesen. Jede Nation glaubt an
geschehene Wunder, und ist geneigt an zukünftige zu glauben. Jede Religion,
oder eigentlicher zu reden, das Ansehn jeder Religion, gründet sich nach der
Meinung der größern Menge auf den Glauben an wundervolle Begebenheiten, und
durch diesen Glauben, eben weil er von jeher der Glaube der größern Menge
war, sind unter den Menschen die wichtigsten Revoluzionen bewürkt worden,
welche die scharfsinnigste Philosophie und weiseste Politik, verbunden mit
der unumschränktesten Gewalt nie zu Stande gebracht haben würde — und welche
wichtige Veränderungen wird dieser Wunderglaube nicht noch in Zukunft
hervorbringen können! bei einer Insel: Wenn man die Angabe zur Reisezeit bei Bürger berücksichtigt, könnte das Schiff auf der fiktiven Fahrt von Holland nach Ceylon auf der Insel Annobón im Golf von Guinea angelegt haben. Die Insel wurde 1641 von den Niederländern erobert und diente den Ost-Indienfahrern als Zwischenstation bei der Umsegelung der Südspitze Afrikas.
die bisweilen in der Luft umherfliegen:
Wir sind durch die tägliche Erfahrung so unendlich oft belehrt worden, daß
eine jedwede Würkung eine vorhergegangene Ursach zum Grunde haben muß, daß
auch der gemeinste Verstand, gleichsam durch eine mechanische Verknüpfung
seiner Vorstellungen von Ursach und Würkung, gezwungen wird, sich da eine
Ursach hinzudenken, wo sie auch nicht in die Sinne fällt, oder überhaupt
ganz unbekannt ist. Unsere Seele fühlt gemeiniglich eine Art von besonderer
Unruhe, so lange sie noch nicht die zureichende Ursache einer Begebenheit
kennt, und in dieser Unruhe fühlt der Mensch sich besonders sehr geneigt,
zur Befriedigung seiner Wißbegierde Ursachen zu fingiren, und diese
fingirten für die wahren zu halten. Ein Fehler, worein oft selbst die
größten Köpfe gefallen sind. Der gemeine Menschenverstand nimmt hiebei seine
Zuflucht gemeiniglich zu einem Mittel, wodurch er auf einmal seine
Wißbegierde, ohne daß er schwerere Untersuchungen über die Natur der Dinge
nöthig hat, zu befriedigen glaubt, und wobei seine Phantasie zugleich auf
eine angenehme Art unterhalten wird — er macht unsichtbare Wesen zu den
Ursachen ihm unerklärbarer Begebenheiten. Je mehr dergleichen Begebenheiten
der, mit den natürlichen Beschaffenheiten der Dinge unbekannte menschliche
Verstand in der Welt antraf, je geneigter mußte er sich fühlen, an jene
unsichtbaren Geister zu glauben, und ihre unmittelbare Einwürkung auf die
Welt sich bei den natürlichsten Zufällen vorzustellen, von denen er nicht
den physischen Grund kannte. Es ist daher wohl nicht zu läugnen, daß die
Menschen nicht durch tiefes Nachdenken, oder Offenbarungen, sondern durch
Unwissenheit in der Naturlehre, und durch die Neigung zum Wunderbaren zuerst
auf die Begriffe von Geistern und Göttern guter und böser Art gekommen sind.
Die alte Philosophie und Dichtkunst haben sich gleich eifrig bemüht, diese
Begriffe, welche vornehmlich die Großen zur Lenkung ihrer Untergebenen so
nöthig hatten, zu befestigen, und zu verschönern; aber aller ihnen gegebene
dichterische Schmuck, und alle Philosophie hat nicht zureichen wollen, ihren
Ursprung aus einem rohen Zeitalter der menschlichen Vernunft vor den Augen
aufgeklärter Richter zu verhüllen. Blanchardʼs Hammel: Jean-Pierre François Blanchard (1753-1809 war ein französischer Ballonfahrer. Er experimentierte zunächst erfolglos mit eigenen Flugapparaten, die auf der Grundlage von Schlagflügeln beruhten. Nach der Entwicklung des Heißluftballons durch die Brüder Montgolfier und des Gasballons durch Jacques Alexandre César Charles im Jahre 1783 wandte er sich der Ballonfahrt zu; am 2. März 1784 startete er vom Marsfeld in Paris zu seiner ersten Ballonfahrt mit einem mit Wasserstoff gefüllten Ballon. Nach verschiedenen Auftritten in europäischen Städten stieg er am 23. August 1786 in Hamburg auf, wobei er einen Hammel am Fallschirm wohlbehalten zur Erde schweben ließ. Attestat wegen der zwanzigsten Luftreise des Herrn Blanchard, Bürger von Calais ⁊c. welche den 23ten August 1786. zu Hamburg geschah.
Im Jahr 1787, den 23ten August, bezeugen wir Unterzeichnete, daß wir Herrn
Blanchard, Bürger von Calais, Pensionaire seiner allerchristlichsten
Majestät und Correspondenten mehrerer Academien gesehen haben seinen Ballon
von 5577, 11-21 Cubikschuhen mit der größten Offenheit füllen, wie auch
einen andern von 900 Cubikschuhen, der bestimmt war, ein Schaaf und einen
Fallschirm von seiner Erfindung emporzuheben. Nachdem dieser Aeronaute von
der glänzenden und sehr zahlreichen Versammlung Abschied genommen hatte, so
erhob er sich genau um halb fünf Uhr mit einer solchen Sicherheit, daß jeder
Zuschauer ihn zu begleiten wünschte. Die Pracht seiner Auffahrt. die einen
Augenblick alle Zuschauer unbeweglich gemacht hatte, belebte sie wieder und
stimmte sie, daß von allen Seiten die Lufft von Freuden- und
Beyfallschgeschrey ertönte. Dieser Lufftsegler, der uns eine baldige
Rückkehr versprochen hatte, erhob sich ganz ruhig, indem er mit seinem
Fahnen, auf dem das hamburgische Wappen gemacht war, die unglaubliche Menge
der Zuschauer begrüßte. Als er zu der Höhe von ohngefehr 900 Klaftern oder
5400 Schuhen nach dem Urtheil der Kenner, das auch mit seiner Angabe
übereinstimmte, gekommen war, so machte Herr Blanchard ein so interessantes
als kühnes Manöver, welche wir aber nur mit Hülfe unserer Instrumente
bemerken konnten; nemlich nachdem das Schaaf unter der Gondel ohngefehr 60
Schuhe herabgelassen war, so schnitte er mit seinen Meßer das Seil ab,
welches das an den kleinen Ballon angehängte Thier hielte, hernach als sich
diese zwey Gegenstände trenneten, sahe man mit einem, mit Bewunderung
vermischten Staunen, den kleinen Ballon sich in den Wollen verlieren, und
das Schaaf mittelst des Fallschirms so langsam herab kommen, daß es mehr als
ein Zuschauer bedauerte, daß er nicht hatte an seyner Stelle seyn können.
Das Herabsteigen des Thieres hat 7 Minuten gedauert, und es kam auf die Erde
sachte, voll Leben und Gesundheit in der Ebene von – – – Alsdann hatten
einige Dragoner, die schon zuvor dahin gekommen, und beordert waren, den
Fallschirm umgeben, und ihn gegen den Ungestümm des Volkes beschüzt. Kazike: Kazike (spanisch cacique) ist eine Bezeichnung für indigene Anführer oder Adlige in Mittel- und Südamerika.
seine Kollektion:
Der geschilderte Sachverhalt spielt vermutlich
auf den Landgrafen von Hessen-Kassel an, „der Landeskinder als Soldaten an
England verkaufte.“ Lebensmittel: Im Jahre 1770 veröffentlichte der italienische Nationalökonom Fernando Galiani (1728-1787) in Paris anonym seine Dialogues sur le commerce des blés. Das Buch wurde ins Französischen und ins Deutsche übersetzt und in ganz Europa diskutiert.
Des Abts Galiani
Dialogen über die Regierungskunst, vornehmlich in Rücksicht auf den
Getreidehandel. Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen
begleitet. Lemgo 1777. Ein Rezensent schreibt: „Der Dialogen sind achte. Der
Ton derselben ist ausnahmslos leicht und voll attischen Witzes. Dabei ist
die Untersuchung ausnehmend lichtvoll und scharfsinnig; der Getreidehandel
ist eigentlich nur die Veranlassung, von welcher der Verf. Gelegenheit
nimmt, seine Gedanken über die Regierungskunst im Allgemeinen zu
entwickeln.“ |
Abbildung der zwanzigsten Luftfahrt des Herrn Blanchard am 23 August 1786 des
Nachmittags um 4½ Uhr aus der Sternschanze bey Hamburg.
Für die Zeitgenossen und
die Nachkommenschaft dem Andenken dieses Kühnen Luftschiffers gewidmet durch K.
N. Rolffsen, Kupferstecher in Hamburg.
Kolorierter Kupferstich; Einblattdruck.
Dieser Kupferstich empfindet Blanchards Ballonfahrt nach. Zu sehen ist auch der Moment, als er einen Hammel an einem grünen Fallschirm zu Boden gleiten lässt. Schauplatz: das Gebiet in der Nähe der Sternschanze (grün eingefärbt).
Conradi Gesneri medici Tigurini Historiae Animalium Lib. I. de Quadrupedibus uiuiparis. Zürich 1551, S. 642.
Ein ausgestopftes Krokodil im Kuriositätenkabinett des Apothekers Ferrante Imperato (1525-1615) im Palazzo Gravina in Neapel um 1600.