Gottfried August Bürger Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande London 1788
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Siebentes See-Abenteuer
Prospectivische Vorstellung der Dardanellen vor Constantinopel Johann Batist Homann: Accurate Vorstellung der orientalisch-kayserlichen Haupt- und Residenz-Stadt Constantinopel samt ihrer Gegend: und zweven berühmten Meer-Engen,
Bosphoro, Thracio und Hellesponto oder dem Freto der Dardanellen. Nürnberg nach 1717.
PEREGRINUS IN JERUSALEM. Fremdling zu Jerusalem, Oder Ausführliche Reiß-Beschreibungen, Worinnen P. ANGELICUS MARIA MYLLER, Ordens der Diener Unser Lieben Frauen, [...] Seine fünff Haupt-Reisen, Die er in Europa, Asia und Africa Vor einigen Jahren gethan [...] richtig erzehlet. Wien und Nürnberg 1735.
Baron de Tott und die Türken
Auf einen weiteren Primärtext, Baron de Totts Reisebericht aus der Türkei, weist ein 'Partisan' Münchhausens hin, der – wie bereits erwähnt wurde – einen zweifelhaften Leumund hat. Er bezieht sich vor allem auf Totts Erzählung von der „größten Kanone in der bekannten Welt.“ Der Partisan zitiert Tott quasi in wörtlicher Rede, die teilweise eng an den Wortlaut des 'echten' Tott angelehnt ist. (vgl. Tott, S. 293–295) Allerdings gibt es feine Unterschiede: Während in Münchhausen die Neugier Totts zum Abfeuern der Kanone führt, leugnet Tott in seinem eigenen Bericht jegliches Interesse an dem Geschütz. Die „große Lust [...] es abzufeuern“, ist dort nicht zu finden: „Es verdroß die Türken, daß ich an diesem Geschütz, welches freylich das einzige seiner Art in der ganzen Welt war, nicht viel zu machen schien, und der Pascha machte mir deshalb Vorstellungen.“ (Tott, S. 263) Der echte Tott zeigt sich nicht sehr beeindruckt von den Dimensionen der Kanone und der zugehörigen Kugel, während Tott in Münchhausen deren Größe ausdrücklich betont: „ich bekam die Erlaubnis, das Geschütz abzufeuern. Es wurden nicht weniger, als dreihundertdreißig Pfund Pulver dazu erfordert, und die Kugel wog, wie ich vorhin schon sagte, einhundert Pfund“ Hinsichtlich der Selbstdarstellung Totts und wie ihn der Partisan in Münchhausen auftreten läßt, bestehen feine, aber bedeutsame Unterschiede. So wird in Münchhausen indirekt die Frage gestellt, ob der Befehl zum Abfeuern der Kanone schon als „Beispiel der außerordentlichen Herzlichkeit dieses Herrn“ zu werten sei. In Münchhausen werden sozusagen ‚Männlichkeit‘ und ‚Nonchalance‘ Totts geschmälert, ‚Qualitäten‘, auf die schließlich Münchhausen abonniert ist.
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François Baron de Tott (1733-1793)
Ob mit dem Bericht des Partisanen die Glaubwürdigkeit Totts in Frage gestellt werden soll, läßt sich nur vermuten. Dies ist allerdings naheliegend, wenn ausdrücklich zweimal darauf hingewiesen wird und Münchhausen die sagenhafte Kanone später ‚versehentlich‘ abhanden kommt, was jegliche Überprüfung der Größe der Kanone ausschließt. Laut Ruttmann (Ruttmann 1969, Kommentar, S. 68) wurden die Berichte Totts teilweise für unglaubwürdig gehalten. Das bedarf jedoch der Korrektur, denn zu Bürgers Zeit wird der historische Tott keineswegs als Lügner gesehen, zumindest nicht in Göttingen, wie die Rezension seines Reiseberichts in den GGA (Göttingische Gelehrte Anzeigen) zeigt: Tott habe „als Erzähler alle Glaubwürdigkeit vor sich; seine philosophisch-politischen Einsichten, sein langer Aufenthalt unter den Türken, an die 23 Jahre, seine Lage, seine Sprachkunde, alles erweckt ihm Zutrauen.“ (Nr. 17, 31.1.1785, S. 162)
Da in Münchhausen aber ein Bild von Tott als Lügner evoziert wird, ist zu fragen, warum Tott als satirisches Opfer gewählt wurde. Diesbezüglich ist auf eine weitere ‚Kanonen-Episode‘ in Totts Bericht einzugehen. Tott berichtet von ,,eine[r] Feldschlange, welche eine 60pfündige Kugel schoß“ (Tott 1787, S. 296) und die es von ihrem Platz zu bewegen gilt. Als Tott beim Pascha Hassan um Seile und Winden ersucht, um das Problem mit den Gesetzen der Mechanik zu lösen, erntet er nur Unverständnis, da dieser auf die bloße Muskelkraft seiner Männer vertraut, was Tott sehr herablassend kommentiert: „Ich konnte nicht umhin, deshalb bey dem berühmten Hassan–Pascha Beschwerde zu fuhren. Dieser Mann war gewohnt, den guten Willen für ebenso kräftig zu halten, als Kenntnisse, zu welchen ein tiefes Studium erforderlich ist. Ey, sagte er zu mir, was wollen Sie da mit Seilen und Winden? Wozu diese Mittel, so lange wir tüchtige Arme haben, die Ihnen zu Befehl sind? Zeigen Sie mir nur die Last, die Sie von der Stelle bringen wollen, und den Platz, wo sie hinkommen soll, ich will schon schaffen. Wie, sagte ich, Sie wollen eine Kanone, die über 70 Centner wiegt, unter dem Arm davontragen lassen? Wenn's seyn muß, sagte er sehr feurig, fünfhundert. Was kommt es da auf die Anzahl an. Wenn nur geschieht, was geschehen soll! Ich sehe nun wohl, sagte ich zum dabeystehenden Pascha, daß der wackere Hassan mit Unmöglichkeiten nicht bekannt ist.“ (Tott 1787, S. 296f.)
Münchhausen wählt mit seinem Kraftakt die vom Pascha Hassan vorgeschlagene Möglichkeit zum Transport der Kanone und straft Totts Arroganz noch dadurch, daß er ein ungleich schwereres Geschütz nicht nur „unter dem Arm“ (Tott 1787, S. 297) davonträgt, sondern daß er damit sogar Wurfübungen veranstaltet. So berichtet der Partisan: „Mein Gönner [...] nahm ebendieses Geschütz auf seine Schulter, sprang [...] geradewegs ins Meer, und schwamm damit an die gegenseitige Küste. Von dort aus versuchte er unglücklicherweise die Kanone auf ihre vorige Stelle zurückzuwerfen. Ich sage unglücklicherweise! denn sie glitt ihm ein wenig zu früh aus der Hand, gerade daß er zum Wurf ausholte. Hierdurch geschah es, daß sie mitten in den Kanal fiel, wo sie nun noch liegt, und wahrscheinlich bis an den Jüngsten Tag liegenbleiben wird.“
Liest man die ‚Kanonenepisode‘ in Münchhausen als satirische Replik auf Totts zur Schau gestellte Arroganz bezüglich der technischen Unwissenheit der Türken, kann das den Leser für Totts generelle ‚Kulturarroganz‘ sensibilisieren. In Totts Bericht wird nämlich geradezu penetrant ein kultureller, wirtschaftlicher und technischer Führungsanspruch West-Europas gegenüber den Türken zum Ausdruck gebracht, die auch sein Herausgeber Peysonnel teilt: “Je mehr ich ihren Verstand und ihre Fähigkeiten zu allen Wissenschaften kenne, desto mehr muß ich es ihnen verargen, daß sie aller Mittel ungeachtet, die ihnen ihre Freunde anboten, um mehr Kenntnisse zu erlangen, oder die ihrigen zu vervollkommnen, nicht gleichen Schritt mit den Europäern gehalten, sondern um zwey Jahrhunderte zurückgeblieben sind.“ (Peysonnel, in: Tott 1787, S. 10)
Bei Tott findet sich ein Sammelsurium unbegründeter Vorurteile über die Türken, wenn er beispielsweise von der „Rachsucht, zu welcher die Türken von Natur aus geneigt sind“, berichtet. (Tott 1787, S. 213) Auch Münchhausen bezeichnet den Sultan als „grausamen Türken“, wobei dies allerdings eher als Spiel mit dem Klischee vom rachsüchtigen Türken zu verstehen ist, denn z.B. im sechsten Seeabenteuer wird der Großsultan keineswegs als ungehobelter Barbar, sondern als Herrscher mit sehr guten Umgangsformen dargestellt, der „unter allen Potentaten auf Erden den delikatesten Tisch führet.“ Der Sultan wird in Münchhausen auch als Person vorgestellt, die durchaus Widerspruch duldet, ohne daß dies gleich das Abschlagen des Kopfes zur Folge hätte. Eine derartige Strafe wird in Münchhausen nicht vom Sultan als Strafe angedroht, sondern von Münchhausen selbst als Wetteinsatz vorgeschlagen: „Erfülle ich nicht mein Wort [...], so lassen Ihro Hoheit mir den Kopf abschlagen.“
Weiterhin ist zu erwähnen, daß der angebliche starke Alkoholgenuß der Türken, den Tott im Kapitel Weinschenken in Konstantinopel (Tott 1787, S.216ff.) 'darstellt', in Münchhausen auf ein gepflegtes Maß beschränkt bleibt, „weiß [doch] mancher Türk' so gut als der beste deutsche Prälat, wie ein gutes Glas Wein schmeckt.“ Bezüglich der Vorurteile Totts gegenüber den Türken wären noch kurz auf Totts Ausführungen zum Getreidemonopol des Sultans einzugehen:
„Hiervon sind unvermeidliche Folgen: das Verbot der Getreideausfuhr; die Scheltungen der dem Verbot entgegen handelnden Beamten; das Verderben des in den Magazinen aufgeschütteten und übelgewarteten Korns; öfters eine ungesunde Nahrung; und zuletzt Hungersnoth.“ (Tott 1787, S.25)
Wenn das von Tott als spezifisch 'türkisch' dargestellt wird, ist auf zwei Episoden in Münchhausen hinzuweisen, in denen von ähnlichen Praktiken berichtet wird. Kurz nach dem zweiten Aufenthalt in der Türkei befindet sich Münchhausen in London, wo er die Wuchergeschäfte eines Pächters erwähnt, der sein Heu mit „übermäßigen Profite“ verkauft. (Fortgesetzte Erzählung des Freiherrn.) Ganz Ähnliches weiß Münchhausen in seiner Geschichte vom tyrannischen ‚Kaziken‘ (Erstes See-Abenteuer) zu berichten: „In seinen Vorratshäusern verfaulten die Lebensmittel, während seine Unterthanen, denen sie abgepreßt waren, vorHunger verschmachteten.“ Laut Münchhauen ist also derartiges Verhalten keineswegs auf bestimmte Länder begrenzt, sondern ein generell weitverbreitetes Phänomen.
Mit Blick auf den mit Vorurteilen und Klischees beladenen Text Totts ist es
erstaunlich, daß man in den GGA Tott vertraute. Dort ist zu lesen, daß er das
Ziel verfolge, „verschiedenen Vorurtheilen, welche man über die Türken hat, zu
begegnen“, was offenbar darauf zurückzuführen ist, daß der Rezensent Totts
Arroganz gegenüber der Kultur der Türken teilt: „Selbst in den Religionsübungen,
im Fasten, macht man sich von der Strenge und Gewissenhaftigkeit einen viel zu
hohen Begriff. Alles das kömmt freylich mit dem, was man sich von der Hauptstadt
eines im Grund verdorbnen despotischen Staats, bey einem solchen Hof, bey einer
solchen Religion, bey solcher Unwissenheit und Rohheit denken kann, besser
überein, als die vielen schönen Sachen, welche von ändern erzählt worden sind.“
(Nr. 17, 31.1.1785, S. 163/166)
Kämmerer 1999, S. 163ff.
Tafel in welcher alle gehörige Werck-zeuge zur Kriegs-Kunst Verstungsbau und Artillerie, zur Belagerung der Stæte Vestungen und Schlösser in Feld-Schlachten Heer-Lager und Lager Plätzen auch allerley Schiff und See-Materialien vorgestelt werden, edirt von Iohann Baptista Homann. Nürnberg 1729. Homann, Johann Baptist [Hrsg.]: Atlas novus terrarum orbis imperia regna et status exactis tabulis geographice demonstrans. Nürnberg, [ca. 1729].
R5, p. 131
Canaletto: Piazzetta 1740, Öl auf Leinwand. Galleria Nazionale d'Arte Antica, Venezia
Der Partisan
Der als „Partisan“ bezeichnete Herr ist ein Vertrauter des Baron von Münchhausen. Da er „der ihn auf seiner letzten Reise in die Türkei begleitet hatte“, kann man vermuten, dass er als Soldat in der von Münchhausen befehligten Einheit gedient hat, also im Kürassierregiment des Prinzen Anton Ulrich. Der Leser erfährt erst dann von seiner Anwesenheit, als der Baron die Gesellschaft verlässt und der andere die Erzählung seiner Abenteuer fortsetzt. Zunächst erzählt er von der Kanone des Generals Tott, dessen Aufschneider-Geschichte der Baron noch übertrumpft. Danach stellt er sich als Person vor: „Der Partisan gibt Nachricht von seiner eigenen Herkunft, mit einigen Anekdoten, worüber sich der geneigte Leser nicht wenig verwundern wird.“
Die nun folgende Geschichte von der Herkunft des Partisans erfüllt in der Erzählung eine formale Funktion. Zu Beginn des Sechsten See-Abenteuers heißt es: „Nach Endigung der ägyptischen Reisegeschichte wollte der Baron aufbrechen, und zu Bette gehen, gerade als die erschlaffende Aufmerksamkeit jedes Zuhörers bei Erwähnung des großherrlichen Harems in neue Spannung geriet. Sie hätten gar zu gern noch etwas von dem Harem gehört.“ Diese Bitte schlägt der Baron brüsk aus: „Mit meinen Liebes-Abenteuern pflege ich nie groß zu tun, daher wünsche ich Ihnen, meine Herren, jetzt insgesamt eine angenehme Ruhe.“
Die Lebensgeschichte, die der Begleiter des Barons seinen Zuhörern vorträgt, ist der Autobiographie des derb-komischen Hanswurst nachgebildet, die dieser in den deutschsprachigen Stegreifkomödie und in vielen Stücken des Jahrmarktstheaters und der Wander- und Marionettenbühnen seit dem 16. Jahrhundert als Prolog deklamiert. Es stellt sich auf diese Weise dem Publikum vor. Hanswurst stammt aus dem bäuerlichen Milieu; Vater und Mutter haben einen zweifelhaften Ruf. Seine Sprache ist volkstümlich-derb; Hanswurst bedient sich einer vulgären Ausdrucksweise, wenn er Sexuelles und Fäkales beschreibt. Der Diener parodiert seinen Herrn, in dem er dessen hohes Pathos mit seinen niederen Lüsten konfrontiert; ihn zeichnen Fresssucht, Sauflust und ungebremste Sexualität aus.
Schon in früheren Jahrhunderten stand im Mittelpunkt des Theater- und Puppenspiels für das einfache Volk eine lustige Person, die in der Sprache der Zuschauer Missstände kritisierte. Das geschah in einer an Fäkal- und Sexualausdrücken reichen Sprache, die vom Publikum auf dem Markt akzeptiert wurde, weil sich hinter der Dummdreistigkeit des Hans Wurst die Gestalt des Verweigerers und Kritikers der starren feudalen Gesellschaftsordnung verbarg. Scheinbar einfältig aber voller Bauernschläue nimmt er wie sein Vetter Till Eulenspiegel die Aufforderungen und Befehle wörtlich und schafft durch Verdrehung des Wortsinns Unordnung und Verwirrung. Stets nur auf die Befriedigung sinnlicher Triebe bedacht, ist er verfressen, faul, oft betrunken, im Ganzen ein Gemütsmensch, der am liebsten in Ruhe gelassen werden will. Doch in allen Stücken kommt die Bedrohung von außen: Ob Tod, Teufel oder ein Soldat irgendeines Heeres, der Hans Wurst weiß sie alle unter deftigen Flüchen mit seiner Pritsche zu vertreiben und geht stets siegreich aus dem Kampf gegen Gefahren und Mächte dieser Welt hervor.
Münchhausens Partisan übernimmt hier die Rolle des Hanswurstes und kopiert dessen Dienerrolle im Spiel der Puppen-Bühne, bei der seine Mutter eine Zeit lang mitgezogen ist. Er ergänzt die Liebesabenteuer seines Herrn, die dieser nur andeutet und nicht gerne von Einzelheiten erzählen möchte. Was Münchhausen seinen Zuhörern von seinem Abenteuer mit Venus in der Werkstatt des Vulkans, mit einer der Frauen im Harem des Sultans und (bei Raspe) zu Beginn des Ritts auf einem Seepferd in den Armen von Thetis, der Tochter Neptuns, vorenthält, erfahren sie nun vom Partisan in der drastischen Erzählung von der Austernnacht, in der er von einem leibhaftigen Papst gezeugt wird.
Jan Steen, Mädchen beim Austernessen, um 1658–1660, 15 x 20 cm (Mauritshuis, Den Haag).