Gottfried August Bürger

Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande

London 1788                                                               

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Siebentes See-Abenteuer

 

 

Prospectivische Vorstellung der Dardanellen vor Constantinopel Johann Batist Homann: Accurate Vorstellung der orientalisch-kayserlichen Haupt- und Residenz-Stadt Constantinopel samt ihrer Gegend: und zweven berühmten Meer-Engen,

Bosphoro, Thracio und Hellesponto oder dem Freto der Dardanellen. Nürnberg nach 1717.

 

     

PEREGRINUS IN JERUSALEM. Fremdling zu Jerusalem, Oder Ausführliche Reiß-Beschreibungen, Worinnen P. ANGELICUS MARIA MYLLER, Ordens der Diener Unser Lieben Frauen, [...] Seine fünff Haupt-Reisen, Die er in Europa, Asia und Africa Vor einigen Jahren gethan [...] richtig erzehlet. Wien und Nürnberg 1735.

 

[101] Siebentes See-Abenteuer,

nebst authentischer Lebensgeschichte eines

Partisans, der nach der Entfernung

des Barons als Sprecher auftritt.

 

Nach Endigung des vorigen Abenteuers ließ sich der Baron nicht länger halten, sondern brach wirklich auf, und verließ die Gesellschaft in der besten Laune. Doch versprach er erst die Abenteuer seines Vaters, auf die seine Zuhörer noch immer spannten, ihnen nebst manchen andern merkwürdigen Anekdoten bei der ersten besten Gelegenheit zu erzählen.

Als sich nun jedermann nach seiner Weise über die Unterhaltung herausließ, die er soeben verschafft hatte, so bemerkte einer von der Gesellschaft, ein Partisan des Barons, der ihn auf seiner Reise in die Türkei begleitet hatte, dass unweit Konstantinopel ein ungeheuer großes Geschütz befindlich sei, dessen der Baron Tott in seinen neulich herausgekommenen Denkwürdigkeiten ganz besonders erwähnet. Was er davon meldet, ist, soviel ich mich erinnere,|[102] folgendes „Die Türken hatten ohnweit der Stadt über der Zitadelle auf dem Ufer des berühmten Flusses Simois ein ungeheueres Geschütz aufgepflanzt. Dasselbe war ganz aus Kupfer gegossen und schoss eine Marmorkugel, wenigstens elfhundert Pfund an Gewicht. Ich hatte große Lust, sagt Tott, es abzufeuern, um erst aus seiner Wirkung gehörig zu urteilen. Alles Volk um mich her zitterte und bebte, weil es sich versichert hielt, dass Schloss und Stadt davon übern Haufen stürzen würden. Endlich ließ doch die Furcht ein wenig nach, und ich bekam Erlaubnis, das Geschütz abzufeuern. Es wurden nicht weniger als Dreihundert und dreißig Pfund Pulver dazu erfordert, und die Kugel wog, wie ich vorhin sagte, Elfhundert Pfund. Als der Kanonier mit dem Zünder ankam, zog sich der Haufen, der mich umgab, so weit zurück, als er konnte. Mit genauer Not überredete ich den Bassa, der aus Besorgnis herzukam, dass keine Gefahr zu besorgen sei. Selbst dem Kanonier, der es nach meiner Anweisung abfeuren sollte, klopfte vor Angst das Herz. Ich nahm meinen Platz in einer Mauerschanze hinter dem Geschütz, gab das Zeichen und fühlte einen Stoß, wie von einem Erdbeben. In einer|[103] Entfernung von dreihundert Klaftern zersprang die Kugel in drei Stücke; diese flogen über die Meerenge, prallten von dem Wasser empor an die gegenseitigen Berge, und setzten den ganzen Kanal, so breit er war, in einen Schaum.“

Dies, meine Herren, ist, soviel ich mich erinnere, Baron Totts Nachricht von der größten Kanone in der bekannten Welt. Als nun der Herr von Münchhausen und ich jene Gegend besuchten, wurde die Abfeuerung dieses ungeheueren Geschützes durch den Baron Tott uns als ein Beispiel der außerordentlichen Herzhaftigkeit dieses Herrn erzählt.

Mein Gönner, der es durchaus nicht vertragen konnte, dass ein Franzose ihm etwas zuvorgetan haben sollte, nahm ebendieses Geschütz auf seine Schulter, sprang, als ers in seine eigentliche waagrechte Lage gebracht hatte, gerades Weges ins Meer, und schwamm damit an die gegenseitige Küste. Von dort aus versuchte er unglücklicher Weise die Kanone auf ihre vorige Stelle zurück zu werfen. Ich sage, unglücklicher Weise! denn sie glitt ihm ein wenig zu früh aus der Hand, gerade als er zum Wurf ausholte. Hierdurch geschah es denn, dass sie mitten in den Kanal|[104] fiel, wo sie nun noch liegt, und wahrscheinlich bis an den jüngsten Tag liegen bleiben wird.

Dies, meine Herren, war es eigentlich womit es der Herr Baron bei dem Großsultan ganz und gar verdarb. Die Schatz-Historie, der er vorhin seine Ungnade beimaß, war längst vergessen. Denn der Großsultan hat ja genug einzunehmen, und konnte seine Schatzkammer bald wieder füllen. Auch befand der Herr Baron auf eine eigenhändige Wiedereinladung des Großsultans, sich erst jetzt zum letzten Male in der Türkei; und wäre vielleicht wohl noch da, wenn der Verlust dieses berüchtigten Geschützes den grausamen Türken nicht so aufgebracht hätte, dass er nun unwiderruflich den Befehl gab, dem Baron den Kopf abzuschlagen. Eine gewisse Sultanin aber, von welcher er ein großer Liebling geworden war, gab ihm nicht nur unverzüglich von diesem blutgierigen Vorhaben Nachricht, sondern verbarg ihn auch so lange in ihrem eigenen Gemache, als der Offizier, dem die Exekution aufgetragen war, mit seinen Helfershelfern nach ihm suchte. In der nächstfolgenden Nacht flüchteten wir an den Bord eines nach Venedig bestimmten Schiffes, welches gerade im Begriffe war|[105] unter Segel zu gehen, und kamen glücklich davon.

B1 und B2: Sechstes und letztes See-Abenteuer.

Quelle: Rudolf Erich Raspe: Gulliver revived, London 1786:

Quelle Raspes:

I have already shewn, from the description of the castles, that the immense artillery they contained, could only be of use in the defence of the channel, by disposing them to more advantage. The Simois, that so celebrated river, but which is, in fact, only a small gulley, where the rain water, forming a torrent, rushes down the mountain, and falls into the sea below the castle of Asia. This appeared to me an advantageous situation for a battery, which, serving by way of epaulement to the castle, might contain a part of its artillery, and the approaches to which would be defended by this ravine. By this disposition, I took in the side of the castle which enfiladed the channel with its battery. It was with this view that the Turks had already placed there an enormous swivel, the ball of which, made of marble, weighed eleven hundred pounds. This piece, cast in bronze, in the reign of Amurath, was composed of two parts, joined by a screw, at the separation of the chamber from the barrel, in the manner of an English pistol. The breech was supported by a mass of stone, and was only raised on great logs of wood, slanted, and disposed to that effect, under a small vaulted cover, which served as an embrasure. I could not employ this swivel in the external works, and as they were so arranged as to mask its fire, the Turks murmured at the fort of contempt with which I seemed to treat an implement of destruction, which was undoubtedly the most extraordinary in the universe. The Pacha made several remonstrances on the occasion. He agreed with me, that the difficulty of loading it, would not admit its being fired above once, in case of an attack; but he thought that single fire would do so much havock, and the ball fly so far, that, according to the general opinion, this swivel, alone, would destroy the enemyʼs whole fleet. It was easier for me to give way to this reasoning, than to overturn it; and, without changing the plan of defence, I could, by cutting down the epaulement in the direction of the piece, contrive to give it play; but I was desirous of first trying the effect of the ball. The company shuddered at this proposal; the old men assured me, from an ancient tradition, that this piece, which never had been fired, would produce such an agitation as to overturn the castle and the town. It was very probable, in fact, that some pieces of the wall might fall, but I assured them, that the Grand Signior would not regret that loss, and that the direction of the piece did not allow me to suppose that the town could suffer from the explosion. Never, doubtless, had cannon a more formidable reputation: friends, enemies, every thing was to suffer from it. It was now a month since the resolution had been taken to load this swivel, whose chamber contained three hundred and thirty pounds of powder. I sent for the mastergunner to prepare the priming; they who heard me give that order, disappeared immediately, to get out of the way of danger. The Pacha himself was preparing to retreat, and it was only by the most pressing instances, and the most accurate demonstrations, that he would run no risk in a little kiosk at the corner of the castle, from whence he might observe the effect of the ball, that I could prevail on him to occupy that post. I still had to overcome the fears of themaster-gunner; and although he was the only person that had not fled, the arguments he used to excite my compassion, did not bespeak much bravery. It was only by promising him, therefore, to share in the danger, that I succeeded in allaying his fears, rather than inspiring him with courage. I was on the heap of stones behind the piece when he fired it; a commotion similar to that of an earthquake, preceded the report. I then saw the ball, split in three pieces, at the distance of six hundred yards across the channel, rebounding frequently from the water to the opposite hill, and leaving the surface of the sea soaming the whole breadth of the channel. This proof re moved the chimerical apprehensions of the Pacha and the gunners, and convinced me of the tremendous effects of such a ball, and I ordered the epaulemet it to be cut accordingly in its direction.
MEMOIRS OF THE BARON DE TOTT, ON THE TURKS AND THE TARTARS. VOL. III. DUBLIN M,DCC,LXXXV, S. 68-71.

 

MEMOIRS OF THE BARON DE TOTT, ON THE TURKS AND THE TARTARS. Translated from the French. […] VOL. III. DUBLIN M,DCC,LXXXV.

unweit Konstantinopel: an den Dardanellen. Diese Meerenge im Mittelmeer, zwischen der Ägäis und dem Marmarameer hieß im Altertum Hellespont. Dort befindet sich das Kumkale Fort, eine Festungsanlage des ottomanischen Reichs, erbaut von 1656-59 unter Sultan Turhan. Die Befestigungsanlage liegt direkt gegenüber der Burg Sedd el Bahr Kale, auch bekannt als Eski Kale (Alte Burg), die 1659 erbaut wurde.

Baron Tott: François Baron de Tott (1733-1793) war französischer Offizier ungarischer Herkunft. 1755 reiste er als Sekretär seines Onkels Charles Gravier, Comte de Vergennes nach Konstantinopel, wo dieser als französischer Botschafter wirkte. Er lernte Türkisch und sammelte Informationen über das Khanat auf der Krim. 1763 kehrte er nach Paris zurück und wurde 1766 von der französischen Regierung in die Schweiz geschickt. 1767 wurde er zum Konsul auf der Krim ernannt, wo er die Krimtataren zum Aufstand gegen das kaiserliche Russland ermutigte. François de Tott spielte während des russisch-türkischen Krieges (1768–1774) eine wichtige Rolle als Beauftragter der osmanischen Regierung. Er reformierte das osmanische Militär und organisierte mobile Artillerie-Verbände. Nach dem Russisch-Türkischen Krieg 1770–1774 mussten die Osmanen im Frieden von Küçük Kaynarca 1774 die Unabhängigkeit der Krim anerkennen. 1783 kam die Krim durch Annexion unter mittelbare russische Herrschaft: Anschließend bereiste er das Osmanische Reich und besuchte Küstenstädte rund um das Mittelmeer, darunter Alexandria, Aleppo, Smyrna, Saloniki und Tunis. Seine Memoiren wurden in viele Sprachen übersetzt.

Simois: kleiner Fluss bei Troja (türkisch:Dümrek Çayı), der in den Scamander (türkisch: Karamenderes Çayı)  mündete. Dieser Fluss wird in der Ilias häufig erwähnt und als schneller Gebirgsbach beschrieben. Sein gegenwärtiger Verlauf ist so verändert, dass er nicht länger ein Nebenfluss des Scamander ist, sondern direkt in die Dardanellen mündet.

ein Beispiel der außerordentlichen Herzhaftigkeit: Es sei mir erlaubt zum Beschlüsse dieses Aufsatzes noch jener besondern Erscheinung der menschlichen Seele zu gedenken, die sich bei Leuten von einer sehr lebhaften Einbildungskraft schon so oft gezeigt hat, und sich in unsern Tagen bei so manchem erhitzten — auch wohl aufgeklärten Kopfe, bis diesen Augenblick zeigt — nehmlich des schwärmerischen Gefühls, welches jene Leute von einer eigenen beiwohnenden Wunderkraft zu empfinden glauben. Man kann alle menschlichen Wunderthäter der alten und neuen Geschichte in zwei Klassen theilen, in solche, die nie geglaubt haben, daß sie Wunder thun könnten; aber es doch zur Erreichung gewisser politischen oder moralischen Endzwecke vorgaben, — dieß waren geflissentliche Betrüger, — und in solche, die wirklich glaubten, daß ihnen eine Kraft Wunder zu thun wirklich mitgetheilt sei, ohne daß sie diese Kraft besaßen. Von diesen letztern Wunderthätern, die in sich eine Wunderkraft fühlten, ob sie sie gleich nicht hatten, will ich nur mit Wenigem reden.
Pockels 1785, S. 95f.

bei dem Großsultan: Abdülhamid I. (1725-1789), Sultan des Osmanischen Reiches und 106. Kalif des Islam.

Venedig: italienisch: Venezia, Stadt im Nordosten Italiens und die Hauptstadt der Region Venetien. Errichtet auf einer Gruppe von 118 kleinen Inseln, die durch Kanäle getrennt und durch über 400 Brücken verbunden sind. Im 18. Jahrhundert war Venedig die eleganteste Stadt Europas.

 

Baron de Tott und die Türken

Auf einen weiteren Primärtext, Baron de Totts Reisebericht aus der Türkei, weist ein 'Partisan' Münchhausens hin, der – wie bereits erwähnt wurde – einen zweifelhaften Leumund hat. Er bezieht sich vor allem auf Totts Erzählung von der „größten Kanone in der bekannten Welt.“ Der Partisan zitiert Tott quasi in wörtlicher Rede, die teilweise eng an den Wortlaut des 'echten' Tott angelehnt ist. (vgl. Tott, S. 293–295) Allerdings gibt es feine Unterschiede: Während in Münchhausen die Neugier Totts zum Abfeuern der Kanone führt, leugnet Tott in seinem eigenen Bericht jegliches Interesse an dem Geschütz. Die „große Lust [...] es abzufeuern“, ist dort nicht zu finden: „Es verdroß die Türken, daß ich an diesem Geschütz, welches freylich das einzige seiner Art in der ganzen Welt war, nicht viel zu machen schien, und der Pascha machte mir deshalb Vorstellungen.“ (Tott, S. 263) Der echte Tott zeigt sich nicht sehr beeindruckt von den Dimensionen der Kanone und der zugehörigen Kugel, während Tott in Münchhausen deren Größe ausdrücklich betont: „ich bekam die Erlaubnis, das Geschütz abzufeuern. Es wurden nicht weniger, als dreihundertdreißig Pfund Pulver dazu erfordert, und die Kugel wog, wie ich vorhin schon sagte, einhundert Pfund“ Hinsichtlich der Selbstdarstellung Totts und wie ihn der Partisan in Münchhausen auftreten läßt, bestehen feine, aber bedeutsame Unterschiede. So wird in Münchhausen indirekt die Frage gestellt, ob der Befehl zum Abfeuern der Kanone schon als „Beispiel der außerordentlichen Herzlichkeit dieses Herrn“ zu werten sei. In Münchhausen werden sozusagen ‚Männlichkeit‘ und ‚Nonchalance‘ Totts geschmälert, ‚Qualitäten‘, auf die schließlich Münchhausen abonniert ist.

 

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François Baron de Tott (1733-1793)

Ob mit dem Bericht des Partisanen die Glaubwürdigkeit Totts in Frage gestellt werden soll, läßt sich nur vermuten. Dies ist allerdings naheliegend, wenn ausdrücklich zweimal darauf hingewiesen wird und Münchhausen die sagenhafte Kanone später ‚versehentlich‘ abhanden kommt, was jegliche Überprüfung der Größe der Kanone ausschließt. Laut Ruttmann (Ruttmann 1969, Kommentar, S. 68) wurden die Berichte Totts teilweise für unglaubwürdig gehalten. Das bedarf jedoch der Korrektur, denn zu Bürgers Zeit wird der historische Tott keineswegs als Lügner gesehen, zumindest nicht in Göttingen, wie die Rezension seines Reiseberichts in den GGA (Göttingische Gelehrte Anzeigen) zeigt: Tott habe „als Erzähler alle Glaubwürdigkeit vor sich; seine philosophisch-politischen Einsichten, sein langer Aufenthalt unter den Türken, an die 23 Jahre, seine Lage, seine Sprachkunde, alles erweckt ihm Zutrauen.“ (Nr. 17, 31.1.1785, S. 162)

Da in Münchhausen aber ein Bild von Tott als Lügner evoziert wird, ist zu fragen, warum Tott als satirisches Opfer gewählt wurde. Diesbezüglich ist auf eine weitere ‚Kanonen-Episode‘ in Totts Bericht einzugehen. Tott berichtet von ,,eine[r] Feldschlange, welche eine 60pfündige Kugel schoß“ (Tott 1787, S. 296) und die es von ihrem Platz zu bewegen gilt. Als Tott beim Pascha Hassan um Seile und Winden ersucht, um das Problem mit den Gesetzen der Mechanik zu lösen, erntet er nur Unverständnis, da dieser auf die bloße Muskelkraft seiner Männer vertraut, was Tott sehr herablassend kommentiert: „Ich konnte nicht umhin, deshalb bey dem berühmten Hassan–Pascha Beschwerde zu fuhren. Dieser Mann war gewohnt, den guten Willen für ebenso kräftig zu hal­ten, als Kenntnisse, zu welchen ein tiefes Studium erforderlich ist. Ey, sagte er zu mir, was wollen Sie da mit Seilen und Winden? Wozu diese Mittel, so lange wir tüchtige Arme haben, die Ihnen zu Befehl sind? Zeigen Sie mir nur die Last, die Sie von der Stelle bringen wollen, und den Platz, wo sie hinkommen soll, ich will schon schaffen. Wie, sagte ich, Sie wollen eine Kanone, die über 70 Centner wiegt, unter dem Arm davontragen lassen? Wenn's seyn muß, sagte er sehr feurig, fünf­hundert. Was kommt es da auf die Anzahl an. Wenn nur geschieht, was geschehen soll! Ich sehe nun wohl, sagte ich zum dabeystehenden Pascha, daß der wackere Hassan mit Unmöglichkeiten nicht bekannt ist.“ (Tott 1787, S. 296f.)

Münchhausen wählt mit seinem Kraftakt die vom Pascha Hassan vorgeschlagene Möglichkeit zum Transport der Kanone und straft Totts Arroganz noch dadurch, daß er ein ungleich schwereres Geschütz nicht nur „unter dem Arm“ (Tott 1787, S. 297) davonträgt, sondern daß er damit sogar Wurfübungen veranstaltet. So berichtet der Partisan: „Mein Gönner [...] nahm ebendieses Geschütz auf seine Schulter, sprang [...] geradewegs ins Meer, und schwamm damit an die gegenseitige Küste. Von dort aus versuchte er unglücklicherweise die Kanone auf ihre vorige Stelle zurückzuwerfen. Ich sage unglücklicherweise! denn sie glitt ihm ein wenig zu früh aus der Hand, gerade daß er zum Wurf ausholte. Hierdurch geschah es, daß sie mitten in den Kanal fiel, wo sie nun noch liegt, und wahrscheinlich bis an den Jüngsten Tag liegenbleiben wird.“

Liest man die ‚Kanonenepisode‘ in Münchhausen als satirische Replik auf Totts zur Schau gestellte Arroganz bezüglich der technischen Unwissenheit der Türken, kann das den Leser für Totts generelle ‚Kulturarroganz‘ sensibilisieren. In Totts Bericht wird nämlich geradezu penetrant ein kultureller, wirtschaftlicher und technischer Führungsanspruch West-Europas gegenüber den Türken zum Ausdruck gebracht, die auch sein Herausgeber Peysonnel teilt: “Je mehr ich ihren Verstand und ihre Fähigkeiten zu allen Wissenschaften kenne, desto mehr muß ich es ihnen verargen, daß sie aller Mittel ungeachtet, die ihnen ihre Freunde anboten, um mehr Kenntnisse zu erlangen, oder die ihrigen zu vervoll­kommnen, nicht gleichen Schritt mit den Europäern gehalten, sondern um zwey Jahrhunderte zurückgeblieben sind.“ (Peysonnel, in: Tott 1787, S. 10)

Bei Tott findet sich ein Sammelsurium unbegründeter Vorurteile über die Türken, wenn er beispielsweise von der „Rachsucht, zu welcher die Türken von Natur aus geneigt sind“, berichtet. (Tott 1787, S. 213) Auch Münchhausen bezeichnet den Sultan als „grausamen Türken“, wobei dies allerdings eher als Spiel mit dem Klischee vom rachsüchtigen Türken zu verstehen ist, denn z.B. im sechsten Seeabenteuer wird der Großsultan keineswegs als ungehobelter Barbar, sondern als Herrscher mit sehr guten Umgangsformen dargestellt, der „unter allen Potentaten auf Erden den delikatesten Tisch führet.“ Der Sultan wird in Münchhausen auch als Person vorgestellt, die durchaus Widerspruch duldet, ohne daß dies gleich das Abschlagen des Kopfes zur Folge hätte. Eine derartige Strafe wird in Münchhausen nicht vom Sultan als Strafe angedroht, sondern von Münchhausen selbst als Wetteinsatz vorgeschlagen: „Erfülle ich nicht mein Wort [...], so lassen Ihro Hoheit mir den Kopf abschlagen.“

Weiterhin ist zu erwähnen, daß der angebliche starke Alkoholgenuß der Türken, den Tott im Kapitel Weinschenken in Konstantinopel (Tott 1787, S.216ff.) 'darstellt', in Münchhausen auf ein gepflegtes Maß beschränkt bleibt, „weiß [doch] mancher Türk' so gut als der beste deutsche Prälat, wie ein gutes Glas Wein schmeckt.“ Bezüglich der Vorurteile Totts gegenüber den Türken wären noch kurz auf Totts Ausführungen zum Getreidemonopol des Sultans einzugehen:

„Hiervon sind unvermeidliche Folgen: das Verbot der Getreideausfuhr; die Scheltungen der dem Verbot entgegen handelnden Beamten; das Verderben des in den Magazinen aufgeschütteten und übelgewarteten Korns; öfters eine ungesunde Nahrung; und zuletzt Hungersnoth.“ (Tott 1787, S.25)

Wenn das von Tott als spezifisch 'türkisch' dargestellt wird, ist auf zwei Episoden in Münchhausen hinzuweisen, in denen von ähnlichen Praktiken berichtet wird. Kurz nach dem zweiten Aufenthalt in der Türkei befindet sich Münchhausen in London, wo er die Wuchergeschäfte eines Pächters erwähnt, der sein Heu mit „übermäßigen Profite“ verkauft. (Fortgesetzte Erzählung des Freiherrn.) Ganz Ähnliches weiß Münchhausen in seiner Geschichte vom tyrannischen ‚Kaziken‘ (Erstes See-Abenteuer) zu berichten: „In seinen Vorratshäusern verfaulten die Lebensmittel, während seine Unterthanen, denen sie abgepreßt waren, vorHunger verschmachteten.“ Laut Münchhauen ist also derartiges Verhalten keineswegs auf bestimmte Länder begrenzt, sondern ein generell weitverbreitetes Phänomen.

Mit Blick auf den mit Vorurteilen und Klischees beladenen Text Totts ist es erstaunlich, daß man in den GGA Tott vertraute. Dort ist zu lesen, daß er das Ziel verfolge, „verschiedenen Vorurtheilen, welche man über die Türken hat, zu begegnen“, was offenbar darauf zurückzuführen ist, daß der Rezensent Totts Arroganz gegenüber der Kultur der Türken teilt: „Selbst in den Religionsübungen, im Fasten, macht man sich von der Strenge und Gewissenhaftigkeit einen viel zu hohen Begriff. Alles das kömmt freylich mit dem, was man sich von der Hauptstadt eines im Grund verdorbnen despotischen Staats, bey einem solchen Hof, bey einer solchen Religion, bey solcher Unwissenheit und Rohheit denken kann, besser überein, als die vielen schönen Sachen, welche von ändern erzählt worden sind.“ (Nr. 17, 31.1.1785, S. 163/166)
Kämmerer 1999, S. 163ff.

 

Tafel in welcher alle gehörige Werck-zeuge zur Kriegs-Kunst Verstungsbau und Artillerie, zur Belagerung der Stæte Vestungen und Schlösser in Feld-Schlachten Heer-Lager und Lager Plätzen auch allerley Schiff und See-Materialien vorgestelt werden, edirt von Iohann Baptista Homann. Nürnberg 1729. Homann, Johann Baptist [Hrsg.]: Atlas novus terrarum orbis imperia regna et status exactis tabulis geographice demonstrans. Nürnberg, [ca. 1729].

 

R5, p. 131

 

Canaletto: Piazzetta 1740, Öl auf Leinwand. Galleria Nazionale d'Arte Antica, Venezia

 

Dieser Begebenheit erwähnt der Baron nicht gern, weil ihm da sein Versuch misslang, und er noch dazu um ein Haar sein Leben oben drein verloren hätte. Da sie gleichwohl ganz und gar nicht zu seiner Schande gereicht, so pflege ich sie wohl bisweilen hinter seinem Rücken zu erzählen.

 

*   *   *

 

Nun, meine Herren, kennen Sie insgesamt den Herrn Baron von Münchhausen und werden hoffentlich an seiner Wahrhaftigkeit im mindesten nicht zweifeln. Damit Ihnen aber auch kein Zweifel gegen die meinige zu Kopfe steige, ein Umstand, den ich so schlechtweg eben nicht voraussetzen mag, so muss ich Ihnen doch ein wenig sagen, wer ich bin.

Mein Vater, oder wenigstens derjenige, welcher dafür gehalten wurde, war von Geburt ein Schweizer, aus Bern. Er führte daselbst eine Art von Oberaufsicht über Straßen, Alleen, Gassen und Brücken. Diese Beamten heißen dort zu Lande – hm! – Gassenkehrer. Meine Mutter war aus den|[106] Savoyischen Gebirgen gebürtig, und trug einen überaus schönen großen Kropf am Halse, der bei den Damen jener Gegend etwas sehr Gewöhnliches ist. Sie verließ ihre Eltern sehr jung, und ging ihrem Glücke in ebender Stadt nach, wo mein Vater das Licht der Welt erblickt hatte. Solange sie noch ledig war, gewann sie ihren Unterhalt durch allerlei Liebeswerke an unserm Geschlechte. Denn man weiß, dass sie es niemals abschlug, wenn man sie um eine Gefälligkeit ansprach, und besonders ihr mit gehöriger Höflichkeit in der Hand zuvorkam. Dieses liebenswürdige Paar begegnete einander von ohngefähr auf der Straße, und da sie beiderseits ein wenig berauscht waren, so taumelten sie gegeneinander und taumelten sich alle beide über den Haufen. Wie sich nun bei dieser Gelegenheit ein Teil immer noch unnützer machte als der andere, und das Ding zu laut wurde, so wurden sie alle beide erst in die Scharwache, hernach aber in das Zuchthaus geschleppt. Hier sahen sie bald die Torheit ihrer Zänkerei ein, machten alles wieder gut, verliebten sich und heuerateten einander. Da aber meine Mutter zu ihren alten Streichen zurückkehrte, so trennte mein Vater, der gar hohe Begriffe von Ehre hatte, sich ziemlich bald|[107] von ihr, und wies ihr die Revenüen von einem Tragkorbe zu ihrem künftigen Unterhalte an. Sie vereinigte sich hierauf mit einer Gesellschaft, die mit einem Puppenspiel umherzog. Mit der Zeit führte sie das Schicksal nach Rom, wo sie eine Auster-Bude hielt.

Quelle: Rudolf Erich Raspe: Gulliver revived, London 1786:

Bern: Seit 1218 Freie Reichsstadt in der Schweiz.

Gassenkehrer: Gassenkehrer ist ein historischer Beruf. Ebenso Bachfeger galten wie die Abdecker als anrüchig, da sie nebst dem Unrat gelegentlich auch die Kadaver von Hunden, Katzen oder anderem Kleinvieh fortschaffen mussten. Im physischen Sinn „anrüchig“ war ebenso ihr Umgang mit den Fäkalien. Abtritt- und Heimlichkeitsfeger, Kloakenentleerer aber auch Scharfrichter und Abdecker mussten die Abtritte leeren. Allesamt galten diese Funktionen als unehrliche Berufe, die am Rande der ständischen Gesellschaft angesiedelt waren.

 

Insasse des Schallenhauses bei der Strassenreinigung, Bern um 1780.

aus den Savoyischen Gebirgen: Die Savoyer Alpen sind Teil der Westalpen, südlich des Genfersees in der historischen Landschaft Savoyen.

 

Frauen mit Kropf. Holzschnitt von Hans Weiditz aus dem Jahre 1521.

Kropf: Die Kretinen oder Cretins, eine Art Menschen in den Thälern des Walliserlandes in der Schweiz und einigen Districten von Savoyen, die an körperlicher und geistiger Bildung außerordentlich vernachlässigt sind. Sie sind sehr zahlreich, und begreifen mehrere tausende von Familien. Ihre charakteristischen Zeichen sind ein dicker, unförmlicher, oben platter Kopf mit plump gebauten Knochen, röthliche Augen, ein großer herabhängender Kropf und übrigens ein unansehnlicher Körperbau. Dazu kommt noch eine gänzliche Geistesschwäche und Fühllosigkeit, begleitet von einer Trägheit, Gefräßigkeit, Wollust und Unreinlichkeit, die ihres Gleichen sucht. Dieses Uebel, welches man Kretinismus nennt, wird zwar außer jenen Gegenden nicht angetroffen, pflanzt sich aber daselbst von Generation zu Generation fort, und erzeugt sich auch bei Kindern, deren Aeltern keine Kretinen waren.
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 2. Amsterdam 1809, S. 330-331.

 

Cretinnen aus Steiermark, 1819, nach einer Zeichnung von Loder, gestochen von Leopold Müller. Wien 1819.

Allerlei Liebeswerke: Prostitution

Scharwache: Aus mehreren Personen (z.B. einer Schar von Stadtbürgern) bestehende umgehende Wache. Mehrere solcher Scharen versahen den Wachdienst abwechselnd nach festgelegtem Turnus.

Zuchthaus: Das Schallenhaus war das erste Gefängnis in der Schweiz. Es befand sich am Bollwerk in der Stadt Bern und war seit 1615 in Betrieb. Der im Schallenhaus verfolgte Ansatz, Straftäter und vagabundierende Arme durch Arbeit und religiöse Unterweisung zu bessern, lehnte sich an damals in England, den Niederlanden und in Strassburg neu eingerichtete Vorbilder an und reagierte auf die in der Bevölkerung zunehmende Kritik gegenüber der Todesstrafe.
Wikipedia

Revenüen: Einkommen, Einkünfte

Tragkorbe: Die Kiepe diente früher zum Transport von Hausierwaren, Heu, Holz, Kienäpfeln und anderen Stoffen oder Gegenständen.

Puppenspiel: Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts führten die wandernden Puppenspieler ein armseliges Leben, standen auf einer Stufe mit Marktschreiern, Betrügern und Bettlern und wurden allgemein verachtet. Das lag nur zum Teil daran, dass gescheiterte Existenzen und abgemusterte Soldaten aus purer Not zu diesem Broterwerb griffen, vielmehr hat die Obrigkeit viel dazu beigetragen, die Puppenspieler in Misskredit zu bringen, indem sie überall vertrieben, entrechtet und ehrlos zuletzt die Vorurteile bestätigen, die ihnen als „Fahrendes Volk” von den ehrbaren Bürgern entgegengebracht wurden.

 

Puppenspielszene aus dem 18. Jahrhundert mit Pulcinella. Radierung um 1770.

Auster-Bude: Verkaufstand an der Straße

 

Der Partisan

Der als „Partisan“ bezeichnete Herr ist ein Vertrauter des Baron von Münchhausen. Da er „der ihn auf seiner letzten Reise in die Türkei begleitet hatte“, kann man vermuten, dass er als Soldat in der von Münchhausen befehligten Einheit gedient hat, also im Kürassierregiment des Prinzen Anton Ulrich. Der Leser erfährt erst dann von seiner Anwesenheit, als der Baron die Gesellschaft verlässt und der andere die Erzählung seiner Abenteuer fortsetzt. Zunächst erzählt er von der Kanone des Generals Tott, dessen Aufschneider-Geschichte der Baron noch übertrumpft. Danach stellt er sich als Person vor: „Der Partisan gibt Nachricht von seiner eigenen Herkunft, mit einigen Anekdoten, worüber sich der geneigte Leser nicht wenig verwundern wird.“

Die nun folgende Geschichte von der Herkunft des Partisans erfüllt in der Erzählung eine formale Funktion. Zu Beginn des Sechsten See-Abenteuers heißt es: „Nach Endigung der ägyptischen Reisegeschichte wollte der Baron aufbrechen, und zu Bette gehen, gerade als die erschlaffende Aufmerksamkeit jedes Zuhörers bei Erwähnung des großherrlichen Harems in neue Spannung geriet. Sie hätten gar zu gern noch etwas von dem Harem gehört.“ Diese Bitte schlägt der Baron brüsk aus: „Mit meinen Liebes-Abenteuern pflege ich nie groß zu tun, daher wünsche ich Ihnen, meine Herren, jetzt insgesamt eine angenehme Ruhe.“

Die Lebensgeschichte, die der Begleiter des Barons seinen Zuhörern vorträgt, ist der Autobiographie des derb-komischen Hanswurst nachgebildet, die dieser in den deutschsprachigen Stegreifkomödie und in vielen Stücken des Jahrmarktstheaters und der Wander- und Marionettenbühnen seit dem 16. Jahrhundert als Prolog deklamiert. Es stellt sich auf diese Weise dem Publikum vor. Hanswurst stammt aus dem bäuerlichen Milieu; Vater und Mutter haben einen zweifelhaften Ruf. Seine Sprache ist volkstümlich-derb; Hanswurst bedient sich einer vulgären Ausdrucksweise, wenn er Sexuelles und Fäkales beschreibt. Der Diener parodiert seinen Herrn, in dem er dessen hohes Pathos mit seinen niederen Lüsten konfrontiert; ihn zeichnen Fresssucht, Sauflust und ungebremste Sexualität aus.

Schon in früheren Jahrhunderten stand im Mittelpunkt des Theater- und Puppenspiels für das einfache Volk eine lustige Person, die in der Sprache der Zuschauer Missstände kritisierte. Das geschah in einer an Fäkal- und Sexualausdrücken reichen Sprache, die vom Publikum auf dem Markt akzeptiert wurde, weil sich hinter der Dummdreistigkeit des Hans Wurst die Gestalt des Verweigerers und Kritikers der starren feudalen Gesellschaftsordnung verbarg. Scheinbar einfältig aber voller Bauernschläue nimmt er wie sein Vetter Till Eulenspiegel die Aufforderungen und Befehle wörtlich und schafft durch Verdrehung des Wortsinns Unordnung und Verwirrung. Stets nur auf die Befriedigung sinnlicher Triebe bedacht, ist er verfressen, faul, oft betrunken, im Ganzen ein Gemütsmensch, der am liebsten in Ruhe gelassen werden will. Doch in allen Stücken kommt die Bedrohung von außen: Ob Tod, Teufel oder ein Soldat irgendeines Heeres, der Hans Wurst weiß sie alle unter deftigen Flüchen mit seiner Pritsche zu vertreiben und geht stets siegreich aus dem Kampf gegen Gefahren und Mächte dieser Welt hervor.

Münchhausens Partisan übernimmt hier die Rolle des Hanswurstes und kopiert dessen Dienerrolle im Spiel der Puppen-Bühne, bei der seine Mutter eine Zeit lang mitgezogen ist. Er ergänzt die Liebesabenteuer seines Herrn, die dieser nur andeutet und nicht gerne von Einzelheiten erzählen möchte. Was Münchhausen seinen Zuhörern von seinem Abenteuer mit Venus in der Werkstatt des Vulkans, mit einer der Frauen im Harem des Sultans und (bei Raspe) zu Beginn des Ritts auf einem Seepferd in den Armen von Thetis, der Tochter Neptuns, vorenthält, erfahren sie nun vom Partisan in der drastischen Erzählung von der Austernnacht, in der er von einem leibhaftigen Papst gezeugt wird.

 

Sie haben ohnstreitig insgesamt von dem Papst Ganganelli oder Clemens XIV., und wie gern dieser Herr Austern aß, gehört. Eines Freitags, als derselbe in großem Pompe nach der St. Peterskirche zur hohen Messe durch die Stadt zog, sah er meiner Mutter Austern (welche, wie sie mir oft erzählt hat, ausnehmend schön und frisch waren) und konnte unmöglich vorüberziehen, ohne sie zu versuchen. Nun waren zwar mehr als fünftausend Personen in seinem Gefolge; nichts destoweniger aber ließ er sogleich alles stillhalten, und in die Kirche sagen, er könnte vor morgen das Hochamt nicht halten. Sodann sprang er vom Pferde – denn die Päpste reiten allemal bei solchen Gelegenheiten –, ging in meiner Mutter Laden, aß erst alles auf, was von Austern daselbst vorhanden war, und stieg hernach mit ihr in den Keller hinab, wo sie|[108] noch mehr hatte. Dieses unterirdische Gemach war meiner Mutter Küche, Visitenstube und Schlafkammer zugleich. Hier gefiel es ihm so wohl, dass er alle seine Begleiter fortschickte. Kurz, Seine Heiligkeit brachten die ganze Nacht dort mit meiner Mutter zu. Ehe Dieselben am andern Morgen wieder fortgingen, erteilten Sie ihr vollkommenen Ablass, nicht allein für jede Sünde, die sie schon auf sich hatte, sondern auch für alle diejenigen, womit sie sich etwa künftig noch zu befassen Lust haben möchte.

Nun, meine Herren, habe ich darauf das Ehrenwort meiner Mutter –- und wer könnte wohl eine solche Ehre bezweifeln? – dass ich die Frucht jener Austernacht bin.

 

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Quelle: Rudolf Erich Raspe: Gulliver revived, London 1786:

Papst Ganganelli: Clemens XIV. (1705-1774) war von 1769 bis 1774 Papst.

 

Papst Clemens XIV. (1705-1774)

St. Peterskirche: Die Basilika Sankt Peter im Vatikan in Rom, im deutschsprachigen Raum wegen ihrer Größe und Bedeutung gemeinhin meist Petersdom genannt, ist die Memorialkirche des Apostels Simon Petrus. Sie ist auf dem Territorium des unabhängigen Staates der Vatikanstadt gelegen und eine der sieben Pilgerkirchen von Rom.
Wikipedia

 

Giovanni Battista Piranesi: Veduta dell insigne Basilica Vaticana, Kupferstich 1775.

Austern aß: Von Papst Clemens XIV. wurde erzählt, dass er ein bescheidenes, tugendhaftes Leben geführt und einfach gegessen habe.

Seine Abendmahlzeitbestand in vier kleinen Stücken Brot, worauf zur Ersparung der Kosten Fleischbrühe gegossen wurde, die des Morgens übrig geblieben war, in vier kleinen Vögeln, wie des Mittags, und statt der Früchte zuweilen in einem Salate; allemahl aber speisete er Fenchel.
Briefe Papst Clemens XIV. (Ganganelli.) Nebst einigen Reden, Abhandlungen und andren wichtigen Aufsätzen dieses Papstes, auch einigen Anekdoten von seinem häuslichen Leben. Vierter Theil. Leipzig 1777, S. 165.

 

R3, p. 136

Raspes Zeichnung steigert den Text. Der Reiter spreizt den rechten Fuß ab, der unbekleidet ist, während der übrige Körper im prächtigsten Ornat steckt. Es ist zweifellos ein Verweis auf die Proskynesis, auf den zum Kuss für die Gläubigen dargebotenen rechten Fuß der bronzenen Statue des thronenden Hl. Petrus im Petersdom, dessen Tambour und Kuppel am rechten Bildrand zu sehen sind. Das Pferd imitiert mit dem rechten Vorderhuf die Bewegung des Reiters und gibt mit dem Kratzfuß eine erotische Note hinzu. Zum lasziven Spiel gehört das kesse Aufsetzen der zierlichen linken Hufspitze, die mit dem vorgesetzten linken Fuß der Frau korrespondiert. Frivol legt die Frau mit entblößter Brust in dem Augenblick, den das Bild vorführt, eine Auster in die Hand des Pontifex Maximus. Die unmissverständliche Bedeutung der Meeresfrucht macht uns zu Augenzeugen, wie sich die Frau dem Heiligen Vater hingibt. Subtil tritt Zweifel an der Absolution in Erscheinung. Hinter der Frau stehen Männer mit Kruzifixen; neben Christus und einem Schächer fehlt der zweite – die Frau könnte Kandidatin für ein drittes Kreuz sein.

Warum Bürgers Illustrator Ernst Ludwig Riepenhausen das Papst-Bild nicht von Raspe übernommen hat wie die meisten anderen, ist nicht bekannt.
Wiebel 2008, S. 66f.

 

Jan Steen, Mädchen beim Austernessen, um 1658–1660, 15 x 20 cm (Mauritshuis, Den Haag).

 

 

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