Caroline von Plechow      oder    Die Verfolgung von Wilhelmshaven nach Kopenhagen

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10 Die Befreiung

 

Nach der glücklichen Rückkehr wurde auf der >Saint Michel< erneut Kriegsrat gehalten. Zunächst aber mussten die Gefährten ausführlich von ihren Abenteuern berichten. Herr May versuchte dabei, seine Leistungen besonders in den Vordergrund zu stellen und entwickelte eine außerordentliche Phantasie. Die Zurückgebliebenen waren enttäuscht, dass keine Nachricht von Fräulein Caroline vermeldet werden konnte, besonders Leutnant von Rochow bedauerte diesen Umstand, ja er bestand darauf, erneut in das Speicherhaus einzudringen, um sich Klarheit über den Verbleib des Mädchens zu beschaffen.

Nun wurden auch andere Vorschläge unterbreitet, wie man schnell zu einer Befreiung des armen Mädchens gelangen konnte. Schwedenow behielt auch hier die Übersicht und drang darauf, einen gut durchdachten Schlachtplan zu entwerfen. Über jene schändlichen Absichten der Verbrecher, von der er bei seiner nächtlichen Lauschaktion Kenntnis gewonnen hatte, schwieg er allerdings, um den Leutnant von übereilten Aktionen abzuhalten. Freilich war er sich bewusst, dass schnell gehandelt werden musste, wenn man nicht riskieren wollte, dass dem armen, hilflosen Geschöpf noch mehr Gewalt angetan werden sollte.

Nach langem Hin und Her einigte man sich folgendermaßen vorzugehen: Zunächst wollte man die >La Gaviota< rund um die Uhr beobachten, damit die erwartete Ankunft der Polenmädchen auch rechtzeitig bekannt würde. Denn man wollte und konnte diese armen Geschöpfe nicht ihrem elenden Schicksal überlassen, das verbot schon die geringste Regung der Menschlichkeit. Für die Organisation dieses Teils der Arbeit boten sich Jules und Paul Verne an, die gemeinsam mit den Leuten ihrer Schiffsmannschaft einen Überwachungs- und Meldedienst einteilten, der sicherstellte, dass den Freunden keine Bewegung auf dem Schiff der Verbrecher unbekannt bleiben würde. Man beschloss, die >La Gaviota< von der Kaiseite her zu beobachten, dabei aber auch mögliche Versuche im Auge zu behalten, sich von der Wasserseite her dem Segler zu nähern.

 

 

Die Beobachtung des Packhauses übernahm der Leutnant, wurde aber noch einmal nachdrücklich von Schwedenow ermahnt, sich zu keiner unüberlegten Handlung hinreißen zu lassen, was von Rochow auch versprach. May bat so lange, er möge mitgehen dürfen, bis alle dem zustimmten. Schwedenow fiel diese Entscheidung umso leichter, als er bei ihrem nächtlichen Abenteuer hatte feststellen können, dass der kleine Sachse mit sehr viel mehr Umsicht zu Werke gegangen war als zuvor in Kiel.

Beide erhielten ein Boot mit zwei Mann von der Besatzung zur Begleitung, damit sie ihre Position vom Wasser her ansteuern konnten. Das Gewimmel der kleineren und größeren Schiffe in dem entsprechenden Hafenbecken ließ eine unauffällige Observierung auch am Tage durchaus zu.

Schwedenow selber wollte am nächsten Vormittag erneut versuchen, sich der Unterstützung durch eine Regierungsbehörde zu versichern; welchen Weg er dabei einschlagen wollte, verriet er an diesem Abend nicht.

Nach einem schnellen Imbiss – für ausgedehnte Mahlzeiten war in dieser angespannten Situation niemand zu haben, wofür Arago allerdings überhaupt kein Verständnis aufzubringen vermochte: „Gut Essen kann man immer!“ behauptete er, – begaben sich die Beobachtungskommandos auf ihre Posten, während die auf der >Saint Michel< Zurückgebliebenen die Zeit totzuschlagen versuchten. So dämmerte der Morgen, ohne dass irgendein Ereignis eingetreten wäre, das zu rascher Handlung hätte Anlass geben können.

Schwedenow begab sich am frühen Vormittag zum Ministerium für das Auswärtige und ließ sich bei jenem ihm persönlich bekannten Legationsrat Vestrup melden; es war derselbe, der ihnen bereits nach der Festsetzung durch den Marineoffizier zur Freiheit verholfen hatte. Sehr zu seiner Erleichterung war der entschlossene, vorurteilsfreie Beamte sofort bereit, seinen Minister persönlich anzusprechen. So konnte Schwedenow noch am Nachmittag desselben Tages dem Minister für das Auswärtige seine Angelegenheit vortragen. Dieser tatkräftige und entschiedene Mann versprach, sich der Sache selbst anzunehmen und zeigte sich entschlossen, auch den von Schwedenow vermuteten persönlichen Verstrickungen zwischen einigen höheren Kreisen der Admiralität und den Verbrechern nachzugehen.

Der Minister ließ sofort den deutschen Geschäftsträger einbestellen, der nach wenigen Minuten äußerst überrascht zu dieser jeder diplomatischen Etikette widersprechenden Runde stieß. Der dänische Außenminister wischte sämtliche Bedenken durch seine geradlinige, fordernde Art vom Tisch, und so sah sich der Deutsche Geschäftsträger genötigt, in einer für sein Verständnis völlig undiplomatischen Direktheit seine Kenntnisse an so hohe Stelle weiterzugeben.

Danach gab es in Kopenhagen einen Kreis höherer Offiziere, zu denen auch der Hafenkommandant zählte, die – gegen entsprechende Gefälligkeiten selbstverständlich – die schmutzigen Geschäfte der Mädchenhändler in der Dänischen Metropole duldeten und ihre Ämter missbrauchten, um Warnungen an die Unterwelt weiterzugeben, falls ein Zugriff durch die Polizei- oder Zollbehörden zu erwarten war. Der Geschäftsträger erwähnte auch, dass nach seinen Informationen erhebliche Summen als Bestechungsgelder geflossen sein mussten.

Sehr schnell fügte sich nun aus den einzelnen Fakten ein Gesamtbild von Verbrechen und Verstrickung, so dass nach einer knappen Stunde keiner der Anwesenden mehr überrascht war, als der Minister entschlossen aufstand und erklärte, er werde die Angelegenheit bei der nächsten Sitzung des geheimen Staatsrates, der unter dem Vorsitze des Königs morgen früh tagen sollte, persönlich vortragen. Zuvor wolle er aber seine Kenntnisse mit dem Minister für Inneres abklären, der ohne Zweifel die nun zu erwartende Aktion persönlich leiten werde.

Schwedenow erbat Zurückhaltung von Seiten der dänischen Sicherheitskräfte, bis der Aufenthaltsort der entführten deutschen Mädchen und ihre augenblickliche Lage genauer bekannt seien, und der Minister versprach, seinem Kollegen von vorschnellen Aktionen abzuraten, durch die Leib und Leben der Opfer gefährdet werden könnten.

 

Als Schwedenow zur >Saint Michel< zurückkehrte, war es bereits Abend, und man war in Sorge wegen seines langen Ausbleibens. Der kurze Bericht des Grafen beruhigte aber alle. Von der >La Gaviota< gab es keine Neuigkeiten zu berichten, und auch um das Packhaus herum hatte sich nichts Verdächtiges ereignet.

Kurz vor Einbruch der Dämmerung kam ein Dänischer Offizier auf die >Saint Michel< und stellte sich als Verbindungsoffizier vor, der die nötigen Kontakte zwischen einem gerade gebildeten Einsatzkommando und der Schiffsbesatzung herstellen sollte. Von ihm erfuhren die Männer, dass die entsprechenden Hafenbereiche großräumig von Militär besetzt worden waren, dass aber vor Morgen mit keiner Aktion zu rechnen sei. Hundertzwanzig gut ausgerüsteter Soldaten hatten Posten unmittelbar in der Nähe der >La Gaviota< und im Umkreis um das Packhaus bezogen, von dem nur ein paar Schritte entfernt das Hauptquartier für diese Aktion eingerichtet worden war. Auch hatte man dafür gesorgt, dass die Hafenausfahrt jederzeit gesperrt werden konnte.

Schwedenow informierte den dänischen Offizier über die Beobachtungsaktionen und unterrichtete ihn über die nötigen Einzelheiten, die er und seine Leute über die Örtlichkeiten in den letzten Stunden in Erfahrung hatten bringen können.

Am späten Abend meldeten die Beobachter Bewegung am Packhaus; offenbar waren die erwarteten polnischen Mädchen eingetroffen und wurden in ihr neues Gefängnis gebracht.

Schwedenow hielt ein Zuschlagen in diesem Moment für günstig und dringend geboten, doch der dänische Offizier erklärte, seine Leute hätten lediglich Beobachtungsposten bezogen, und vor dem morgigen Mittag sei kaum ein Einsatzbefehl zu erwarten.

„Dann kann es bereits zu spät sein!“ rief Schwedenow und verlor für einen Moment seine Beherrschung. „Ich verfüge über sichere Informationen, dass die Schurken beabsichtigen, einigen ihrer Opfer noch heute Nacht Gewalt anzutun!“

Der Däne zuckte nur mit den Schultern, dann verabschiedete er sich und versprach, am nächsten Morgen mit den neuesten Informationen wiederzukommen.

So war man wieder zur Untätigkeit verurteilt, obwohl alle auf eine schnelle Entscheidung brannten.

Die Männer saßen schweigend unter Deck; es war der Leutnant, der die Stille unterbrach. „Wir sollten jetzt eine Aktion zur Befreiung der Mädchen unternehmen! Was ist, wenn man die armen Frauen Gewalt antut?“

Die anderen schwiegen. Schwedenow blickte den Leutnant minutenlang ins Gesicht. In ihm arbeite es. „Sie haben Recht, von Rochow. Jetzt ist der günstigste Zeitpunkt.“

Der Leutnant sprang auf. „Worauf warten wir noch? Ich schlage folgende Aktion vor: Wir dringen mit ein paar Männern ins Innere des Packhauses ein, überwältigen die Leute, die dort Wache halten und befreien Fräulein Caroline und die anderen Mädchen.“

Schwedenow widersprach nun nicht mehr; „vielleicht haben wir es nur noch mit Dethmann und Landola zu tun“, sagte er.

„Wieso sind Sie sich da so sicher?“ fragte May. „Könnten nicht weitere Wächter bei den Mädchen sitzen?“

„Das ist nach dem, was ich von den beiden gestern erlauscht habe, mehr als unwahrscheinlich. Sie haben gewiss gute Gründe, dass sie heute Nacht allein den Wachposten darin abgeben wollen.“

In Leutnant von Rochow stieg ein schrecklicher Verdacht auf und er drängte auf eine sofortige Aktion.

„Und wenn sich doch mehrere von der Bande im Inneren des Verstecks aufhalten?“ fragte Paul. „Könnten unsere Männer nicht Gefahr laufen, ihrerseits von den Verbrechern überwältigt zu werden?“

„Das müssen wir riskieren; aber auch dann kann unsere Aktion erfolgreich beendet werden. Wir werden nämlich den Dänischen Verbindungsoffizier über unsere Aktion informieren.“

„Und wenn er sie dann verhindern will?“

„Wir sagen den Dänen erst dann Bescheid, wenn sich unsere Männer bereits in das Speichergebäude eingedrungen sind“, entschied der Graf. „Sobald wir die Wachen unschädlich gemacht und die Mädchen gefunden haben, geben wir ein Signal, und das Dänische Militär muss die Verbrecher auf der >La Gaviota< dingfest machen, Einsatzbefehl hin, Einsatzbefehl her.“

„Wer geht mit in den Speicher?“ fragte May.

„Von Rochow, fünf Mann der Besatzung und ich!“ bestimmte der Graf. Auf weitere Diskussionen mit dem Redakteur, der unbedingt an dem Abenteuer teilnehmen wollte, ließ er sich nicht ein.

„Sie und Paul Verne melden genau eine halbe Stunde nach unserem Eindringen in das Gebäude die Aktion dem Verbindungsoffizier der Dänen. Sie finden ihn in unmittelbarer Nähe des Packhauses in seinem Hauptquartier. Wir werden direkt nach der erfolgten Befreiung der Mädchen eine Luke aufstoßen und einen Schuss abgeben. Das wird die Dänen dann zum Handeln zwingen.“

Mittlerweile hatte der Beobachtungsposten gemeldet, die Schute, mit der vermutlich die polnischen Mädchen ins Versteck innerhalb des Packhauses gebracht worden waren, sei zu einem anderen Schiff zurückgekehrt.

Schwedenow wählte fünf Männer von der Besatzung aus, die mit kurzen Schlagstöcken bewaffnet waren. Er selber hatte einen Revolver hervorgeholt, den er wasserdicht verpackte, um damit das verabredete Zeichen geben zu können.

Die Männer verglichen die Uhren. In etwa einer Stunde würde die Sonne aufgehen. May und Paul Verne sollten sich in genau einer halben Stunde auf den Weg zu den Dänen machen. Schwedenow hatte berechnet, dass – wenn alles gut ging – seine Männer und er das Befreiungswerk bereits vollbracht haben müssten.

Dann ruderte das kleine Prisenkommando los. Sie fanden den Kanaleingang genauso vor, wie in der vorigen Nacht. Nachdem die sieben Männer das Boot verlassen hatten, ließ der Graf die anderen hier warten, bis er die Lage hinter dem Tor sondiert hatte.

Geplant war, dass die Männer nacheinander unter dem ersten Tor durchtauchen und dann durch den Seitenkanal in das Gebäude eindringen sollten. Hier wurde die Sache schwierig, denn niemand wusste, wie viele Verbrecher sich im Inneren des Gebäudes aufhielten. Schwedenow hoffte, dass nur Dethmann dort Wache hielt. Er hatte den Männern bereits vorher genau erklärt, auf welche Weise sie durch den Kanal schwimmen und wie sie in jenem Becken auftauchen sollten.

Aber dieser Weg musste diesmal gar nicht gewählt werden. Als Schwedenow nämlich unter dem ersten Holztor hindurch getaucht war, gewahrte er einen schwachen Lichtschein, der von oben zu kommen schien. Vorsichtig untersuchte er diesen abgeschlossenen Teil des Kanals unterhalb des Packhauses. Die Mädchenräuber hatten offenbar versäumt, die Bodenluke zu schließen, durch die man die Körbe mit der lebenden Fracht nach oben gehievt hatte. Gerade als der Graf die Öffnung genauer in Augenschein nehmen wollte, tauchte der Leutnant inmitten des Kanals auf. Schwedenow gebot ihm, still zu sein und zeigte auf das Loch, durch welches ein schwacher Lichtschein zu ihnen hinab drang. Der Leutnant hatte die geänderte Situation sofort erfasst und tauchte wieder, um zurück zu schwimmen und die übrigen Männer von der Veränderung zu unterrichten. Schwedenow schloss sich ihm an, da es notwendig geworden war, nach einem modifizierten Schlachtplan vorzugehen.

Außerhalb des Tores wurden die Seeleute über die neue Lage unterrichtet und folgendes beschlossen: Schwedenow wollte als einziger den Weg ins Innere des Packhauses wählen, den er bereits letzte Nacht geschwommen war. Dieser Weg schien der ungefährlichere, was eine mögliche Entdeckung durch die Wache anbetrifft. Nach der kurzen Rekognoszierung der Lage sollte der Graf zurück schwimmen und den anderen mitteilen, ob sie, ohne gesehen zu werden, durch die Luke in das Gebäude eindringen konnten.

So standen alle sieben Mann nach wenigen Minuten auf der inneren Seite des Tores, bereit alles zu tun, was der Graf als ihr Anführer ihnen auftragen würde. Dieser hangelte sich an der quer eingebauten Eisenstange bis unmittelbar unter die Öffnung und konnte nun sehen, dass es sich um eine Falltür aus massivem Holz handelte, die nach oben aufgestellt war.

Dann stieg er, nachdem er seine Waffe von Rochow anvertraut hatte, in den Nebenkanal ein und gelangte auch nach wenigen Augenblicken ins Innere des Hauses. Er durchschwamm die Röhre und tauchte leise in dem Becken auf. Im Packhaus herrschte Stille; im spärlichen Licht einer Petroleumlampe war niemand zu sehen. Der Graf stieg vorsichtig aus dem Wasser, trat zur Öffnung inmitten des Raumes und rief ein paar gedämpfte Worte hinab. Sogleich schwang sich der Leutnant auf die Eisenstange und kletterte durch die Öffnung nach oben. Der erste der übrigen Männer folgte schnell nach.

Plötzlich hörten die Männer einen Aufschrei der Überraschung. Der Graf blickte auf und erkannte Dethmann, der mit einer gezogenen Pistole vor ihnen stand. Schwedenow stieß einen Warnruf aus und warf sich zur Seite. Der Schuss krachte, ein Mann schrie auf. Im gleichen Moment war der Graf vorwärts geschnellt, hatte Dethmann die Pistole aus der Hand geschlagen und den Deutschen mit einem mächtigen Faustschlag zu Boden befördert.

Die Annahme des Grafen, dass Cortejo und Dethmann allein das Versteck bewachte, erwies sich als Irrtum, als nämlich drei Männer in den Raum stürmten, die sich sofort auf die Eindringlinge stürzten. Der dem Leutnant als erster gefolgte Matrose lag am Boden, doch die beiden nächsten hatten sich gerade durch das Loch gezwängt. Gemeinsam mit dem Leutnant wehrten sie den Angriff der hereinstürzenden Männer ab. Schwedenow half den anderen aus der Bodenluke, und mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die drei Männer außer Gefecht zu setzen, die neben Dethmann das Versteck der Mädchenräuber zu bewachen hatten.

Sie kümmerten sich um den angeschossenen Kameraden, den die Kugel Dethmanns in die Brust eingedrungen war. Im Augenblick konnte man für ihn nicht viel tun; der Graf winkte von Rochow. Beide Männer schlichen vorsichtig zum Eingang, durch den die Männer gerade eingedrungen waren. Sie spähten durch die geöffnete Tür in einen langen Flur. Weitere Wachen konnten die beiden nicht entdecken; an der rechten Seite des langen Ganges erkanten sie ein Holzgatter, aus denen leise Klagegeräusche zu den Männern drangen. Aus dem Halbdunkel klang plötzlich der Angstschrei einer Frau.

„Caroline!“ rief von Rochow und stürzte durch die Tür, ohne dass ihn Schwedenow aufhalten konnte. Da gewahrte der Graf eine Bewegung am Ende des Ganges.

„Vorsicht!“ brüllte er.

Wieder krachte ein Schuss. Der Leutnant warf sich sofort zu Boden. Schwedenow, der nicht wusste, ob sein Kamerad getroffen worden war, stürzte durch die Tür und suchte neben dem Leutnant Deckung. Ein weiterer Schuss wurde abgefeuert, der aber zum Glück nicht traf.

„Auf ihn!“ befahl der Graf.

Beide Männer, sprangen vor und hatten Sekunden später den unbekannten Schützen überwältigt. Sie schleiften ihn zu einer der schwachen Petroleumlampen und blickten in ein wutverzerrtes Gesicht.

„Cortejo!“ stieß der Graf hervor.

Der Leutnant fuhr ihm an die Gurgel und brüllte: „Wo ist Caroline?“

Cortejo spie ihm ins Gesicht. Von Rochow schlug wild auf ihn ein, aber der Graf befahl: „Schluss damit! Die Mädchen!“

Der Leutnant, von dessen linker Hand Blut tropfte, ließ von Cortejo ab.

„Sind Sie getroffen?“ fragte der Graf besorgt.

„Nur ein Streifschuss, nicht der Rede wert!“ winkte der Leutnant ab und untersuchte die Verschläge.

Drei Mann der Besatzung kamen herbei, die den Schurken übernahmen und mit Stricken festbanden, die überall reichlich herumlagen. Ihre Kameraden hatten das gleiche mit den vorher im Kampf überwältigten Männern gemacht, so dass nach wenigen Minuten Cortejo, Dethmann und die drei weiteren Männer fest verschnürt nebeneinander aufgereiht lagen.

Inzwischen hatte von Rochow die Verschläge geöffnet, die sich rechts und links von dem langen Gang befanden. Langsam kamen die bedauernswerten Kreaturen zu sich, die vom Opium noch halb betäubt in den Lichtschein der Lampen taumelten. Die Männer zählten mehr als vierzig Mädchen, von denen sich viele in einem erbarmungswürdigen Zustand befanden.

Einige waren vom Rauschgift noch so geschwächt, dass sie nicht stehen konnten. Viele weinten still vor sich hin. Andere klagten laut. Die Männer versuchten, die armen Kreaturen zu beruhigen, konnten sich aber bei einigen nicht verständlich machen. Manche hielten die Retter für ihre Peiniger und kratzten und bissen um sich, weil sie glaubten, sie sollten wieder auf das Schiff verladen werden.

Von Rochow, der alle Ecken durchstöberte, hatte endlich Caroline entdeckt, die schwer atmend in verschmutzten und halb zerrissenen Kleidern an der Wand eines der Verschläge lehnte. Das Mädchen sah völlig verstört aus; beim Anblick des Leutnants sank sie in Ohnmacht, und die Natur vertraute sie dadurch völlig dem Schutz des jungen Offiziers an.

Schwedenow verschaffte sich schnell einen Überblick und war bald sicher, dass sich keine weiteren Verbrecher mehr im Speicher aufhielten. Er nahm seine Waffe, die er dem Leutnant zur Aufbewahrung anvertraut hatte, wieder an sich und stieß eine der Luken auf, die auf die Wasserseite des Hafens hinaus führten. Helles Licht flutete herein. Dann schoss er seine Pistole ab.

 

Wie abgesprochen waren Paul Verne und der Redakteur May sofort nach Beginn der Aktion aufgebrochen und hatten sich in die Nähe des Hauptquartiers der Dänen begeben. Sie warteten eine halbe Stunde ab und konnten nur ungeduldig mit ansehen, wie es allmählich dämmerte. Zum vereinbarten Zeitpunkt gingen sie auf das Gebäude zu, in dem die Offiziere sich aufhalten mussten. Eine Wache rief sie an. Sie bestanden darauf, sofort den Dänischen Verbindungsoffizier zu sprechen. Es dauerte wohl an die zehn Minuten, bis sie endlich vorgelassen wurden. Schnell hatten sie von der Aktion berichtet, die zum gleichen Moment innerhalb des geheimen Verstecks ablief. Der Dänische Offizier informierte den Befehlshaber des Kommandos, einen Major Jenssen, der seinerseits die Männer in höchste Alarmbereitschaft versetzen ließ.

May war, als höre er zweimal Schussgeräusche, aber es klang, als komme das Geräusch von unter der Erde.

Die Stille des Hafens wich langsam jenen Geräuschen, die am frühen Morgen vom Neubeginn des Tages und vom Wiedererwachen der normalen Aktivitäten kündeten.

Dann krachte ein lauter Schuss.

„Das Zeichen!“ rief Herr May.

Beide Männer sahen, wie Soldaten sofort das Lagerhaus stürmten. Paul Verne versicherte dem Redakteur, dass zum gleichen Zeitpunkt die >La Gaviota< gestürmt und besetzt würde.

 

Im inneren des Packhauses herrschte eine gedämpfte Stille, als die Soldaten durch Tore und Luken eindrangen. Major Jenssen fragte nach Schwedenow, der alsbald – immer noch nur mit einer kurzen Leinenhose bekleidet – vor ihm stand.

„Sie wissen“, begann der Major, „dass ich Ihre eigenmächtige Aktion nicht billigen darf. Aber“, fügte er mit einem feinen Lächeln hinzu, „ich versichere Ihnen meine vollständige Sympathie und darf Ihnen mitteilen, dass meine Kameraden Ihre mutige Aktion im Geheimen bewundern. Sie und Ihre Männer muss ich aber auffordern, sich auf Ihr Schiff zu begeben.“

Dann drückte er dem Deutschen die Hand, wandte sich ab und gab Befehl, die Mädchen in ein Hospiz zu geleiten.

Der Leutnant unterbrach den Offizier, erklärte ihm die persönlichen Verhältnisse, und erreichte, dass man Caroline zur >Saint Michel< mitnehmen durfte. Mit dieser Aufgabe betraute man zwei Männer der Besatzung, die von dem um die Gesundheit des Mädchens besorgten Leutnant angeführt wurden. Ein herbeigerufener Arzt kümmerte sich um den verwundeten französischen Seemann und veranlasste, dass der Schwerverletzte zur Behandlung ins Rigs-Hospital überführt wurde; zwei seiner Kameraden begleitete ihn.

 

Clode Depierre, der die Aktion mit großer Anteilnahme beobachtete hatte, meldete, dass die Besetzung der >La Gaviota< erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Kapitän Landola und alle seine Leute befanden sich jetzt in Gewahrsam des Dänischen Militärs.

Von der >Saint Michel< war Jules Verne in Begleitung einiger Matrosen gekommen, die den Männern des Prisenkommandos Kleidungsstücke brachten, damit sie sich wieder etwas anziehen konnten

Die gefesselten Verbrecher, denen man bisher wenig Beachtung geschenkt hatte, wurden von den Soldaten in Verwahrung genommen und vorläufig in einem Raum im Packhaus festgesetzt.

 

Cortejo war mit auf den Rücken gefesselten Händen gerade neben Dethmann gesetzt worden, als er ihm auch schon zuraunte:

„Der Strick ist schlecht verknotet, ich helfe dir!“

Dethmann rückte so weit herum, bis der Spanier die Knoten an seinen Handgelenken bequem erreichen konnte. Nach wenigen Versuchen gelang es den beiden, sich ihrer Armfesseln zu entledigen. Alles Weitere geschah blitzschnell; die Männer erhoben sich, lösten ihre Fußfesseln und spähten durch die Tür, die nur angelehnt war. Dann stießen sie die Tür auf, warfen einen der Wachen über den Haufen und drängten hinaus.

„Schnell mir nach“, rief Cortejo seinem Kumpanen zu. „Ich kenne hier in der Nähe eine Kirche; da können wir uns zunächst verbergen.“

Stimmen wurden laut, Flüche ertönten, dann fielen mehrere Schüsse, und alles geriet in völlige Verwirrung.

Schwedenow, der sich mit den anderen um das Wohl der bedauernswerten Mädchen kümmerte, eilte sofort zum kommandierenden Offizier. Major Jenssen konnte dem Grafen nach kurzer Erkundigung mitteilen, dass zwei der Männer entkommen waren. Schwedenow verlangte, die restlichen Gefangenen inspizieren zu dürfen, was man ihm gewährte. Mit einem Blick erkannte er, dass Cortejo und Dethmann fehlten.

„Die Rädelsführer sind entkommen!“ bemerkte er zum Major. „Ich werde sie verfolgen!“

Eine Befragung der Soldaten ergab, dass sich die Flüchtigen nach Südosten gelaufen waren und in die Strand Gade eingebogen sein mussten. Dort hatten die Soldaten sie aus den Augen verloren.

Schwedenow informierte Leutnant von Rochow, der gerade von der >Saint Michel< zum Schauplatz der Ereignisse zurückgekehrt war, wo er Caroline in die Obhut von Kapitän Ollive gegeben hatte. Die Brüder Verne und der Redakteur May schlossen sich den beiden unaufgefordert an, um die flüchtigen Verbrecher wieder dingfest zu machen.

 

 

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