Caroline von Plechow      oder    Die Verfolgung von Wilhelmshaven nach Kopenhagen

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11 Ein Kampf

 

Nachdem sie durch einige enge Straßen gelaufen waren, in denen Galeerensträflinge in gelbgestreiften Hosen, von den Aufsehern mit dem Stock angetrieben, arbeiteten, gelangten sie durch die St. Annägade zur Frelserer-Kirke; ihr ziemlich hoher Glockenturm erhob sich weit über die Häuser der Stadt. Hier hatten sie die Spur der Flüchtenden verloren. Man stand ratlos auf dem freien Platz vor dem Eingang, als May plötzlich rief:

„Da oben ist Cortejo!“

Der Sachse zeigte in die Höhe, wo tatsächlich eine Gestalt hinter der Balustrade stand und sich sofort zurückzog, als sie bemerkte, dass man sie gesehen hatte.

 

 

Die Männer eilten in den Vorraum des Gebäudes, blieben zögernd stehen und suchten den Aufgang zum Turm. Der Küster, der gerade in die Kirche gehen wollte, zeigte wie selbstverständlich auf einen steinernen Durchgang:

Derhin!“

Zunächst mussten sie eine innere Wendeltreppe hinaufsteigen und kamen dann nach etwa hundertfünfzig Stufen auf die Plattform des Glockenturms. Sie standen nun im Freien und spürten den frischen Luftzug.

Von Cortejo oder Dethmann war keine Spur zu entdecken. Schwedenow deutete nach oben.

„Dort hinauf!“

Eine schmale Treppe mit schwachem Geländer wendet sich außen um den Turm herum in die Höhe. Der Leutnant stürzte als erster hinauf, gefolgt von Schwedenow. Die beiden Franzosen und der Sachse zögerten. Die Treppe verjüngte sich vor dem Blassblau des Himmels und schien direkt ins Nichts zu führen.

Weiter oben eilten die beiden Verfolger die engen Stufen hinauf. Nachdem sie zwei Drittel des Weges zur Spitze zurückgelegt hatten, rief der Graf:

„Vorsicht, Leutnant; Cortejo ist gefährlich!“

Die Warnung kam nicht zu spät, denn einige Stufen weiter löste sich plötzlich der Verbrecher mit verzerrtem Gesicht von der Turmwand und stellte sich seinen Verfolger in den Weg, bereit, den jungen Offizier in die Tiefe zu stürzen.

Von Rochow hatte seinen Degen gezogen und hielt Cortejo auf Distanz. Dieser wich langsam Schritt für Schritt zurück. Dadurch musste auch Dethmann, der hinter ihm auf der schmalen Treppe stand, immer weiter hinauf.

„Mir ist schwindlig, ich kann nicht weiter!“ keuchte Dethmann.

Sein bleiches Gesicht hob sich deutlich gegen den blassblauen Himmel ab. Plötzlich sank er auf die Knie und umklammerte in wilder Verzweiflung Cortejos Beine.

„Mir ist schlecht!“

„Merda! loslassen, Kerl!“ rief dieser ihm zu und versuchte, sich von der verzweifelten Umklammerung zu lösen.

„Hilf mir, Cortejo! ich stürze hinunter!“ heute Dethmann hysterisch auf.

J me cago en tu puta madre!“ brüllte Cortejo und stieß mit dem Knie nach seinem Gesicht.

Die beiden Deutschen waren stehen geblieben und sahen dem Kampf zu, der zwischen den beiden Gaunern entbrannte. Als sie emporblickten, mussten auch sie sich an dem viel zu flachen Geländer festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der Wind pfiff um den schmalen Kirchturm; über ihren Köpfen jagten zerzauste Wolken vorüber.

Rücksichtslos stieß Cortejo den verzweifelten Dethmann zurück, der sich in wilder Angst flach auf die Stufen geworfen hatte und der nun versuchte, sich an seinem Kumpanen festzuklammern. Schließlich trat er ihm brutal mit dem Fuß in den Leib; der so Misshandelte schrie mehrmals auf, dann erhob er sich plötzlich, taumelte, sich in die Magengrube fassend, an das Geländer, wollte sich festhalten, griff ins Leere und stürzte mit einem grässlichen Schrei in den Abgrund.

Man hörte seinen Körper unten aufschlagen, dann war es still. Keiner brachte zunächst ein Wort hervor.

„Mein Gott!“ rief Schwedenow, dessen Gesicht totenbleich geworden war.

„Er ist gerichtet!“ sagte der Leutnant.

„Und du, Cortejo, bist der Henker, der ihn in die Tiefe warf!“

Cortejo sagte nichts. Von Rochow trat einen Schritt nach vorn und holte mit dem Degen zum tödlichen Stoß aus. Der Graf fiel ihm von hinten in den Arm:

„Nichts übereilen, mein Lieber!“ sagte er.

Plötzlich schnellte der Verbrecher nach vorn. Mit einem Ruck warf er den verdutzten Leutnant zur Seite. Dieser musste den gesenkten Degen fallen lassen und konnte sich im letzten Moment am Geländer festklammern. Noch ein Sprung und Cortejo hatte den Grafen bei der Kehle gepackt. Ein furchtbarer Ringkampf begann.

 

Die Brüder Verne und May waren hinausgelaufen und verfolgten hilflos den Kampf über ihnen, denn der Schrecken und das Entsetzen hatten die drei Männer so gelähmt, dass mit einem raschen Eingreifen ihrerseits gar nicht zu rechnen war. So mussten sie tatenlos mit ansehen, wie der starke Verbrecher versuchte, den Grafen über die Brüstung hinabzustürzen. Die Zuschauer bangten minutenlang um ihren Freund, der sich aber behaupten konnte.

„Um Himmels Willen!“ rief Paul entsetzt; „sie werden beide in den Tod stürzen!“

Von Rochow hatte sich wieder erhoben und drang von hinten auf den Verbrecher ein. Dieser musste den Grafen loslassen und stand nun zwischen seinen Gegnern. Ein wildes Flackern war in seinem Blick.

„Ich nehme euch beide mit in die Hölle!“ rief er und griff mit je einer Hand nach seinen Gegnern. Seine Hände krallten sich in die Kleider der beiden Deutschen, dann stürzte er sich über die Brüstung hinab.

„Madre de Dios!“ gellte es durch die klare Luft.

Ein dreifacher Aufschrei des Entsetzens erscholl von der Turmplattform. Ein Körper schlug hart auf. Cortejos zerschmetterter Leichnam lag direkt neben dem von Dethmann.

May blickte als erster nach oben.

„Sie leben! Sie leben!“ rief er und führte einen Freudentanz auf.

Nun sahen es auch die Franzosen. Einige Meter unterhalb der Turmspitze klammerte sich von Rochow am äußeren Geländer fest; seine Füße hingen frei herab, doch Schwedenow, der noch mit beiden Beinen auf der Treppe innerhalb des Geländers stand, half ihm hinauf und brachte den Leutnant schließlich in Sicherheit.

Einige Minuten später taumelten die beiden Männer die letzten Treppenstufen bis zur Turmplattform zu ihren Gefährten hinab. Ihre Gesichter waren bleich und schweißüberströmt; die Spuren der übermenschlichen Anspannung hatten sich tief eingegraben. Als sie in Sicherheit waren, verließen den Leutnant die Kräfte und er sank zu Boden. Paul kümmerte sich um ihn. Der Graf hielt sich an der Turmwand fest und atmete tief.

„Um ein Haar!“ sagte er.

 

Mit Schaudern sah sich Schwedenow die beiden Leichname an; Dethmann lag mit aufgerissenen Augen, die aus seinem verdrehten Kopf starrten, neben dem fürchterlich verstümmelten Cortejo; in beiden Händen hielt der Tote Fetzen von der Kleidung des Leutnants und des Grafen.

„Vor Frelsers Kirke, ja die Vor Frelsers Kirke“, murmelte er.

„Was sagen Sie da, Graf?“ fragte ihn May.

„Die Kirche“ sagte der Graf mit versteinerter Miene, „heißt auf Dänisch: Vor Frelsers Kirke“.

„Und das heißt auf Deutsch?“, fragte der Sachse.

„Vor Frelsers Kirke bedeutet „Erlöserkirche“, erwiderte der Graf tonlos.

 

 

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