Caroline von Plechow      oder    Die Verfolgung von Wilhelmshaven nach Kopenhagen

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5 Schreie im Nebel

 

Bald kam die flache nordfriesische Küste in Sicht. Der Kapitän musste nun bereits einen Lotsen an Bord nehmen, denn das Tönning vorgelagerte Wattenmeer ist besonders bei Ebbe nur unter großer Vorsicht zu befahren. Die >Saint Michel< steuerte die so genannte Lotsengaliote an, die im äußeren Trichter der Eidermündung südlich des Dörfchens St. Peter vor Anker lag. Sie nahmen den Lotsen an Bord, der die komplizierten Fahrwasserverhältnisse genau kannte. Der Ansteuerungsbereich der Eider war hinreichend mit Seezeichen markiert, Watten und Strände waren ausgesteckt. Der Lotse erklärte dem Kapitän und den Passagieren, dass selbst eine Nachtfahrt unbedenklich wäre, weil die Einfahrt mit See- und Landfeuern ausreichend gesichert ist.

Da der Wind sich gelegt und die Nordsee wieder viel ruhiger geworden war, gelangte die >Saint Michel< ohne jedes Problem vor den Tönninger Hafen. Am späten Nachmittag dampfte die französische Yacht mit ihrer internationalen Besatzung in den kleinen Hafen ein.

 

Tönning ist die Hauptstadt des Kreises Eiderstedt im preußischen Regierungsbezirk Schleswig und liegt an der Mündung des Flüsschens Eider in die Nordsee. Die Stadt ist Knotenpunkt der Staatsbahnlinien Jübeck-Tönning und Tönning-Garding, hat eine evangelische Kirche, ein Kriegerdenkmal, einen Hafen, ein Amtsgericht, ein Hauptzollamt, ein Seemannsamt, eine Schiffbau- und Maschinenanstalt, eine Fleischwaren- und Konservenfabrik und 4000 fast nur evangelische Einwohner. Der Ort erhielt im Jahre 1590 Stadtrechte, war seit 1644 befestigt und wurde in der Folge wiederholt von den Dänen erobert, die das Festungswerk 1714 schleiften. Heute lebt die Stadt vom Pferdemarkt, dem allerdings nicht bedeutenden Hafenumschlag, sowie von der Einfuhr von Kohle und Eisen aus England.

Der Hafen liegt recht malerisch am rechten Eiderufer und ist von der kleinen Stadt halbkreisförmig umbaut, die durch einen Seedeich vor den Fluten der Nordsee geschützt werden muss.

Die >Saint Michel< machte unmittelbar neben einer Dampfschaluppe vor dem großen Packhaus fest, das bereits vor Fertigstellung des Eiderkanals von der Kopenhagener Regierung erbaut worden war. Davor konnten die Reisenden einen eisernen Kran sehen, der 1834 aus England hierher geschafft worden war und seitdem störungsfrei zur Entladung von Schiffen diente.

Der junge Leutnant erklärte die geographischen Besonderheiten der Landschaft, die nun vor ihnen lag, denn er war gebürtiger Schleswiger aus der Gegend nördlich von Rendsburg und war daher mit Land und Leuten bestens vertraut. Wir können uns deshalb seiner Beschreibung der Heimat unbesorgt anvertrauen, die er an einer zu diesem Zweck ausgebreiteten Karte gab:

„Die Eider entspringt auf dem holsteinischen Landrücken südlich von Kiel, 34 Meter über dem Meeresspiegel, durchfließt, zuerst in südlicher Richtung gehend, den Bothkamper See, dann sich nördlich und bei Schulenhof westlich wendend, den Westensee und nördlich den Flemhuder See. Sie wendet sich sodann über Rendsburg westwärts, indem sie, den Grenzfluss zwischen Schleswig und Holstein bildend, weite Marschgegenden durchfließt, und mündet schließlich bei Tönning in die Nordsee. Die Schifffahrt auf dem wasserreichen Fluss ist bis Rendsburg möglich. Eine große Bedeutung erhielt der Fluss durch die Verbindung mit dem Kieler Meerbusen durch den Eiderkanal. Derselbe tritt aus der Eider dort aus, wo sie eine Wendung nach Westen macht und mündet bei Holtenau in die Ostsee. Die ganze Länge des künstlichen Wasserwegs beträgt 32 km.“

 

Im Anschluss an diese Erläuterungen versammelte man sich – diesmal war auch Herr May anwesend – wieder im Salon, um ein Abendessen einzunehmen.

Erich Pötsch ließ es sich nicht nehmen, am ersten Tag auf schleswig-holsteinischem Boden ein Gericht aus dieser Landschaft zuzubereiten, wobei ihm Herr Arago assistieren musste. Er hatte dazu in Tönning eingekauft und stolz seine Beute vom Schiffsjungen unter Deck in die Vorratskammer bringen lassen. Als man dann bei Tisch seinen „Glückstädter Matjestopf“ probierte, waren alle begeistert.

Pötsch hatte die enthäuteten Heringsfilets, die einen speziellen Gärungs- und Reifeprozess in einem Fasse durchgemacht hatten, eine Stunde in Buttermilch liegen lassen, dann nahm er sie heraus, spülte sie ab, ließ sie abtropfen und legte sie zusammen mit Gurken und Zwiebeln – Äpfel gab es zu seinem Leidwesen in dieser Jahreszeit noch nicht – in Sauerrahm ein. Dazu servierte er neue kleine Pellkartoffeln.

Statt Wein gab es diesmal für jeden einen kräftigen Schluck Bier, denn Pötsch hatte ein Fässchen von der Dithmarscher Brauerei aus Marne erstehen können, wodurch man den Weinvorrat der Vernes aufs Beste schonen konnte. Als Nachtisch servierte Ernst Pötsch Rote Grütze aus Himbeeren und roten Johannisbeeren, dazu gab es flüssige Sahne. Leutnant von Rochow erklärte den beiden Franzosen, dass es sich bei dieser Speise um ein landestypisches Gericht Schleswig-Holsteins handelt; nur den plattdeutschen Spruch, den er dazu aufsagte, vermochte keiner der anwesenden Deutschen ins Französische zu übersetzen. Er lautete:

 

„Rodegrütt, Rodegrütt!

Kiek mol, wat lütt Heini itt.

Allns rundum hett he vergeten,

Rodegrütt, dat is en Eten!“

 

Anschließend unternahmen die Herren einen Landgang, der sie hinaus an den Küstendeich führte; der Luft war diesig und erlaubte ihnen keinen weiten Blick über die Watten hinaus auf die Nordsee. Der Leutnant konnte ihnen einige Informationen über die Küstenbefestigungen geben, die hier besonders erforderlich waren, da bei Sturmfluten das zum Teil tiefer liegende Land äußerst gefährdet ist.

„Immer wieder durchbrechen die Fluten die Deiche und schwemmen riesige Ländereien davon. ‘Wer nicht deichen will, muss weichen’ ist ein altes Sprichwort an der Westküste meiner Heimat. Die schlimmsten Sturmfluten der Jahre 1362 und 1634 veränderten die Küstenlandschaft nachhaltig. Tausende von Menschen und noch mehr Vieh ertranken, Städte und Dörfer verschwanden. Doch der Mensch in den Marschen klebt zäh an der Scholle. Kaum ist ein Deich durch die Flut zerstört, wird er auch wieder aufgeführt. So besteht das Leben hier draußen aus dem ewigen Kampf gegen die Elemente.“

 

Als sie auf dem Rückweg wieder am Packhaus angelangt waren, sahen sie, wie der Nebel langsam aus dem Hafenbecken stieg und über die Lagerplätze schlich. „Ein seltenes Ereignis zu dieser Jahreszeit“, bemerkte von Rochow und erklärte:

„Sie mögen sich über die Größe des Gebäudes wundern, meine Herren; von dieser Art Packhäuser sind im 18. Jahrhundert drei gebaut worden, dieses hier in Tönning, eines in Rendsburg und ein weiteres in Holtenau, wo der Kanal in die Kieler Bucht mündet. Dieser Speicher fasst 30.000 Zentner Getreide. Die Einlagerung von Stück- und Massengut geschieht zur Abwicklung des Zwischenhandels oder der Leichterung. Das Hinterland liefert seine Waren, die hier zwischengelagert werden müssen. Oder die einlaufenden Schiffe geben ihre Ladung so lange auf Lager, wie es die weitere Bestimmung erforderlich macht. Auch findet hier die Leichterung von Großseglern statt, die selbst den Kanal nicht passieren können. Die Ware wird dann auf kleinere Kanalschiffe umgepackt.

Dithmarschen exportiert Gerste und Hafer nach Kopenhagen, Friedrichstadt verschifft Talk und Sohlenleder, Rendsburg Klinker, Zement und Mühlensteine. Kappeln und Flensburg handeln mit Tran und Teer. Aus Bremen kommt Schiffsgerät und Töpferwaren, aus Hamburg Zucker, Salz und Feinkostkonserven und aus Wismar Holz für den Schiffbau.

Petersburg und Riga schicken Flachs, Pech und Leinen, Schweden verschifft Stahl, Eisen, Teer und Kalk, Island Salzfisch, Tran und Soda. Und diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Die merkwürdigsten Waren wandern so im Laufe der Jahre durch die Packhäuser: Arsenik, Baumwolle, Cacao, Salpeter, Flachs, Wachs, Wacholderbeeren, Harz, Lackmus, Lakritzensaft, Leim, Lorbeeren, Sirup, Spießglas, Talk und Trockenfisch.“

„Großartig!“ rief Jules aus, „wie begeistert dieser junge Mann von seiner Heimat erzählt.“

„Ja, die Deutschen werden ein gewichtiges Wort im künftigen europäischen Staatenverband mitreden.“ ergänzte Paul.

Man begab sich wieder an Bord und sprach noch einmal dem süffigen Bier aus Dithmarschen zu; dabei kam man auf die politischen Veränderungen zu sprechen, die den Norden des jungen deutschen Reichs erheblich verändert hatten.

Hier war nun Schwedenow an die Reihe, der sich mit viel Engagement für die deutsche Sache aussprach und den beiden Franzosen den preußischen Standpunkt in der Auseinandersetzung um die nördlichste Provinz des jungen Deutschen Reichs auseinanderlegte.

„Seit vier Jahrhunderten waren die Herzogtümer Schleswig und Holstein mit dem Dänenreich durch Personalunion verbunden; die Menschen lebten mit ihrer Sprache und Kultur friedlich miteinander. Erst unserem Jahrhundert blieb er vorbehalten, die nationalen Grenzen neu zu ziehen. Nach dem Scheitern der Schleswig-Holsteinischen Bewegung, die im Mai 1852 gegen Dänemark endgültig unterlag, bestätigten die europäischen Mächte im Londoner Protokoll Dänemark seinen Besitz, den es nur 11 Jahre halten konnte. Nun folgte eine Periode der schärfsten Dänisierungspolitik, die viele aufrechte Deutsche außer Landes trieb, so auch den bedeutenden Schriftsteller des Nordens, Theodor Storm, der in meiner Heimat ein Exil fand und dort lange Jahre als Amtsrichter wirkte.“

Leutnant von Rochow hatte seine eigenen Erfahrungen im Granzland zwischen Deutschland und Dänemark machen müssen und reagierte heftig.

„Dänischer Übermut war es, der die Befreiung des Landes herbeiführte. Die Machenschaften der Eiderdänen hatten keinen Erfolg. Als 1863 der Landesteil Schleswig ganz dem Dänischen Reich einverleibt wurde, forderte ganz Deutschland empört die Annullierung dieses Patents. Als es trotzdem unterzeichnet wurde, beschloss der Bundestag die Exekution gegen Dänemark. Im raschen Siegeszug wurden die Herzogtümer freigekämpft.“

„Was sind bitte ‘Eiderdänen’, meine Herren?“ fragte Jules.

„Eiderdänen nannten sich die Anhänger einer politischen Partei in Dänemark, die den eigentlichen dänischen Staat bis an die Eider ausdehnen wollten“, erklärte Schwedenow. „Sie beabsichtigten, Schleswig ganz einzuverleiben, aber Holstein nebst Lauenburg ausschließen. Seit 1848 konnten sie ihren Einfluss im dänischen Staat ausbauen, verloren aber ihre frühere Bedeutung nach der endgültigen Abtrennung Schleswigs in Folge des Preußisch-Dänischen Krieges im Jahre 1864. Nach dem Sieg der preußischen und Österreichischen Truppen wurde Dänemark gezwungen, allen Rechten auf die Herzogtümer Schleswig und Holstein zu entsagen. 1867 wurden die Herzogtümer als Provinzen dem preußischen Staat einverleibt. Seitdem herrscht Frieden im Lande und Wohlstand breitet sich aus.“

„Seit der militärischen Lösung der Dänischen Frage hat das Land Ruhe, von Dänischen Quertreibereien in Nordschleswig einmal abgesehen“, sagte von Rochow.

„Ach wenn die Menschen doch nur friedlich miteinander umgehen würden“, seufzte Jules. „Sind wir nicht alle Menschen? Wozu diese kriegerischen Auseinandersetzungen um Länder, um Einfluss und Macht? – Statt Kanonen zu bauen, sollten wir uns zusammenschließen und die großartigen technischen Erfindungen des 19. Jahrhunderts dazu nutzen, den Wohlstand in aller Welt zu mehren.“

May stimmte dem Franzosen lebhaft zu; der Leutnant aber widersprach energisch und betonte, dass Deutschland nun endlich seine angestammten Rechte im Chor der europäischen Mächte wahrnehmen müsse. Dazu gehöre nun einmal neben dem entsprechenden politischen Einfluss auf die europäische Politik auch ein Kolonialreich, das die übrigen Großmächte dem jungen Kaiserreich widerrechtlich verwehrten. Dem widersprachen die Franzosen mit dem Hinweis auf die Annexion Elsass-Lothringens durch Deutschland. Schwedenow versuchte, eine vermittelnde Position zu beziehen, doch die Vorstellungen gingen so weit auseinander, dass an eine Einigung nicht zu denken war.

Als die Debatte immer hitziger wurde, rief Schwedenow dazwischen:

„Aber meine Herren! Wir sitzen doch alle in einem Boot. Und das im eigentlichen Sinne dieses Wortes. Lassen Sie uns auf unsere wichtige Aufgabe besinnen: Die Verfolgung eines üblen Verbrechers, der durch seine Machenschaften alles zivilisierten Völker bedroht!“

Diese Mahnung besänftigte die Streitenden für den Augenblick. Ihre Aufmerksamkeit wurde in diesem Moment aber von einem lauten Schrei in Anspruch genommen, der von einer weiblichen Person stammen musste.

Die Männer stürzten sofort an Deck und hielten Ausschau, konnten aber nichts erblicken. Der vorhin noch belebte Hafen lag verlassen, Nebel war aufgezogen, so dass nur der dumpfe Lärm aus einer gegenüberliegenden Wirtschaft durch die Stille des Abends drang.

Doch dann hörten sie wieder einen Schrei, der aus der hintersten Ecke des Hafens zu kommen schien. Da es fast dunkel war und das Terrain zu beiden Seiten des Hafenbeckens im Nebel lag, konnten die Männer nichts erkennen. Schwedenow gab von Rochow einen Wink und sagte zu den anderen:

„Warten Sie hier, meine Herren, wir werden die Lage erkunden.“

Die beiden Männer sprangen behände von Bord und verschwanden im Dunst. Sie mussten einen ziemlichen Weg zurücklegen, bis sie um das Hafenbecken herum gelaufen waren, das im hinteren Teil eine rechtwinklige Biegung machte. Dort sahen sie gerade noch schemenhaft, wie eine verzweifelt sich wehrende Gestalt von mehreren Männern unter die Plane eines Wagens gezerrt wurde. Sie liefen auf den Wagen zu, jeder griff sich eine der Männer und riss ihn zu Boden. Nun konnten sie die Gestalt einer Frau sehen, die in einen Sack gehüllt schon halb auf der Pritsche des Wagens lag. Schwedenow war gerade dabei, sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien, als er von einer ganzen Horde wilder Gestalten angegriffen wurde. Die Männer, offenbar Seeleute, schlugen derb zu, doch hatten sie nicht mit der kühlen Entschlossenheit ihrer Gegner gerechnet. Es gab einen kurzen Kampf, dann gewannen Schwedenow und von Rochow die Oberhand. Ein Schuss fiel. Schwedenow riss die wimmernde Frau an sich, rief dem Leutnant ein paar Worte zu und lief, die Frau stützend, auf das nahe gelegene Wirtshaus zu. Die Verfolger waren den drei eng auf den Fersen, doch der Graf schaffte es, die Tür des wenig erhellten Schankraums zu erreichen. Drinnen wurde er von einer Gruppe finster blickender Männer empfangen, die drohend auf den Mann und die Frau zu schritten. Die Übermacht war zu groß, nach kurzem Kampf lagen die beiden zu Boden gestreckt inmitten des schmutzigen Raumes. Der Leutnant aber hatte die Situation richtig eingeschätzt und war rechtzeitig im Nebel verschwunden.

 

Die auf dem Schiff Zurückgebliebenen standen in großer Sorge auf dem Deck und versuchten, etwas durch die milchige Luft zu erspähen. Paul meinte gerade, man müsse auf jeden Fall etwas unternehmen, als von Rochow außer Atem auf Deck der Yacht gesprungen kam.

„Der Graf ist gefangen! Er befindet sich mit der Frau, die wir soeben befreit hatten, in jenem Wirtshaus auf der gegenüberliegenden Seite. Die Übermacht der Feinde war zu groß, so bin ich hierher gelaufen um Hilfe zu holen.“

Jules meinte, man solle die Polizei benachrichtigen, worauf Pötsch ihn darüber aufklärte, dass es in Tönning nur einen kleinen Polizeiposten gäbe, der es wohl kaum mit einer Rotte verwegener Gestalten aufnehmen könne.

Die Männer standen ratlos auf den Decksplanken herum, bis der Leutnant plötzlich in wilder Entschlossenheit von Bord sprang und den Zurückbleibenden zurief:

„Ich hole Hilfe!“

Dann hatte ihn auch schon der Nebel verschluckt.

Jules blickte seinen Bruder an.

„Wir müssen Schwedenow helfen“, sagte er mit Bestimmtheit.

Paul nickte zustimmen und ließ Kapitän Ollive die Mannschaft zusammentrommeln. Bald standen 11 Franzosen mit ziemlich entschlossenen Gesichtern am Kai bereit. Pötsch schloss sich ihnen an, während Paul Arago gemeinsam mit dem Schiffsjungen das Schiff bewachen sollte. May erklärte den Brüdern, er müsse unbedingt an der Expedition teilnehmen, denn er verfüge über ausreichende Erfahrungen beim Anschleichen.

Die Männer gingen um das Hafenbecken herum und verlangsamten ihre Schritte, als sie auf der gegenüberliegenden Seite durch die Nebelschwaden Lichter und Stimmen wahrnehmen konnten, die aus dem ungastlichen Wirtshaus stammen mussten. Paul, der die Führung der Gruppe übernommen hatte, bedeutete den Männern, vorsichtig von der Seite an das Gebäude heranzuschleichen. Man bemühte sich, keine Geräusche zu machen, die sie sofort verraten hätten. So gelangten sie, dicht an die niedrigen Häuser gedrängt, in die Nähe des Eingangs. Da aber kein Plan bestand, was man zur Befreiung des Grafen unternehmen wollte, und da keiner der hoffnungsvollen Befreier über Kenntnisse der Örtlichkeiten verfügte, stand man bald ratlos in der Nähe es Eingangs, aus dem dumpfe Stimmen drangen.

 

Drinnen hatte sich inzwischen folgendes begeben: Die Männer hatten den Grafen, der durch eine Schlag auf den Schädel bewusstlos niedergesunken war, an Armen und Beinen gebunden und neben die ebenfalls bewusstlose Frau in die hintere Ecke des Schankraums geschafft. Nun berieten sie, was zu tun sei. Schwedenow war aus seiner Ohnmacht schnell erwacht, verhielt sich aber still, um die Situation beobachten und Fluchtmöglichkeiten ausspähen zu können. Nachdem er festgestellt hatte, dass ihn die Fesseln daran hinderten, sich frei zu bewegen, versuchte er, Näheres über seine Widersacher in Erfahrung zu bringen und blickte durch die halb geschlossenen Augenlieder in den Raum. Da die Kerle überzeugt waren, er sei noch bewusstlos, achtete niemand auf ihn.

Wortführer war ein finsterer Bursche mit starkem Vollbart und Schiffermütze, der das Kommando über die anderen zu haben schien. Er geriet mehrfach in Streit mit einem eleganten jungen Stutzer, der mit seinem Stock drohte. Man war sich offenbar nicht darüber einig, was man mit dem Gefangenen anstellen sollte.

Der Wortführer wollte den Gefangenen möglichst sofort im Hafen ertränken.

„Wir können keinen Zeugen gebrauchen. Dieses verdammte Weib hat uns den feinen Herrn da auf den Hals gehetzt. Das bringt die ganze Sache in Gefahr. Kurzen Prozess, sage ich, sonst geht alles schief!“

Der Stutzer widersprach ihm jedoch:

„Wenn du ihn tötest und die Sache wird ruchbar, vermasselst du dem Kapitän die ganze Tour. Dann möchte ich nicht in deiner Haut stecken!“

Dagegen wandte der Bärtige ein:

„Und wenn sie im Packhaus herumschnüffeln und die Verstecke finden?“

„Keine Sorge“, versuchte ihn der Stutzer zu beruhigen. „Die Ware geht morgen in aller Frühe hinaus und ist bald auf Helgoland in Sicherheit.“

Schwedenow schloss aus diesen und weiteren Redebrocken, dass sie durch Zufall einer Schmugglerbande in die Quere gekommen waren, die über ein geheimes Versteck im Hafen verfügten musste. Offenbar benutzten die Gauner das große Packhaus als Zwischenlager für ihre unredlichen Geschäfte mit England.

„Was sollen wir mit ihm machen? Was, wenn seine Freunde von der französischen Jacht hier auftauchen?“ wollte der Bärtige wissen.

Der Stutzer lachte höhnisch.

„Lass sie nur kommen. Wir zeigen sie morgen früh bei der Hafenpolizei an.“

„Was? Wir sollen die anzeigen? Weshalb?“

„Hat sich dieser Kerl nicht unsittlich meinem Mädchen genähert, He?“

„Und wer soll dir das glauben? Du mit deinen Weibergeschichten versaust uns hier die besten Geschäfte!“

Das Gespräch wurde hier unterbrochen, weil draußen ein lauter Aufschrei zu vernehmen war. Die etwa zwanzig Männer stürmten sofort zum Ausgang in drängten ins Freie.

Den Schrei hatte der Redakteur May ausgestoßen, der in seiner Aufregung im Dunklen an einen halb offen stehenden Fensterladen gestoßen war und sich den Kopf vor Schmerzen rieb. So war er in den Lichtschein getreten, der aus der geöffneten Tür des Wirtshauses auf den Platz davor fiel. Eigentlich war er mehr getanzt als gegangen, denn er hielt sich den schmerzenden Kopf, hüpfte auf einem Bein und schien die ganze gefährliche Situation vergessen zu haben. Die Franzosen, die noch im Dunkel der Häuser standen, sahen die Männer aus der Wirtshaustür herausquellen und gingen direkt zum Angriff über. Bald tobte vor dem Gebäude eine wilde Prügelei, bei der auch Messer gezogen wurden, so dass der eine oder andere in eine brenzlige Lage zu kommen drohte. Auch war die Übermacht der Deutschen groß, und immer mehr der handfesten französischen Seeleute sanken angeschlagen zu Boden. Einige hatten auch Stichwunden erhalten; die Situation begann gefährlich zu werden. Paul rief bereits zum zweiten Mal zum Rückzug, doch dann geschah Unerwartetes. Plötzlich erschien wie aus heiterem Himmel der Sturm eine Gruppe junger Uniformierter mit dem Ruf: „Hipp, hipp, Hurra!“ auf dem matt erleuchteten Kampfplatz. Sie schwangen Belegnägel, mit deren Hilfe sie die Schmugglerbande bald in die Flucht geschlagen hatten. Leutnant von Rochow befand sich unter ihnen.

„Alles in Ordnung?“ fragte er Paul. „Wo ist der Graf?“

Als ihm niemand Auskunft gab, stürmte er in die Wirtsstube, die nun menschenleer war. Einige der Soldaten schlossen sich ihm an, und bald hatte man Schwedenow entdeckt und von seinen Fesseln befreit. Das junge Weib kauerte ängstlich in der Stubenecke.

Von Rochow musste nun berichten, wie er an die überraschende Unterstützung gelangt war. Er stellte der Gesellschaft einen ebenfalls noch jungen Seeoffizier als Kapitän von Tülff vor, der ein draußen vor dem Hafen verankertes Kanonenboot befehligte.

Während sich Schwedenow und die beiden Leutnants um das verängstigte Mädchen kümmern, haben wir Zeit zu erklären, wie es dem Leutnant gelungen war, die Situation zu retten.

Gleich nach seinem Verschwinden von Bord der >Saint Michel< war er ans äußere Ende der Hafenanlagen geeilt, wo er bereits bei der Einfahrt das dort ankernde Kanonenboots gesehen hatte. Rasch war der Kapitän informiert, der sofort mit einem Trupp seiner Soldaten zum Eingreifen breit war.

Man wurde sich schnell über das weitere Vorgehen einig. Kapitän von Tülff übernahm das Kommando über alle, stellte eine starke Wache vor das Gasthaus, schickte eine Ordonanz zur deutschen Zollbehörde und zur Polizei, die kurze Zeit später mit einem verschlafenen Landpolizisten und einem verstörten Zollinspektor zurückkehrte. Der Kapitän informierte sodann per Depesche seine vorgesetzte Behörde in Kiel über den Vorfall, ließ sich entsprechende Vollmachten erteilen und stellte eine Truppe aus seinen Soldaten zusammen, an deren Spitze er das Packhaus besetzte.

Von den Schmugglern fand sich keine Spur, jedoch kamen die Leute mit drei weiteren junge Frauen auf den Vorplatz, die sie in einem der Lagerräume entdeckt hatten. Bei näherer Befragung stellte sich heraus, dass es sich bei ihnen ebenso wie bei dem armen Geschöpf, das durch ihre Schreie die ganze Aktion auslöste und das Schwedenow und von Rochow zu retten versucht hatten, um törichten Mädchen handelte, die dem lügenhaften Beteuerungen und falschen Versprechen des jungen Stutzers gefolgt waren, den sie alle bei verschiedenen Namen nannten. Er hatte ihnen eine gute Stellung in vornehmen Variétés versprochen, dann jedoch nach Tönning gelockt, wo sie von rauen Männerfäusten gepackt und mehrere Tage unter den erbarmungswürdigsten Umständen eingesperrt zugebracht hatten. Als Schwedenow ihnen eröffnete, dass sie einem skrupellosen Mädchenhändler auf den Leim gegangen waren, erschraken alle sehr.

Als er ihnen dann noch ausmalte, was mit ihresgleichen bereits geschehen war, baten sie die Männer weinend, sie wieder nach Hause zu ihren Eltern zu schicken. Kapitän von Tülff versprach, dafür bereits am nächsten Tag Sorge zu tragen, allerdings stellte er zur Bedingung, das die Mädchen ihr Wissen vollständig der Polizei zur Verfügung stellten, denn daran ließ er keinen Zweifel, dass er in dieser ganzen Angelegenheit „mit eisernem Besen“, wie er sich ausdrückte, den „ganzen Saustall auszumisten“ beabsichtigte.

Schwedenow war davon überzeugt, dass die Sache bei diesem wackeren Soldaten in besten Händen war und schlug daher vor, dass die Reisenden sich nun auf die >Saint Michel< zurück begeben sollten, denn es war inzwischen weit nach Mitternacht geworden und man wollte am nächsten Morgen zeitig weiterfahren.

 

 

Die aufregenden Ereignisse der letzten Stunden ließen die Gesellschaft aber nicht zur Ruhe kommen. Viele Bewohner der hafennahen Häuser waren durch den Lärm aufgeschreckt und fragten, was geschehen sei. Die – Gott sei Dank – leichten Wunden einiger Matrosen mussten versorgt werden, jeder wollte vom anderen den genauen Hergang der Ereignisse wissen, die Mädchen mussten sicher für die Nacht untergebracht werden; kurz, die nächtliche Ruhe der kleinen Stadt war nachhaltig gestört.

So kamen auch unsere Freunde in dieser Nacht nicht mehr in die Kojen. Da es aber in dieser Jahreszeit kurz nach 3 Uhr wieder zu dämmern begann, machte man sich daran, das Schiff für eine frühe Abfahrt zu rüsten und beauftragte Arago, für ein gehaltvolles Frühstück zu sorgen. Der kam dem Befehl mit Pötschs Unterstützung gerne nach, und so konnte die Gesellschaft bereits gegen 6 Uhr etwas müde, aber gestärkt und durchaus unternehmungslustig den Lotsen an Bord nehmen, der nun für die Fahrt die Eider hinauf nach Rendsburg das Kommando über das Schiff übernehmen musste.

Die Leinen wurden losgemacht, und die >Saint Michel< dampfte aus dem Hafen. Bald passierte man das Kanonenboot der deutschen Marine, auf dem die Mannschaft angetreten war. Eine militärische Zeremonie deutscher Soldaten zu Ehren eines französischen Schiffs, auch das war für die Brüder Verne eine ganz neue Erfahrung!

 

 

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